Dokument-Nr. 18542
Sonntag, Josef an [Unbekannt]
Berlin-Steglitz, 30. Januar 1925

Brief 9.
Als Manuskript gedruckt.
Hochgeehrter Herr!
Das Panama hat seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Die Enthüllungen werden weiter gehen. Noch gar manche Existenz, mag sie politisch links oder rechts eingestellt sein, steht in Gefahr. Eine Eindämmung der Untersuchungen ist kaum zu erwarten, nachdem mit dem Fall Bauer und Genossen die Barmataffäre eine neue Wendung genommen hat. Es fragt sich nur immer wieder, ob die Gebrüder Barmat selber wirklich die Hauptschuldigen sind. Wenn nicht von ihrer Seite Verdunklungsgefahren zu befürchten wären, würden sie sich vielleicht schon wieder der Freiheit zu erfreuen haben. Es liegt mir vollkommen fern, für diese Herrschaften eine Lanze brechen zu wollen. Aber schlimmer als die jüdischen Barmats haben es, um hier Gesagtes zu wiederholen, die christlichen getrieben. Ich komme auf den Fall Semer zurück, weil sich inzwischen der ehemalige Postminister Giesberts gemeldet hat, nachdem ich in der denkbar schonendsten Weise seine geschäftlichen Beziehungen zu diesem christlichen Barmat angedeutet hatte. Herr Giesberts hat den Zeitungen sagen lassen, daß er die Absicht habe, auch gegen mich den Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik zu bemühen. Ich muß nun deutlicher werden. Mit der Aufdeckung der Tatsache, daß der päpstliche Geheimkämmerer Semer in der Blütezeit der deutschen Republik Schiebergeschäfte der allerübelsten Art zum Schaden des Reichs sowie zahlreicher Republikaner machte und selbst die Munition zur Generaloffensive gegen seinen Freund Erzberger herbeitrug, bringt man also unsere Republik in solche Gefahr, daß sie vom Staatsgerichtshof geschützt werden muß? Wieso das, bleibt Geheimnis des Herrn Giesberts, der die Lücken seiner staatsbürgerlichen Kenntnisse durch einen Aufklärungsunterricht bei seinen Freunden von der Justiz ausfüllen könnte.1 Sollte aber nach der Auffassung des gewesenen Postministers der Staatsgerichtshof die Aufgabe haben, einem Vertreter der öffentlichen Interessen - und als solchen darf ich mich doch wohl bezeichnen - die Wahrnehmung dieser Interessen zu unterbinden, wenn ich Uebelstände in Reich und Staat ans Licht ziehe, dann wäre es allerdings um die deutsche Republik nicht gut bestellt. Und dann wäre nicht ich, sondern derjenige, der das Licht der Oeffentlichkeit und Wahrheit scheut, verantwortlich, wenn die Republik in die Binsen ginge. Der Staatsgerichtshof ist nicht da, um der Justiz in die Arme zu fallen. Wenn Herr Giesberts aus meinen früheren Bemerkungen eine Beleidigung konstruiert, dann ist der Staatsanwalt die Instanz, an die er sich vertrauensvoll wenden kann. Genau so wie es in seinem Magdeburger Prozeß der Reichspräsident getan hat. Obendrein hat Herr Giesberts übersehen, daß er nicht mehr im Amt ist.
Wenn erst alle Einzelheiten über das Treiben des Herrn Semer dem Gericht vorliegen werden, dürfte sich Herr Barmat durch ihn übertrumpft fühlen. Als politischer Abenteurer hat Semer jedenfalls einen Rekord aufgestellt, der nicht leicht zu brechen ist. Bezeichnend ist folgender Fall, bei dem auch Herr Giesberts als Postminister eine Rolle gespielt hat: Ende 1919 erbot sich Semer, für die deutschen Beamten amerikanischen Speck aus Holland hereinzuholen. (Auch Barmat hatte sich durch seine bekannten Lebensmittelzufuhren Verdienste mannigfacher Art erworben!) Nur im Reichspostministerium ging man auf Semers Angebot ein. Ursprünglich sollte es ein Kauf auf Kredit werden. Später forderte und bekam Herr Semer für seinen holländischen Speck durch Intervention von Herrn Giesberts, obwohl der Dezernent für die Lebensmittelversorgung der Postbeamten das Geschäft aus guten Gründen rundweg abgeschlagen hatte, von der Post den Betrag von zwölf Millionen Mark ausbezahlt. Mit diesem Geld - nach dem damaligen Dollarstand etwa sechs Millionen Goldmark! - ging Herr Semer nicht etwa sofort nach Holland, wo der Speck lag, sondern zu einem bekannten Großindustriellen, dem er die Hälfte des Betrages gegen hohen Zins ins Geschäft gab. Von der Reichspost hatte sich Semer für die Vermittlung außerdem 200.000 Mark an Provision im voraus zahlen lassen. Der Rotterdamer Specklieferant mußte ihm 15 cts. pro Kilogramm an Tribut entrichten. Die Lieferung verzögerte sich, weil der Holländer bares Geld sehen wollte.
