Dokument-Nr. 2796

Aus dem Verfassungsausschuß(Privater Drahtbericht)Bamberg, 25. Juni 19191, in: Augsburger Postzeitung, Nr. 278, Morgenblatt, S. 1 f., 26. Juni 1919
Heute nachmittags eröffnete der Verfassungsausschuß die Beratung des Entwurfes einer Verfassungsurkunde für den Freistaat Bayern mit der Generaldiskussion.
Referent Abg.  Ackermann (Soz.) begnügte sich mit kurzen Bemerkungen. Grundgedanke der Revolution sei gewesen: Alle Macht beim Volke! Eisner hätte am 7./8. November die alsbaldige Einberufung einer konstituierenden Nationalversammlung verlangt; aber seine damals zweifellos gut gemeinte Absicht hätte sich leider nicht verwirklichen lassen. Es sei fraglich, ob Bayern sich überhaupt noch eine Verfassung geben könne, ob Bayern ein souveräner Staat bleibe oder nicht, worüber ja die Nationalversammlung in Weimar entscheiden wird. Die Parteien, welche zurzeit Träger der Regierunng [sic] in Bayern sind, seien durch die Vereinbarungen von Bamberg in gewisser Hinsicht gebunden. Es dürften in die Verfassung keine Bestimmungen aufgenommen werden, welche damit im Widerspruch stünden. Im übrigen erklärte der Referent, daß er dem Antrag Held auf eine klare und übersichtliche Gliederung der Verfassungsvorschläge zustimme.
Der erste Referent Abg.  Held (B. V.) nahm sodann das Wort zu einer großangelegten Rede. Er sagte, wir stehen vor einer außerordentlich bedeutsamen Beratung, vor der endgültigen Neuordnung der öffentlichen Dinge in Bayern. Wir wollen auf demokratischer Grundlage unser Land in republikanischer Staatsform neu aufbauen. Es entspricht der Bedeutung des Staatsgrundgesetzes, daß das Gesetz in formaler, gesetztechnischer und materieller Hinsicht nicht beanstandet werden kann. Leider fehle der Vorlage eine schriftliche Begründung. Er vermißt ferner jede systematische Zusammenfassung und Gliederung. Die organische Ordnung des Stoffes ist mangelhaft. Geradezu mustergültig in dieser Hinsicht ist die württembergische Verfassung. Auch die Stilisierung ist vielfach mangelhaft. Der Inhalt des bisherigen provisorischen Staatsgrundgesetzes kann für uns nicht maßgebend sein. Wenn wir lediglich die Kompromißvereinbarungen als Grundlage der Beratung machen, dann schaffen wir ein Werk, das in kurzer Zeit der Grundlage entbehrt.
Das Fundament unserer Verfassung muß die demokratische Grundlage sein. Die Gefahr des Zwanges in gewissen Fragen ist nicht ausgeschlossen, auch nicht die Gefahr der Majorisierung. Einige Bestimmungen enthalten sogar die Möglichkeit von Konflikten zwischen Minnisterium  [sic] und Landtag, zwischen Staat und Glaubensgesellschaften. Ich vermisse das klare Verhältnis zu den Staatsverträgen, welche Bayern bisher abgeschlossen hat. Denkt man vielleicht an eine einseitige Lösung des Konkordates? Hat die Regierung die Verbindung zur Kurie aufgenommen? Es kann dies doch der katholischen Bevölkerung in Bayern nicht gleichgültig sein. Hat die Regierung der Kurie ihre Existenz angezeigt? Es hätte dies schon der internationalen Anstandspflicht entsprochen. Reichspräsident Ebert hat dem Papst den Antritt der neuen Regierung angezeigt. Der Nuntius in München war zur Zeit der Rätediktatur von Bolschewisten bedroht worden. Der damalige Räteminister Dr.  Lipp entschuldigte sich. Hat Ministerpräsident Hoffmann Schritte unternommen, um wieder gutzumachen, was damals in München gegenüber dem Nuntius gefehlt wurde? Wurde der Verfassungsentwurf den kirchlichen Oberbehörden bezüglich der Bestimmungen über Kirche und Schule zu einer Aeußerung vorgelegt? Warum ist die Besetzung der Pfarreien nicht möglich? Mittlere und untere Behörden lassen die Akten liegen, weil sie über das Verhältnis zwischen Staat und Kurie nicht mehr unterrichtet werden.2 Die Rechte der Glaubensgesellschaften sind im Entwurf ungenügend geregelt. Die württembergische und badische Verfassung sind in dieser Hinsicht viel entgegenkommender und klarer. In unserem Entwurf fehlt eine Unterscheidung zwischen anerkannten und nicht anerkannten Glaubensgesellschaften, ferner einer Bestimmung darüber, ob sie die Rechte von Körperschaften des öffentlichen Lebens erhalten. Wir sind einverstanden, wenn auch andere Glaubensgesellschaften diese Rechte bekommen. Ich vermisse Bestimmungen über das Verhältnis der Glaubensgesellschaften untereinander, über die Form des Glaubenswechsels, ferner über die Art und Voraussetzungen des bracchium saeculare und eine Verwaltung und das Selbstbestimmungsrecht der Glaubensgesellschaften. Was ist zu verstehen unter staatlicher Vorschrift? Ein Gesetz, eine Verordnung, eine Ministerialentschließung? Durch die Willkür eines einzelnen Mannes kann der Konflikt zwischen Staat und Kirche herbeigeführt wird [sic]. Nach dem Entwurf kann niemand hinsichtlich seines religiösen Lebens irgend einem äußeren Zwang unterworfen werden. Wir müssen aber auch einen Schutz erlangen für diejenigen, welche sich in einer Glaubensgesellschaft betätigen wollen. Man will anscheinend ein rein staatliches Kulturmonopol schaffen. Nach der Reichsverfassung ist aber grundsätzlich die Förderung der Kultur Sache des Staates. Staatszwang und Staatstyrannei ist unvereinbar mit dem Programm der Demokratie und Freiheit. Wir hörten nichts von Privatschulen und Elternrechten, Erziehung der Kinder, Stellung des Religionsunterrichtes im Lehrplan der Schulen, Verhältnis zwischen Privat- und Staatsschulen, Beibehaltung der theologischen Fakultäten an den Universitäten.
