Dokument-Nr. 14216

Winterstein, Alfred: Kindererholungsheim Marienruhe betr. Würzburg, 13. September 1923

Das Kindererholungsheim Marienruhe ist hervorgegangen aus dem Bedürfnis, angesichts der allgemein beobachteten und von ärztlicher Seite zahlenmäßig nachgewiesenen stets wachsenden Gefährdung des Gesundheitszustandes unserer Kinderwelt zumal in den Städten durch Unterernährung, schlechte Wohnungsverhältniße und allmählige Verseuchung (Skrophulose, Tuberkulose, Rachitis u. a.) möglichst vielen Kindern möglichst wirksame Kräftigung und Sicherung gegen die Ansteckungsgefahr durch wochenlangen Landaufenthalt zu gewähren. Jedenfalls ist die Errichtung solcher Kindererholungsheime ein sehr bedeutsames Mittel zur Abhilfe der Not neben vielen anderen Mitteln, zumal die Unterbringung solcher Kinder in ländlichen (bäuerlichen) Familien während der Sommerwochen immer mehr versagt und ihre großen Schattenseiten hat.
Betreff der Gesundheitsverhältniße unter den Kindern in Deutschland vgl. die Flugschrift von P. Bernhard Duhr S. J. "das große Kindersterben und Kinderelend in Deutschland" Freiburg i/Br. 1923.
Bei der Auflaßung des Truppenübungsplatzes Lager Hammelburg mit seinem Gelände u. den vorhandenen Baulichkeiten kam mir, der ich in den Kriegsjahren mit der Landunterbringung von Stadtkindern zu tun hatte, der Gedanke, Lager Hammelburg besonders in Anbetracht der hygienisch vorzüglichen Eignung zu einem Kindererholungsheim im großen Stil zu erwerben und umzugestalten. Mein Freund, Herr Stadtrat Georg Maria Staab, der infolge der ihm in die Hand gegebenen Fürsorge für die Kriegsgefangenen viel auf dem Lager Hammelburg zu tun hatte u. sich ebenfalls mit der Frage der gemeinnützigen Verwertung des Platzes oft befaßte, ging mit Freude und Hingebung auf meinen Gedanken ein.
Wir waren uns darüber klar, daß für den Zweck, den wir ins Auge faßten, die bestehenden Kindererziehungsanstalten nicht in Frage kommen können. Zu den Zöglingen dieser Anstalten, die zumeist zum Zweck der Fürsorgeerziehung ständig untergebracht sind, Kinder in stetem Wechsel eine Zeitlang geben, die in der Ernährung und sonstigen Körperpflege ganz anders versorgt werden müßen, wäre für derlei Anstalten der unausbleibliche Ruin. Eigene kleine Anstalten bauen verteuert den Betrieb.
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Neue große Anstalten zu diesem Zweck schaffen – dazu sind die Mittel nicht aufzubringen. Darum haben die großen Kindererholungsheime bereits bestehende Einrichtungen benützt, so Heuberg und Wegscheide u. unsere Marienruhe frühere Truppenübungsplätze mit den vorhandenen Gebäulichkeiten u. Einrichtungen, Wöllershof in der Oberpfalz die neugebaute Kreisirrenanstalt für die Oberpfalz. Derartige wohlgeeignete Bautenkomplexe finden sich nicht allzuviele. Die neueingerichteten Kindererholungsheime müßen Sammelpunkte für die Kinder, die einer Erholung und Kräftigung besonders bedürfen, werden.
Bei der Schaffung des Kindererholungsheimes Marienruhe leitete uns – sehr zum Unterschied von Heuberg u. Wöllershof – von Anfang an der Gedanke, ein nicht vom Staat und nicht von Gemeinden mit ihrem unsicheren Parteigetriebe abhängiges Unternehmen in's Leben zu rufen. Frei sollte unser Heim sein und bleiben ganz unter unserem Einfluß, wenn wir uns auch der größeren finanziellen Lasten und Sorgen bewußt waren, die wir uns aufluden mit dem Verzicht auf finanzielle Deckung und Sicherstellung durch Staat oder Gemeinden. Wir mußten uns sagen: Wenn der Sozialismus oder gar Kommunismus zur Herrschaft kommen, gehen die abhängigen Heime sofort in die Hände der herrschenden Partei über.
