Dokument-Nr. 13625
Kessler, Josef Alois an Pacelli, Eugenio
Berlin, 07. Januar 1923

Euer Exzellenz, Hochwürdiger Herr Nunzius.
Der hl. Vater hat in seiner grossen Freigebigkeit und Güte eine Million Lire zur Bekämpfung der Sterblichkeit in Russland gespendet. Der Gewährsmann der Sowietregierung, der Arzt Seifel, ein Jude, kauft nun in Deutschland Arzeneien [sic]. Ich bin überzeugt, dass die Krankenhäuser in den deutschen Kolonien Russlands, wo die Sterblichkeit bisher die grösste war, nichts von der enormen Spende erhalten werden, wie ja unsere unglücklichen Deutschen in dem Zarenreich auch bei früheren Spenden des hl. Stuhles stets, dank dem russischen Chauvinismus, unberücksichtigt blieben. Da die Deutschen Bauern Russlands früher sehr wohlhabend waren, ja nicht wenige sogar reich, so waren seit Ausbruch des Krieges mit Deutschland die russischen Regierungen (die alte wie die Sowiets) stets darauf bedacht, sie zu unterdrücken und auszusaugen. Die Geschichte der deutschen Kolonisten Russlands ist wohl die blutigste und schrecklichste der Neuzeit. Haben die Zarischen Machthaber die Deutschen in Russland während des Krieges, die doch die treuesten Untertanen des Reiches gewesen sind, geächtet, so haben die bolschewistischen Schreckensherrscher dieselben ausgeplündert; unsere Männer wurden grossenteils massenweise erschossen, unsere Frauen und Mädchen geschändet, die Priester tötlich [sic] verfolgt, schrecklich geschlagen, acht wurden erschossen, die Gotteshäuser entweiht, Getreide weggefahren, das Vieh weggetrieben, viele Wirtschaften, ja ganze Dörfer eingeäschert. Tausende von elternlosen Kindern, soweit die Schreckensmänner sie nicht in ihre gott- und religionsfeindliche [sic] Asyle gebracht haben, sind sich selbst überlassen. Neunzig solcher Kinder haben wir unlängst nach Deutschland gebracht. Barmherzige Menschen gaben ihnen ein gastliches Obdach, viele werden adoptiert, die protestantische [sic] nicht mitgerechnet. Andere vierhundert, worunter viele katholisch, wurden von den Bolschewiken in den Süden meiner Diözese gebracht, wo sie wegen der inzwischen dort eingetretenen Hungersnot am verhungern sind. Um diese unglücklichen [sic] zu retten, wollen wir sie nach Deutschland bringen. Von den ca [sic] anderthalb Millionen deutscher Kolonisten (russischer Untertanen) sind heute nur noch fünfhundert Tausend am Leben, die übrigen welche die Bolschewiken, die Banditen nicht erschossen oder zu Tode gemartert haben, starben teils am Hunger, teils an verschiedenen ansteckenden Seuchen, die ja stets die Begleiterinnen des Hungers und Elendes sind. Wie die Sowietbehörde sich heute zu unsern deutschen katholischen Kolonisten verhält, können Exzellenz aus einer Stelle des Briefes entnehmen, den ich unlängst von einem meiner Geistlichen von dort erhalten habe. Ich führe sie wörtlich hier an.
"Nun möchte ich" – so schreibt der Pfarrer – "Exzellenz noch ein getreues Bild, wie weit dies möglich ist, von Sulz entwerfen. Sulz ist schrecklich verarmt. Vier oder fünf Wirte haben noch über zwei Pferde, die andern nur eins, viele, sehr viele gar keins mehr. Ebenso, wenn nicht noch
19v
schlechter steht es mit dem Rindvieh. Schweine sind im ganzen Dorf, glaube ich, noch gegen 20. Ähnlich steht es mit allem andern. Unsere stolzen Mädchen gehen jetzt in Holzschuhen und haben verbrannte Gesichter, schwielige Hände und keine Lust mehr abends zu spazieren. Zu all' dem möchte ich sagen: Gott sei Dank, dass unsere Jugend durch Not zur Arbeitsamkeit und Einfachheit gezwungen wurde. Leider ist diese Einfachheit oft schon schmutzig. Die meisten können ihre Bett- und Leibwäsche nicht mehr wechseln, weshalb alles furchtbar verlaust ist. Viele gehen so zerlumpt umher, dass man sich schämt, sie anzuschauen. Das letzte Jahr haben eben viele Leute alles vertauscht, was sich irgend wie [sic] entbehren liess, vor allem die besseren Kleider, um etwas Mehl zu bekommen. Die reichsten Familien Sattler, Gabriel, Zentner, Duckart, Dauenhauer ernähren sich jetzt kümmerlich mit einer dünnen Suppe und sind auch jetzt brotlos. Brot war im Winter und Frühling ein seltener Leckerbissen. In Sulz wurde vielleicht noch in 8 Häusern Brot gebacken. Seit dem 1 Januar 1922 bis jetzt (6 September 1922) sind in der Sulzer Pfarrei (2.400 Seelen) 231 Menschen gestorben. Ähnlich oder noch schlimmer war es in Landau, Speyer, Rastatt und München. In Karlsruhe und Katharinental war die Not auch gross, doch sind weniger verhungert. In der Schönfelder und Blumenfelder Pfarrei waren Todesfälle durch Hunger selten. Im Kutschurganer und Liebentaler Gebiet war die Not so gross wie bei uns. April und Mai war die Hungersnot aufs äusserste gestiegen. Wir hatten schon vorher verzweifelte Anstrengungen gemacht, um Hilfe aus Amerika zu erlangen, alles vergebens. Die meisten Familien hatten keine Hand voll Mehl mehr, um eine Suppe kochen zu können. Jede Nacht kamen Einbrüche vor. Pferde, Kühe, Hunde und Katzen wurden gestohlen und geschlechtet [sic], alte Pferdehäute gekocht, gefallenes Vieh verzehrt. Täglich kamen 30-40 Kinder vor meine Türe, die aussahen wie der Tod, und baten mit flehenden Stimmchen um ein 'ganz kleines Stückchen Brot'. Jetzt noch kommen mir die Tränen in die Augen, wenn ich mir die todesbleichen, abgehärmten Kindergesichtchen vorstelle."
