Dokument-Nr. 11613

Russisches Jugendelend. Der Fall des Studenten Diakiff, in: Germania, Nr. 329, 19. Juli 1928
Rußland ist zur Zeit reich an Fällen jeder Art. Korruptionen, Sabotage, Verschwörungen und furchtbare Dinge aus allen Gebieten des Verbrechens häufen sich in erschreckener Weise. Ueberall ist eine Gärung unverkennbar; aus der Fülle der Fälle ragt indessen für den aufmerksamen Beobachter ein Fall heraus, der demnächst gerichtlich gesühnt werden soll, allerdings nicht an dem schuldigen System, sondern an den mitschuldigen Kreaturen des Systems. Es ist der Fall des Studenten Diakiff, der sich im vorigen Jahr in der Nähe von Odessa durch Oeffnung der Pulsader das Leben nahm.
Das wäre in Rußland nichts Ungewöhnliches, aber die Gründe, die den Studenten des polytechnischen Instituts in Odessa in den Tod trieben sind so grauenhaft und selten für unsere Begriffe, daß die Aufmerksamkeit unwillkürlich auf gewisse im nachrevolutionären Rußland groß gewordene Zustände der Verwilderung gelenkt wird. Es ist nicht möglich den Leidensweg des Studenten Diakiff in der Oeffentlichkeit wiederugeben. Der begabte und bescheidene Student war das Opfer einer brutalen Umgebung in dem Internat des polytechnischen Instituts. Rohe, kommunistische Luft weht dort. Diakiff war schutzlos, nicht nur fortgesetzten sittlichen Attentaten ausgesetzt von Seiten der Mitbewohner, sondern auch systematischer Verhöhnung, Verprügelung und einem schmutzigen Benehmen, das wiederzugeben die Feder sich sträubt. Soweit es sich nicht um Perversitäten unsittlicher Art handelte, handelte es sich um Akte, die einen Blick in die Hölle eröffnen und ein seltsames Licht auf "die kulturelle Revolution" in Rußland werfen. Unwillkürlich wird man an ein Wort des Volkskommissars für Gesundheitswesen in Rußland erinnert, der kürzlich erklärte, daß nirgends die Jugend so behütet wird wie in Rußland! Man sollte sich sehr davor in acht nehmen anzunehmen, als ob das völlige kulturelle und sittliche Chaos in Rußland nicht überall zu finden wäre und als ob es sich im Falle Diakiff um eine bedauerliche Ausnahme handle. Das kulturelle Problem und das Problem der Jugend rückt in Rußland mit unerbittlicher Konsequenz in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Schon Lenin hat es logisch klar erkannt, daß sich die gegenwärtigen Männer nur am Ruder halten könnten, wenn es gelinge, die Massen kulturell zu heben, eine formale, wenn schon gottlose Sittlichkeit zu erhalten. Nun sind zwar in letzter Hinsicht gewisse Erfolge erzielt, aber im allgemeinen steht Rußland gegenwärtig vor einem völligen Fiasko seiner Schu-[sic] und Erziehungspolitik, das von den führenden Herren des Bildungswesen, so von Lunatscharsky und Frau Krupskaja offen zugegeben wird. Nach 10jähriger Herrschaft geht die allgemeine Schulbildung zurück, Schulen und Lehrer vermindern sich und was an Erziehung geleistet wird ist so grundschlecht und unsystematisch, daß nicht nur für Rußland Besorgnisse bestehen müssen. Die Regierungsbehörden sind sich auch darüber im klaren, aber wie in Rußland üblich, so wird auch die kulturelle Frage zum Gegenstand endloser Debatten nicht nur in den verschiedensten Sowjets gemacht, sondern auch in den Klubs, bei Fabrikabenden usw. Aber gerade in diesen Debatten-Klubs, die ganz Russland umfassen, zeigt sich nach russischer Darstellung das tiefe Niveau auf dem die heranwachsende Jugend angelangt ist. Der Genosse Smidowitsch z.B. nennt die Bilder, die sich in den Klubs darbieten, scheußlich, ebenso die Zustände in den Internaten und Gemeinschaftswohnungen. Ein Meer von Unkultur breitet sich aus und verzweifelt fragt sich der Mann, wo bleibt der neue Mensch, wo bleibt die Kameradschaft, wo die Feinfühligkeit gegen sich und andere? Zu dem alten kleinbürgerlichen Individualismus seien neue ungeahnte Untugenden dazugekommen. Die Beschäftigung besteht vielfach in den Abenden darin, daß man endloß schwätze, an die Decken und Wände spucke, Zoten erzähle, saufe und spiele. Es gebe in der Erziehung keine Einteilung mehr, weder des Stoffes noch der Zeit, die Qualität der aus dem Fachschulen hervorgehenden Arbeiter sei hundsmiserabel. Smidowitsch fragt dies allerdings nicht in der Absicht es an die Oeffentlichkeit zu geben, aber es ist gesagt und es wurde an die Oeffentlichkeit gebracht.