In Berlin machten die zuständigen Postbeamten erneut Einwendungen, besonders auch wegen der Höhe des geforderten Preises. Schließlich einigte man sich dahin, nach Amsterdam durch zwei Beamte eine außerordentlich wertvolle Briefmarkensammlung zur Auktion zu senden und den erhofften Erlös für die Specksendung zu hinterlegen. Die Auktion kam aber nicht zustande, und der Speck blieb weitere Wochen liegen. Unterdessen hatte der bezeichnete Großindustrielle von dem Handel erfahren und zahlte schleunigst die 6 Millionen zurück, um Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen. Inzwischen war der Gulden gestiegen. Die 12 Millionen waren in der von Semer gegründeten Allgemeinen Handelsgesellschaft m.b.H deponiert, die nur der obenbezeichnete Großindustrielle mit 50.000 Mark in bar aus der Taufe gehoben hatte, während die übrigen Gesellschaftsteilnehmer, nämlich Semer, Erzberger, Scheidemann, Giesberts, Südekum überhaupt nichts eingezahlt hatten. Endlich wurden Gulden gekauft, und die damit bezahlte Speckladung kam schließlich in Duisburg an. Allerdings zum großen Teil in total verdorbenem Zustand. Ob der Speck trotzdem zur Abgabe an die Beamten kam, soll hier nicht untersucht werden. (Die Speckproben hatte Semer in Deutschland gekauft.) Es fiel damals auf, daß Semer zur Hochzeit der Tochter des Herrn Giesberts eine Mitgift von 20.000 Mark nach Essen sandte. Nach seinen Angaben als "Vorschuß" auf die zu erwartende Dividende der Allg. Handelsgesellschaft. Auch späterhin stand Semer mit seiner stark beachteten Vielseitigkeit in Geschäftsbeziehungen zu Giesberts, die dem ganzen Reichstag so bekannt waren, daß die Zentrumsfraktion es für geboten erachtete, Herrn Giesberts im Kabinett Marx einen Nachfolger in der Person des Herrn Höfle zu geben. Es ist auch nicht ganz unbekannt geblieben, daß Herr Semer und Herr Giesberts sich über eine Beuteteilung im vergangenen Frühjahr in die Haare gerieten, um sich schließlich wieder zu vertragen. Giesberts mußte jedenfalls den kürzeren ziehen.
Ihm kommen in all den Händeln mildernde Umstände zu. Er ist als das Opfer seines draufgängerischen Freundes eher zu bedauern, der von ihm u.a. auch eine Vertrauenskundgebung herauspreßte. An ihr hatten zwei andere Parlamentarier mitgearbeitet. Sie wurde in den "Bayerischen Kurier" in München in einer von Semer frisierten Form zu dem Zwecke lanziert, das von Rom heraufziehende Ungewitter von dem Haupt des päpstlichen Geheimkämmerers abzuwenden. Heute ist den Gutachtern, die, sagen wir: unter einem Zwange gehandelt hatten, ein Licht aufgegangen: der von ihnen "rehabilitierte" Geheimkämmerer steht im dringenden Verdacht, Unterschlagungen sowie Wechsel- und Urkundenfälschungen begangen, Schmuggelgeschäfte zum Teil unter Verwendung von offiziellen Siegeln getrieben, Teppiche für die päpstliche Nuntiatur gekauft, aber größtenteils
206v
für seine eigene Villa behalten, die Benediktusstiftung als Verwalter durch falsche Eintragungen und Kontoauszüge schwer geschädigt, Angestellte zu strafbaren Handlungen verleitet, Spitzel- und Spionagedienste geleistet, den Nachlaß Erzbergers derangiert zu haben. Herr Giesberts, der mir persönlich aufrichtig leid tut, weil er von Haus aus ein ehrenhafter Mann ist, hat den Trost für sich, daß noch Höherstehende sich durch den Cagliostro unserer Tage bluffen ließen.
