Dokument-Nr. 11202
Marx, Wilhelm an Pacelli, Eugenio
Berlin, 06. Dezember 1925

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Ew. Exzellenz
Was mich bedrückt, ist die Sorge, es könnte vielleicht in der Encyklika, die Seine Heiligkeit zum Schlusse des Heiligen Jahres veröffentlichen wird, eine auf unsere politische Lage gerichtete Wendung enthalten sein. Zur Zeit sind wir ja wieder einmal in einer Kabinettskrisis. Die Deutsch-Nationalen haben in einer unglaublichen Verblendung das Kabinett der Rechten in einem für Deutschland, aber auch für ganz Europa lebenswichtigen Augenblick verlassen und dadurch nach der Ansicht der Zentrumspartei jedenfalls unserem Lande grossen Schaden zugefügt. Die Zentrumsfraktion des Reichstags hat in voller Einmütigkeit einen Beschluss gefasst, dass in absehbarer Zeit mit den Deutsch-Nationalen keine Koalition mehr eingegangen werden könne.
Das Naturgemässe ist, dass die Ausführung des Vertrages von Locarno oder London, wie es jetzt heissen soll, von denselben Parteien erfolgt, die den Vertrag selbst angenommen haben. Das sind aber die Deutsche Volkspartei, die Bayrische Volkspartei, das Zentrum, die Demokraten und die Sozialdemokraten. Das würde also die sogenannte grosse Koalition sein.
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Ein Einbeziehen der Sozialdemokraten in die Regierung würde auch deshalb von grosser Bedeutung sein, weil wir offenbar einem schlimmen Winter entgegengehen. Die wirtschaftliche Lage ist sehr bedrohlich. Die Zahl der Arbeitslosen steigt ganz ungeheuer. Die Sozialdemokratie wird sich zu den weitestgehenden Anträgen verstehen, die absolut nicht ausgeführt werden können, wenn sie nicht selbst an verantwortlicher Stelle in der Regierung steht. Sie zeigt auch zur Zeit wenig Lust, in einer Koalition einzutreten, weil sie das parteitaktisch für viel vorteilhafter hält. Für die Sozialdemokratie giebt [sic] es zur Zeit nichts Vorteilhafteres, als ausserhalb der Regierung zu stehen, Kritik an allen Maassnahmen [sic] der Regierung zu üben und möglichst weitgehende Anträge zu stellen, die finanziell nicht ausführbar und tragbar sind.
Auf der andern Seite ist auch die Deutsche Volkspartei nicht gewillt, mit der Sozialdemokratie in der Regierung zusammenzutreffen. Sie will eine Koalition aus Deutscher Volkspartei, Zentrum und Demokratie, sowie der Bayrischen Volkspartei. Eine solche Regierung ist nur eine Minderheitsregierung. Sie kann sich kaum behaupten gegenüber den ungeheuer schweren Anforderungen, die der kommende Winter an die deutsche Regierung stellen wird.
Morgen beginnen die Verhandlungen mit den Parteien über die Neubildung der Regierung. Was dabei herauskommen wird, das lässt sich zur Zeit noch gar nicht voraussehen. Das Zentrum hat beschlossen, an der grossen Koalition festzuhalten und mit aller Kraft auf die Bildung eines Kabinet[ts] der grossen Koalition hinzuarbeiten.
Es ist mir nun bekannt geworden, dass wie auch schon im Anfang des Jahres, so auch jetzt wieder gewisse, namentlich adelige deutsche Kreise
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versuchen, auf die Kurie einzuwirken dahin, es möchte in der zu erlassenden Encyklika ein Verbot enthalten sein, mit sozialistischen Kreisen politisch zusammenzugehen.
Ein solches Verbot würde, ich kann das Ew. Excellenz als meine feste Ueberzeugung erklären, geradezu vernichtend für die Zentrumspartei sein. Unsere politische Entschlussfähigkeit wäre damit vollständig gelähmt, wir würden rettungslos und hilflos der Willkür der Rechtsparteien ausgeliefert sein, weil wir ja keine Möglichkeit mehr hätten, die Rechtsparteien zur Nachgiebigkeit zu zwingen mit dem Hinweis darauf, dass wir mit der Linken zusammengehen würden, wenn die Rechte unserm Verlangen nicht entgegenkommen wolle. Die Zentrumspartei müsste dann auf jede positive politische Tätigkeit verzichten, könnte sich an keiner Regierung mehr beteiligen und müsste sich auf reine Opposition beschränken, wenn sie überhaupt einen Einfluss ausüben wollte. Wahrscheinlich würde sie aber auseinander fallen und zu politischer Einflusslosigkeit verurteilt sein.
Mein dringender herzlicher Wunsch an Excellenz geht dahin, Excellenz möchten doch Ihren ganzen Einfluss daran setzen, zu verhindern, dass ein solches Verbot, wie oben angedeutet, in der zu erlassenden Encyklika enthalten ist.
Ich möchte noch ehrerbietigst auf Folgendes aufmerksam machen. Es würde zweifellos zu berechtigten Bedenken Veranlassung geben, wenn bei Wahlen Katholiken und katholische Wähler mit sozialdemokratischen Wählern Wahlabmachungen treffen würden und sich gegenseitig die Stimmen zuwenden würden. Ein solches Vorgehen ist aber bei unserm jetzigen Wahlsystem schon seit 1919 ausgeschlossen. Jede Partei wählt ihre geschlossene Parteiliste. Wahlkompromisse kommen nicht mehr vor. Koalitionen werden erst nach vollzo-
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gener Wahl durch die gewählten Abgeordneten, durch die Fraktionen gebildet.
Bei meiner Anwesenheit in Rom habe ich das eigehend [sic] Monsignore Pizzardo auseinander gesetzt. Diese Sachlage schien ihm ganz unbekannt zu sein. Meine Darlegung machte anscheinend grossen Eindruck auf ihn und er sagte schliesslich: Das habe ja eigentlich gar nichts Bedenkliches mehr an sich; er habe immer geglaubt, es seien auch jetzt noch Wahlabmachungen zwischen den Wählern möglich und üblich.
Aus Mittelungen, die Herr Geheimrat Dr. Porsch in Rom erhalten hat, konnte man aber zu dem Schluss kommen, dass der wahre Sachverhalt noch nicht bei allen Kreisen der Kurie bekannt ist, dass man vielmehr dort noch vielfach der Ansicht ist, es könnten Wahlabkommen zwischen den Wählern selbst abgeschlossen werden.
Ew. Excellenz möchte ich ehrerbietigst auch darum bitten, gelegentlich auch diese Seite der Frage in Rom zur Sprache bringen und richtig stellen zu wollen. Es scheint mir, als wenn ein grosser Teil der bei der Kurie gehegten Besorgnisse auf die unrichtige Auffassung des jetzt bei uns geltenden Wahlrechts zurückzuführen wäre.
In ehrerbietiger Hochachtung habe ich die Ehre
zu zeichnen als
Ew. Excellenz ergebenster
Gez. Marx, M. d. R.
Empfohlene Zitierweise
Marx, Wilhelm an Pacelli, Eugenio vom 06. Dezember 1925, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 11202, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/11202. Letzter Zugriff am: 29.03.2024.
Online seit 24.06.2016.