Die erste grösste Hilfe, welche uns zu teil wurde, war die Zusendung von Welschkorn (Mais), Bohnen und Hirse durch das deutsche Schwarzmeerhilfswerk vermittelst der Firma Peter Westen. Ohne diese Hilfe wären allein in Sulz 200 Menschen mehr verhungert. Grosse Freude bereiteten unsern Leuten die Amerikanischen Pakete mit Lebensmitteln, welche von Ew. Exzellenz zugesandt wurden. Sulz bekam 98 Pakete. Die Pakete wurden auf Wunsch der Gemeinde unter alle verteilt. Auch ich erhilt [sic] mein Paket, wofür ich herzlich danke.
Die diesjährige Ernte wäre gerade nicht so schlecht. Leider ist zu wenih [sic] ausgesät – ungefähr 800 Dessjatinen vom ganzen Dorfe; trotzdem wird von der ganzen Norm – ungefähr 6.000 Dessjatinen, die Naturaliensteuer das macht ungefähr 13.000 Pud Getreide, ohne Gnade gefordert. Am letzten Samstag abends d. i. am 2 September hilt [sic] der Vorsitzende des Landauer Gebiets hier eine Versammlung ab, in welcher er die Leute gröblich beschimpfte; in der Nacht darauf liess er mehrere aus den Familien der "Otwietschiki" (der "Verantwortlichen"), selbst Mädchen von 14 Jahren arretieren, versammelte am Sonntag morgens wieder die Gemeinde, wo er raste wie der Leibhaftige (der Teufel), drohte mit Erschiessung, und schwur, das [sic] unsere Leute keinen Sonntag mehr feiern werden, bis sie ihre Steuer bezahlt hätten. Gestern den 5 Sept. versammelte der Steuerinspektor, eine Jüdin, die Gemeinde, und erklärte, dass die Naturaliensteuer unbarmherzig eingetrieben werde. Wer nur eine Dessjatine eingesät hat, ob es geraten ist oder nicht, der muss für seine ganze Norm Steuer zahlen, wenn er kein Getreide hat, muss er sein letztes Pferd, seine letzte Kuh, hat er aber weder Frucht noch Vieh, aber ein Häuschen, so muss er dieses verkaufen, um seine Steuer zu zahlen. Nach Entrichtung der geforderten Steuer ist in Sulz die Hälfte der Bewohner ohne Brot, ohne Vieh und ohne Kleidung und ohne Wohnung. Der andern Hälfte könnte das Brot reichen bis zu Weihnachten, einzelnen bis zur neuen Ernte, wenn nicht neue
20r
Überraschungen bervorstehen, denn unsere Steuerbeamten sind wunderbar in ihren Erfindungen. Sie sprechen schon von allgemeiner Bürgschaft von Einquartierung von Militär, Auf-den-Speicher-steigen etc. Wenn keine reichliche Hilfe vom Ausland kommt, werden in Sulz fünf mal mehr sterben als im vorigen Jahr. Den Russen geht es bedeutend besser als den Deutschen. Doch der Name des Herr [sic] sei gebenedeit." So weit der Brief. Ich habe diesen Passus auch an den hl. Vater geschickt. Der Brief stammt von einem meiner besten Geistlichen, einem Manne von sehr ruhigem und mildem Wesen, der gewiss nicht übertreibt.
In Anbetracht dieser Lage unserer Deutschen in Russland und speziell unserer deutschen Katholiken bitte ich Ew. Exzellenz, ob Sie nicht für möglich finden, von oben erwähnter Spende des hl. Vaters circa 10 Millionen Mark dem deutschen katholischen Caritasverband, Berlin Oranienburgerstrasse 13/14. anzuweisen zwecks Übermittlung an das deutsche Rote Kreuz für die Spitäler in den deutschen katholischen Dörfern der Diözese Tiraspol und für das ehemalige evangelische Krankenhaus in Odessa. Die Sowietregierung will letzteres dem deutschen Roten Kreuz überlassen. Dieses wird es uns deutschen Kolonisten übergeben und zwar unentgeltlich, nachdem die Bolschewiken einmal werden abgewirtschaftet haben. So wurde beschlossen in einer Versammlung der Vorstände der deutschen Kolonisten hier in Berlin am vorigen 13 Dezember, der ich auch beiwohnte.
Wenn dieses früher erstklassige Krankenhaus wieder in guten Zustand gebracht wird und zwar durch meine Vermittlung, dann würde es uns Katholiken gelingen, dort einen entscheidenden Einfluss zu gewinnen. Vielleicht könnte man dann die Krankenpflege katholischen Ordensschwestern übertragen.
Indem ich dieses Ew Exzellenz vortrage und meine Bitte wiederhole, benütze ich diese Gelegenheit um Ihnen, Hochwürdigster Herr Nunzius, die Gefühle meiner vorzüglichsten Hochschätzung auszudrücken
Euer Exzellenz
ganz ergebenster
+ Joseph Kessler
Bischof von Tiraspol
Empfohlene Zitierweise
Kessler, Josef Alois an Pacelli, Eugenio vom 07. Januar 1923, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 13625, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/13625. Letzter Zugriff am: 28.03.2024.
Online seit 23.07.2014.