Bei der Entscheidung über das Regierungsschicksal in Preußen spielen die Barmatskandale eine nicht zu verkennende Rolle. Soll heute die Wahl im Preußenhaus hinausgeschoben werden, so dürften sich die Aussichten für eine Regierungskoalition mit den Deutschnationalen erheblich bessern. In der Zwischenzeit würde der bisher noch schwache rechte Flügel im preußischen Zentrum an Stärke gewinnen. Von dieser Seite ist bekanntlich der rheinische Landeshauptmann Horion als Ministerpräsident präsentiert worden. Horion hat sich im Rheinland allgemeiner Achtung zu erfreuen und zeigt große Bedenken, seinen bisherigen Posten mit der unsicheren Stelle in Berlin zu vertauschen. Ausgeschlossen wäre es nicht, daß das Zentrum seine Kandidaten auch ohne die Stimme der Rechten, vielleicht mit Hilfe der Welfen und der Polen, schon heute durchbringen könnte. Der Eindruck hat sich verstärkt, daß das Zentrum mit der Wahl eines politisch nicht hervorgetretenen Beamten die Verbindung mit den übrigen bürgerlichen Parteien sich offen halten und schrittweise den Weg zu einer Kombination ähnlich der im Reich einschlagen möchte. Die Probe darauf werden wir sehen, wenn es zu Besetzung der übrigen Ministerien sowie des Landtagspräsidiums kommt. Verweigert das Zentrum den Deutschnationalen sowohl das preußische Innenministerium wie auch das Landtagaspräsidium, dann wäre an eine Mitarbeit der Rechten schwerlich zu denken. Voraussichtlich würde sich dann auch die Volkspartei der Opposition zugesellen, und es erscheint durchaus denkbar, daß diese Parteien dann einen Gegenkandidaten, etwa in der Person des Herrn v. Campe aufstellen. Praktisch wäre damit natürlich auch nichts gewonnen, sondern die Krise würde nur verschärft werden.
Die "Germania" sprach soeben von einer "Staatskrisis". Diese würde ausbrechen und zu schwersten Verfassungskämpfen bald auch im Reich führen, wenn jetzt in Preußen das Zentrum nicht die Hand zu einer Lösung der Regierungskrisis bietet. Der Marxismus hat das Panama geschaffen, dieses aber ist der beste Schrittmacher für den Monarchismus. Darüber sollte man sich keinen Augenblick in denjenigen Kreisen täuschen, die noch glauben, mitten im tiefsten Sumpf die Ideale der Republik verteidigen zu können. Nicht die Rechte bedroht die Republik. Es sind die aus dem Boden des Marxismus herausgewachsenen Panamisten, die den Staat von heute am meisten bedrohen, weil sich von ihm die Volksseele abwendet. Die Errungenschaften des Novembers gehen einzig und allein im Panama unter.
Herriots Brandrede hat die Reichsregierung nicht überrascht. Man glaubt sie vorwiegend auf die innerpolitischen Sorgen des französischen Ministerpräsidenten zurückführen zu müssen, die es ihm nahelegten, moralische Eroberungen bei der nationalistischen Opposition zu versuchen. Immerhin ist seine Rede geeignet, die Stellung des Kabinetts Luther nicht gerade zu erleichtern, denn unsere Linke wird natürlich nicht versäumen, die angebliche Schwenkung des "Versöhnungspolitikers Herriots" mit der Rechtsentwicklung in Deutschland zu erklären. In Wahrheit spiegelt der französische Wutausbruch die Enttäuschung über den Frankreich sehr peinlichen Kurs der deutschen Regierung wieder. Dies saubere Spiel wird den Franzosen nicht glücken, sofern nur unsere Regierung endlich einmal mit aller Energie zur Gegenoffensive schreitet und Herriot die gebührende Antwort erteilt. Der Reichskanzler will ja wohl schon heute vor der gesamten Auslandspresse eine Erklärung abgeben, um keine Zeit bis zum Wiederzusammentritt des Reichstages zu verlieren. Hoffentlich nimmt Herr Dr. Luther kein Blatt vor den Mund.
Die von dem neuen Reichsfinanzminister vorgetragene Steuerrede hat in den Kreisen der Wirtschaft ziemliche Enttäuschung hervorgerufen. Grundlegende Unterscheidungen von dem früheren Steuersystem sind da kaum zu entdecken. Es wird derselbe Faden, aber nur eine andere Nummer gesponnen! Der Geist ist der alte, bekannte. Wenn es nach Herrn von Schlieben geht, wird der furchtbare Steuerdruck keine wesentliche Milderung erfahren. Mit halben Maßnahmen kann der Wirtschaft nicht gedient sein. Was sie braucht, ist Abbau der Steuern und damit Abbau der Preise, um kredit- und konkurrenzfähig zu werden. Wenn der Finanzminister gar an der bisherigen Ueberschutzwirtschaft - über eine Milliarde Mark für das Steuerjahr - festhält, so braucht man kein Prophet sein, um ihm ein glänzendes Fiasko des frisch aufgebügelten alten Systems Marx-Luther vorauszusagen.
In hochachtungsvoller Begrüßung
Josef Sonntag
Pizzardo fügte seinem Schreiben ein weiteres Exemplar des Briefes bei. Dieses liegt auf 208rv des gleichen Faszikels. Den Exemplaren ist jeweils eine Denkschrift beigefügt (Dokument Nr. 18543).
1Passage "Mit der Aufdeckung...der Justiz ausfüllen könnte." links entlang des Textes hds. in roter Farbe von unbekannter Hand angestrichen, vermutlich vom Empfänger.
Empfohlene Zitierweise
Sonntag, Josef an [Unbekannt] vom 30. Januar 1925, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 18542, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/18542. Letzter Zugriff am: 20.04.2024.
Online seit 24.06.2016, letzte Änderung am 20.01.2020.