Wir gründeten zur Übernahme des Kindererholungsheimes einen e. V. Kinderheim Marienruhe mit 15 Herrn als Mitglieder. Bei den Verhandlungen mit den Reichsbehörden machten sich in Berlin gegen uns starke Einflüße geltend, die am liebsten unser Werk unmöglich gemacht hätten, um das Unternehmen selbst in die Hände zu bekommen. Es wurde damals zur Bedingung gemacht, daß das Heim auch Kinder anderer Bekenntniße aufnehmen müße und daß in dem e. V. Marienruhe Vertreter des anderen Bekenntnißes zugelaßen werden müßten. Fiel uns nicht ein, unser Werk uns aus den Händen nehmen zu laßen. Wir sorgten in der Auswahl der 15 Herrn und in den Vereinssatzungen dafür, daß unser Standpunkt für die Zukunft sichergestellt wurde. Von den 15 Herrn steht die große Überzahl fest auf unserem Boden. Es sind die Herrn Staab, meine Wenigkeit, Stadtrat Dr Franz, Generalvikar Dr Buchberger u. Amtsgerichtsrat Dr Rieß-München, die Oberbürgermeister Wächter-Bamberg und
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Matt-Aschaffenburg, Geheimrat Dr. Luxenburger-München, jetzt Praesident des Verwaltungsgerichtshofes, Stadtarzt Dr Lill und Fürsorgearzt Dr Gerz, inzwischen wurden für ausscheidende Herrn zugewählt Exzellenz Dr von Dandl u. Rat Gerstenberger – 12 ausgesprochen katholische Männer, dazu Regierungspraesident Dr von Henle und 2 Protestanten Stadtrat Hauck und Pfarrer Bergdolt hier. Den Vorstand bilden Staab, meine Wenigkeit, Dr Franz u. Gerstenberger. In den Satzungen haben wir vorgesehen, – Dr Buchberger u. Dr Rieß haben sie mitentworfen, – daß, wenn ein Mitglied ausscheidet, die Übrigen das neue Mitglied wählen, sodaß bei einigermaßen geschickter Leitung der Verein in unseren Händen bleibt. – Wir haben geglaubt, auf solche Weise unserer Sache am besten dienen zu können.
Wenn dann unser erster Vorstand Staab vor allem in katholischen Kreisen für unser Heim im Inland u. Ausland geworben u. gesammelt hat, wenn Papst Benedikt XV. und der regierende Papst Pius XI., wenn Nuntius Pacelli, die Bischöfe in Holland und in Amerika Unterstützungen gegeben haben, so ist es für den Charakter des Heims gewiß kein Schaden, daß wir sagen können: aus katholischen Kreisen ist ein Teil der Mittel geflossen, die Marienruhe einzurichten und auszugestalten. Aus dem gleichen Grund haben wir von Anfang an unser Erholungsheim mit katholischen Ordensfrauen geführt (z. Z. Schwestern aus der Missionskonkregation vom kostbaren Blut in (Blijenbeeke - Holland). Auf Kosten des Heims ist ein eigener Curatus vor allem auch für die kathol. Kinder aufgestellt; weder Staat noch Ordinariat haben die Kosten für denselben übernommen. Der ganze Geist, in welchem das Heim geleitet, für Gottesdienst, religiöse Erziehung, Sakramentenempfang gesorgt wird, ist – sehr zum Aerger gewißer Kreise – ausgesprochen katholisch.
Über die Leistungen des Heims seien kurz folgende Ziffern gegeben:
Im J. 1920 waren untergebracht 2.670 Kinder, 2.475 bayr., 195 außerb., 2.215 kathol.
Im J. 1921 waren untergebracht 6.572 Kinder 2.984 bayr., 3.588 außerb., 5.349 kathol.
Im J. 1922 waren untergebracht 8.929 Kinder 3.303 bayr., 5.626 außerb., 5.842 kathol.
Im Jahr 1923 waren es im März 446, im April 799, im Mai 921, im Juni 953, im Juli 1.043, im August 972, insgesamt bereits 5.134 Kinder.
Kinder von Kriegsbeschädigten bezw. Kriegswaisen waren es im Jahre 1920 1.617, im Jahre 1921: 5.160, im Jahre 1922: 5.122.
