Dokument-Nr. 13380
Stresemann, Gustav an Pacelli, Eugenio
Berlin, 01. November 1923

Herr Nuntius!
Herr Dr. Viktor Naumann hat mir von der Unterredung Kenntnis gegeben, die er am 24. v. M. in München mit Euerer Exzellenz gehabt hat. Die überaus warmen, zu Herzen gehenden Worte, mit denen Euere Exzellenz bei dieser Gelegenheit der bedrängten Lage Deutschlands und der grossen, von Tag zu Tag sich steigernden Not des deutschen Volkes gedachten, haben mich tief gerührt und mit innigem Dank erfüllt. Sie ermutigen mich auch, Ihnen, Herr Nuntius, im Nachstehenden eine Bitte vorzutragen, zu der mich die allgemeinmenschlichen Gefühle der Nächstenliebe wie die besonderen Pflichten des mir anvertrauten schweren Amtes gleicherweise veranlassen.
Die Not des deutschen Volkes ist in der Tat furchtbar und grauenvoll. Der einst gesunde und lebenskräftige Mittelstand scheint, in seiner ganzen Existenz schwer bedroht, dem Untergange geweiht zu sein. Erschütternd ist das Elend, das die Arbeiterschaft heimsucht. Die trostlose Wirtschaftslage, der Mangel an Aufträgen in
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der Industrie und die dadurch herbeigeführte Notwendigkeit, zu Massenkündigungen oder zum mindesten zur Einführung von Feierschichten und Arbeitseinschränkungen zu schreiten, haben die seit langem ohnehin erschreckend grosse Zahl der Arbeitslosen um ein Bedeutendes vermehrt. Auf der anderen Seite aber sind die Kosten der Lebenshaltung ins Ungemessene gestiegen. Und wenn schon der Teil der Bevölkerung, der noch seiner Arbeit nachzugehen imstande ist, nur mit Mühe und unter grossen Entbehrungen die Sorge um die Beschaffung des täglichen Brotes zu bewältigen vermag, so leiden Hunderttausende von Armen, von Arbeitslosen, von Altersschwachen und Kranken, von Witwen und Waisen allerbitterste Not. Was der Herr Kardinalerzbischof von Köln erst in den letzten Tagen in seinem Aufrufe an die Katholiken des Auslandes von der Bevölkerung seiner ausgedehnten Erzdiözese sagte, dass sie in die furchtbarste Hungersnot von Tag zu Tag grauenvoller hineingestossen werde, das gilt ähnlich auch von Millionen anderer deutscher Volksgenossen, zumal von den Bewohnern der Industriezentren und der grossen Städte. Die Mütter sind entkräftet, die Säuglinge entbehren der Milch. Die heranwachsenden Kinder, unterernährt und in erbarmungswürdigem Zustande, verkümmern und sterben dahin. Jammer und Not, wohin das Auge blickt!
Mit Schrecken sehe ich unter solchen Umständen dem kommenden Winter entgegen. Wie warme Kleidung, so wird auch Heizmaterial für weite Schichten der Bevölkerung und für ganze Berufsklassen unerschwinglich sein. Zu dem Schreckgespenst des Hungers werden
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sich dann die Gefahren ansteckender Krankheiten und schrecklicher Epidemien gesellen.
Tiefe Verbitterung, dumpfe Verzweiflung hat daher weite Kreise des deutschen Volkes erfasst. Die Zahl der Selbstmorde steigt unaufhaltsam. Die Begriff von Mein und Dein verwirren sich mehr und mehr. Hungernde, frierende Volksgenossen glauben zur Selbsthilfe greifen und zu Diebstählen und Plünderungen übergehen zu dürfen. So werden die Grundlagen der Ordnung des Staatswesens untergraben. So wird der Nährboden geschaffen für schlimme und gefährliche Verzweiflungstaten, die unschuldiges Blut fliessen lassen und das deutsche Volk endgültig ins Verderben drängen.
In dieser tiefen Not richten sich meine Blicke auf jene Macht, die in besonderem Masse berufen ist, die Völker an die ewigen und unwandelbaren Grundsätze der Menschlichkeit und Nächstenlieben zu erinnern. Ich brauche Ihnen, Herr Nuntius, nicht zu versichern, dass ich in keiner Weise an eine politische Aktion des Heiligen Stuhles denke, wenn ich Sie heute bitte, die Mithilfe Seiner Heiligkeit des Papstes bei der Linderung der verzweifelten Notlage des deutschen Volkes erwirken zu wollen. Seine Heiligkeit hat schon zu wiederholten Malen, und erst in den letzten Tagen, seine mildtätige Teilnahme für die Leidenden und Entbehrenden in Deutschland bewiesen. Jetzt ist die Not des deutschen Volkes so riesengross geworden, dass nur durch eine umfassende charitative Unterstützungsaktion des Auslandes das Allerschlimmste abgewendet werden kann. Es gilt, an die Völker, die dem
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hungernden Deutschland helfen können und helfen wollen, die dringende Bitte zu richten, durch schleunige Zuführung von Lebensmitteln die drückendste Not zu lindern. Sollte sich seine Heiligkeit der Papst bereit finden lassen, in diesem Sinne, etwa durch Vermittelung der Apostolischen Nuntiaturen und Delegationen im Ausland oder auf dem Weg über hervorragende Mitglieder des Episkopats, einen Appell an die in Frage kommenden Länder der Welt zu richten, so würde er sich der unauslöschlichen Dankbarkeit des schwer darniederliegenden deutschen Volkes versichert halten dürfen. Ich zweifle nicht, dass sein Aufruf in der Welt ein Echo finden und dass er edle und vielgestaltige Kräfte für die Rettung eines am Rande des Abgrundes schwebenden Volkes auslösen würde.
Indem ich, Herr Nuntius, diese meine Ausführungen in Ihre bewährten Hände lege, darf ich Sie bitten, sie mit Ihrer geneigten Befürwortung begleiten und baldmöglichst zur kenntnis Seiner Heiligkeit des Papstes bringen zu wollen.
In ausgezeichneter Hochachtung und aufrichtiger Verehrung
bin ich
Euerer Exzellenz
ergebenster
Stresemann
Empfohlene Zitierweise
Stresemann, Gustav an Pacelli, Eugenio vom 01. November 1923, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 13380, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/13380. Letzter Zugriff am: 29.03.2024.
Online seit 24.10.2013.