Die Beziehungen zur Frau, die nach kommunistischem Programm zu nie gesehenen Idealen führen sollen, seien weit unter die idealen Beziehungen gesunken wie sie zwischen den früheren Revolutionären und Revolutionärinnen der Vorkriegszeit bestanden hätten. Hierzu bemerkt Professor Salkind beschönigend, daß zwar Fortschritte und insofern eine Besserung eingetreten sei, als die ungeordnete Vielliebe im Verschwinden sei und das Geschlechtsleben eine gewisse Rationalisierung aufweise in der Richtung der Beständigkeit des Verhältnisses. Dafür wird aber die Frau bzw. die Konkubine zum Haustier und das Verhalten zu ihr sei fern von allen freundschaftlichen und genossenschaftlichen Beziehungen, wie sie zwischen Mann und Frau herrschen sollen. Zahlreich sind auch die Ungezogenheiten der jungen Kommunisten, die, wie der frühere Fall Dükoff beweist, es als ihr Recht anzusehen beginnen, Mädchen ins Jenseits zu befördern, die ihnen nicht zu Willen sind. Alles in allem erschreckende Bilder atheistischer Erziehungsmethoden.
Man muß wirklich von Mitleid erfüllt werden mit dem Schicksal der russischen Schulen, namentlich in den Städten mit Universitäten, denn zu all der sittlichen Verwilderung kommt noch die Teuerung der Lebenshaltung, die frühere kommunistische Versprechungen als Hohn und Spott erscheinen läßt. Es ist bedauerlich, daß in Deutschland noch ein Arbeiter einer kommunistischen Partei seine Stimme gibt, wo es doch möglich ist mit russisch-sowjetistischem Urteil den ganzen Schwindel vor Augen zu führen.
Ueber die hygenischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der studierenden Jugend an der Moskauer Universität besitzen wir Angaben von dem genannten Professor Salkind aus denen hervorgeht, wie ärmlich und erbärmlich die Träger der künftigen kommunistischen Verwaltung und Wirtschaft gestellt sind. Nur ungefähr 3 Proz. aller Studenten verfügen im Monat über mehr als 25 Rubel, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. 27 Proz. besitzen überhaupt gar nichts und müssen sich durch Bettel oder anderer Weise durchhelfen. 90 Proz. essen in öffentlichen Speiseanstalten, wobei das Essen als ungenügend in den meisten Fällen bezeichnet wird. 23 Proz. aller Studenten mußten es sich angewönhen nur mehr dreimal in der Woche zu essen. Und das Heim dieser Studenten! Man bedenke, daß 16 Proz. nur über den Raum einer schmalen Pritsche verfügen und 24 Proz. eben den Platz für ein Bett haben, das ihnen auch Studierstätte usw. sein muß. Und die herrlichen hygienischen Verhältnisse! Nur die wenigsten Schüler kommen einmal zu einem Bad. 20 Proz. wechseln zweimal im Monat die Wäsche und die übrigen? Nur 6 Proz. der Studierenden langt es bei ihren Verhältnissen zum Sport. Ein allgemeiner Mangel an Luft, Sonne und Reinlichkeit hat es dazu gebracht, daß heute in den russischen Internaten 85. Proz. aller Insassen krank sind. Eine Folge der Verhältnisse und die wirren vorgetragenen Lehren, sowie die Auflösung aller sittlichen Bande bei gleichzeitiger Ueberarbeitung und krankhaften, aber ungestillten Lerneifer, hatten eine massenhafte Zerrütung der Nerven gebracht. Die hervorgerufene Gärung in der Jugend hat einen überaus starken Lerneifer und ein grenzenloses Lesebedürfnis gezeitigt, daß nun in erster Linie durch die russischen Staatsvorlagen befriedigt wird. Daß in einer solchen Luft und Mischung unmöglicher und unerquicklicher Verhältnisse mit seelischer Verkommenheit ein Fall Diakiff neben anderen ungeahnten und ungesühnten erwachsen mußte, darf nicht Wunder nehmen. Trotz aller Anstrengungen und zum Teil grandiosen Ideen und Bemühungen der Sowjetmachthaber müssen sie von Mißerfolg zu Mißerfolg schreiten und Zeuge sein, wie sie ein unmenschliches Menschentum großziehen. Es ist ein Rätsel, daß immer diejenigen, die so laut von sozialem Umsturz und sozialen Erfolgen reden und alles, was die bürgerliche Gesellschaft geschaffen hat, verdammen, im Bunde mit der Gottlosigkeit Erfolge zu erzielen wähnen und Kirche und Religion, die allein den Bemühungen Sinn und Fortgang gewähren können, mit Hohn und Spott und blutigen Verfolgungen begegnen. Die Länder die wie Mexiko und Rußland den meisten Segen von der Tätigkeit charitativer Genossenschaft und Orden haben könnten, verbannen dieselben und graben so ihrem Volke das Grab. Hier offenbart sich das große Geheimnis der Sünde.
Dr. O. Färber
Empfohlene Zitierweise
Anlage vom 19. Juli 1928, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 11613, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/11613. Letzter Zugriff am: 20.04.2024.
Online seit 20.01.2020.