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Dem Bericht des ersten eigenen Heimarztes Dr Weltring z. Z. Assistent am Luitpoldkrankenhaus hier (1922) entnehmen wir: "Bei den meisten Kindern lag ein krankhafter Befund vor (jedes Kind wird vor der Aussendung u. beim Eintreffen in Marienruhe untersucht). Rachitische Kinder waren in größerer Zahl vorhanden, ebenso solche, welche mit Drüsentuberkulose zu tun hatten. Ausgesprochen skrophulöse Kinder waren es 100. Bettnässer 320 Knaben und 202 Mädchen. Im Krankenhaus befanden sich im Durchschnitt 6-8; die tägliche Sprechstunde war von c. 40 Kindern besucht.["]
Jede Woche hält der Curatus eigene Christenlehrstunde; dreimal an Werktagen besuchen die Kinder die h. Meße; jeden Abend ist Abendandacht mit Gewißenserforschung; eifrig gehen die Kinder zu den h. Sakramenten, auch an Werktagen. Es ist durch vielfache briefliche Äußerungen die günstige religiöse Einwirkung auf diese vielfach verwahrlosten Großstadt- und Industrieort-Kinder festgestellt.
Was die wirtschaftliche Führung des Kindererholungsheimes Marienruhe angeht, – und bei diesem Punkt ist die Verwendung der dem Heim zugegangenen Spenden und Unterstützungen einschlägig –, so ist der Betrieb auf genaue kaufmännische Berechnung und Geschäftsführung gestellt. Bei der großen Anzahl der Kinder, die im Heim Jahr für Jahr untergebracht werden, ist es ausgeschloßen, daß die Kinder vom Heim selbst aus Almosen versorgt werden. Die Aussendestellen (Städte, Fabriken, Krankenkaßen, Jugendpflegeeinrichtungen ect ect) zahlen den nach genauer Errechnung so billig als möglich gestellten Pflegesatz. Nur für die Kinder der engeren Heimat (Würzburg, Unterfranken, ev. Bayern) wird aus dem Ertrag der Sammlungen der Pflegesatz verbilligt; über diese Sammlungen siehe später. – Der Pflegesatz muß natürlich mit der Geldentwertung bezw. der Preissteigerung ziffernmäßig erhöht werden. Er betrug im Jahr 1920 noch 3 Mk, Jan. bis Juli 1921 6.50 Mk, Juli bis Dez. 1921 7.50 Mk, stieg im Verlauf des Jahres 1922 bis 85 Mk; setzte 1923 mit 500 Mk stieg bis Ende Mai auf 2.500 Mk und hat sich der rapiden Preissteigerung wie in den übrigen Kinderheimen angleichen müßen.
In unserem ganzen Betrieb ist – nach den Einzelbetrieben ausgeschieden – streng kaufmännische Buchführung. Wer das Heim genau besichtigen will, bekommt auf Wunsch auch in diese Seite des Betriebs genügenden Einblick. Rechtsrat Dr Franz ist unser Kassenverwalter. Eine
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Ordensfrau mit Hilfskräften führt die Bücher. Die Revision ist jedes Jahr durch erprobte, verläßige Revisoren bis in's Kleinste geschehen. Auf der Mitgliederversammlung ist, wie es bei einem eV. Pflicht ist, Rechnungsablage gestellt worden. Berichte über die Mitgliederversammlung sind, wie Antwortschreiben zeigen, auch dem bischöflichen Ordinariat zugeleitet worden. Der Verein Marienruhe muß natürlich in Überwachung der ganzen Verwaltung nach dem Gesetz u. seinen Satzungen sich richten. Dabei haben wir gar keinen Grund, unsere Geschäftsführung zu einer geheimen zu machen. Wenn verschiedentlich in dieser Hinsicht Unkenntnis glaubt, Mißtrauen säen zu können, so glauben wir uns bei Behörden vor solchen Verdächtigungen geschützt und gegen dieselben in Schutz genommen. Es wäre zu wünschen, wenn überall so kaufmännisch genau und gründlich gearbeitet würde wie beim Verein Marienruhe.
Wofür wurden u. werden die Spenden der Wohltäter benützt?
Zunächst muß man wißen, daß die Einrichtung des Heims, auch wenn wir vieles vom Militär übernehmen konnten, zum großen Teil von uns bestritten werden mußte. Darum tragen die Hallen und tragen Einzelsäle die Namen von Wohltätern (z. B. Benediktushaus, Amerikahaus, Bayernhilfe Brooklyn, Richterhaus u. s .w.) Die Herrichtung der Hallen, der Zimmer- u. Saaleinrichtungen, die praktische Küchen- und Baderstellung mit Dampfkochanlagen und Dampfbetrieb ect ect haben schwere Mittel gekostet, waren aber im Intereße der zweckmäßigen Ausgestaltung des Heimes und seines Zubehör notwendig. Man muß das Lager vorher gekannt haben und sehen, was daraus geworden ist, dann wird man Hochachtung bekommen, mit welchem Geschick und welchem praktischen Sparsinn der Leiter des Ganzen, Herr Staab, bisher gearbeitet hat. Für die Kosten, welche auf solche Weise erwachsen sind, haben die Spenden der Wohltäter die denkbar beste bleibende u. möglichst vielen Kindern zu Gute kommende Verwendung gefunden. Darüber haben die berufenen sachverständigen Stellen ihr Urteil abgegeben.
Dazu kommt noch ein Anderes. Die Schöpfer des Heims waren von Anfang an darauf bedacht, von dem für Landwirtschaft brauchbaren Gelände des Truppenübungsplatzes einen entsprechenden Anteil zu erhalten, natürlich wie die Baulichkeiten auch in Pacht. Das Feld lag wüste und zusammengestampft, mit Unkraut überwuchert, teilweise mit Schützengräben durchzogen. Es fehlten alle landwirtschaftlichen Geräte u. Maschinen. Es war keinerlei Viehstand da. Und doch mußten wir uns sagen: erst wenn es uns gelang, mit dem Kindererholungsheim einen landwirtschaftlichen Betrieb in genügendem Umfang zu verbinden, war die Zukunft des Heims gesichert. – Woher die Mittel nehmen? Der Verein verfügte über solche nicht. Da waren es die Wohltäter, die durch ihre Spenden
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es möglich machten, den landwirtschaftlichen Betrieb soweit zu fördern, als er jetzt steht. So waren z. B. durch die Spende des Papstes Benedikt XV. 15 Kühe beschafft worden. Aber noch immer erfordert die Urbarmachung der Felder, Viehbeschaffung, Anschaffung der Geräte u. Maschinen bedeutende Mittel. Je eher und je beßer wir den landwirtschaftlichen Betrieb auf die Höhe bringen können, um so beßer ist für den Zweck des Kindererholungsheimes besonders unter den jetzigen ungeheuer schwierigen Verhältnißen gesorgt. Auch die neuerliche Bitte an den h. Vater will unter diesem Gesichtspunkt betrachtet sein.
Wenn verschiedentlich dem Leiter unseres Heims verdacht wird, daß er in eigenen Sammlungen sich an die Bevölkerung von Unterfranken gewandt hat u. daß er die Schulkinder in den Dienst der fürsorgenden Liebe für notleidende Kinder zu stellen verstanden hat, so nimmt es denjenigen nicht Wunder, der weiß, wie Herr Staab während der Kriegsjahre in großzügigster Weise die Verpflegung der über Würzburg in's Feld fahrenden oder aus dem Feld heimkehrenden c. 9 Millionen Soldaten organisiert und beschafft hat. Die Sammlungen waren übrigens nicht uns von der Kreisregierung genehmigt, sondern vom Regierungspraesident Dr von Henle, von Landwirtschaftsminister Wutzelhofer u. den bäuerlichen Organisationen bestens empfohlen. Der Ertrag der Sammlungen – im Jahre 1921 rund 800 Zentner Kartoffeln und etwa 70 Ztr Frucht, bei der Eiersammlung im Frühjahr 1922 rund 20.000 Stück, im Herbst 1922 etwa 1.000 Zentner Kartoffel und 2 ¾ Ztr Frucht – kam durch Ermäßigung des Pflegesatzes für Kinder aus Würzburg und Unterfranken der Heimatnot wieder zu Gut. Während die Einnahmen auf 115.000 Mk für 1921 und Frühjahr 1922 veranschlagt werden können, wurden durch verbilligten Pflegesatz den Kindern 292.848 Mk zugewendet.
Die Bestellung des Herrn Staab als Leiter des Heims im Hauptamt durch die Mitgliederversammlung vom [sic] ist ureigene Sache des eV. Spenden von Wohltätern werden für diesen Zweck ebensowenig wie für den Heimgeistlichen und Heimarzt in Anspruch genommen.
Zu der Frage, ob die Bitte des Vereins um eine besondere Zuwendung des h. Vaters begutachtet werden soll, stelle ich Antrag dahin: Es soll angesichts der Größe und der Leistungen des Kinderheims sowie der Entwicklung, in welcher sich daßelbe zur Zeit noch befindet, die Bitte als wohl begründet dem h. Vater bezeichnet werden.
Dompfarrer Dr Winterstein
Empfohlene Zitierweise
Winterstein, Alfred, Kindererholungsheim Marienruhe betr, Würzburg vom 13. September 1923, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 14216, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/14216. Letzter Zugriff am: 20.04.2024.
Online seit 23.07.2014, letzte Änderung am 28.10.2019.