Wir sind einverstanden mit dem Recht der Staatsbürgerschaft auf Volksanträge (Initiative) und für Volksbestätigung (Referendum). Die Verfassung muß einer Volksabstimmung unterworfen werden, namentlich, wenn die Verfassung nur mit einfacher Mehrheit beschlossen würde, was ich jedoch für ausgeschlossen halte. Die Selbstverwaltung muß noch weiter ausgebaut werden. Ein Wahlbeamtentum ist nur in den leitenden Stellen möglich. Der Stiftungszweck darf nicht unter irgend einem Vorwand geändert werden, sondern nur wenn allenfalls der Zweck unerfüllbar oder gar widersinnig geworden ist. Der Entwurf scheint mir gemäß Paragraph 135 vom Berechtigungssystem zum Prüfungssystem übergehen zu wollen. Wäre es nicht zweckmäßig, einen Staatspräsidenten als ruhenden Pol, in der Erscheinungen Flucht als Träger der Tradition zu schaffen? Im parlamentarisch demokratischen System darf eine Ressortherrlichkeit keinen Raum mehr haben. Das Gesamtministerium muß dem Landtag gegenüber verantwortlich sein, nicht nur bezüglich des Gesetzesvollzuges, sondern auch bezüglich aller wichtigen Verordnungen. Begnadigungen haben durch den Landtag zu erfolgen. Das Gesamtministerium darf nicht für Einzelbegnadigungen einen einzelnen Minister bevollmächtigen, weil das Gesamtministerium dem Landtag ver-
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antwortlich ist. Die Ausfertigung und Veränderung der Landesgesetze und Staatsverträge durch den Ministerpräsidenten ist undemokratisch. Das Gesamtministerium aber wenigstens diejenigen Minister, welche der Materie nach beteiligt sind, müssen unterzeichnen. Mit der Schaffung von Staatssekretären in der Form des Entwurfes sind wir nicht einverstanden; wir müssen zu einer sparsamen Regierungsform kommen. Staatssekretäre mit Beamtenqualitäten sind das Werkzeug der Minister, nicht Kontrollorgane des Parlaments. Die Einberufung des neugewählten Landtages durch den Ministerpräsidenten entspricht nicht den demokratischen Grundsätzen. Warum soll der Landtag nicht selbst innerhalb einer kurz bemessenen Frist nach erfolgter Wahl zusammentreten können? Die Bestimmung über Einrichtung des Staatsgerichtshofes müssen [sic] ausführlicher gestaltet werden. Ungenügend ist die Abgrenzung der Kompetenz zwischen Landtag uund  [sic] Ministerien, ferner der Kompetenz der einzelnen Abgeordneten gegenüber den Ministerien. Notwendig ist ein ständiger Landtagsausschuß für die Zeit der Landtagsferien, ferner auch als ein Organ, das bei einer Katastrophe die Rechte des Landtages wahren kann. Mit der einjährigen Budgetperiode sind wir einverstanden, aber das laufende Rechnungsjahr, das ohnehin schon furchtbar belastet ist, muß abschließen mit dem 31. Dezember dieses Jahres, während das nächste Rechnungsjahr läuft vom 1. Januar 1920 bis 31. März 1921. Die nachträgliche Genehmigung von Budgetüberschreitungen muß unveränderliches Recht des Landtages sein. Mit Rücksicht auf die kommende Reichsverfassung müssen voraussichtlich manche Bestimmungen unseres Entwurfes wegfallen oder durch Bestimmungen der Reichsverfassung ergänzt werden.
Wir achten die Ueberzeugung aller und wünschen nicht, daß in die Verfassung Bestimmungen aufgenommen werden, welche mit unserem Gewissen unvereinbar sind. Es handelt sich um das Wohl des Vaterlandes, nicht um die Erreichung und Festlegung von Forderungen einzelner oder gar einer bestimmten Richtung. Möglichst schnelle Erledigung des Entwurfes ist eine politische Notwendigkeit. Wir erwarten, daß alle zusammenstehen und unter diesem Gesichtspunkt an die Arbeit gehen. Wir wollen nicht eine Staatsomnipotenz bis in die Herzen und Gewissen hinein schaffen.
Der Korreferent Abg. Dr.  Piloty (Dem.) führt u. a. aus: Der bayerischer Entwurf ist das erste selbstständige Werk eines Verfassungsentwurfes in Deutschland überhaupt. Die Kritik des Herrn Vorredners nach der formellen und sachlichen Seite hin ist wohl zu hart. Ich kann von diesem scharfen Urteil wenig auf mich nehmen. Denn wir juristischen Mitarbeiter waren in der Bearbeitung des Entwurfes nicht unabhängig. Wir wollen an die Arbeit mit einem großen Gemeinsamkeitssinn herangehen und die Ueberzeugung, welche andere mitbringen, achten.
Ministerpräsident Hoffmann: Die Staatsregierung war der Auffassung, daß in dem bisherigen Stadium eine Vorlage des Entwurfes an die kirchlichen Oberbehörden nicht notwendig war. Das Konkordat besteht weiter. In Absatz 1 und 2 des Par. 13 sind entsprechende Grundsätze aufgestellt. In dem Zeitpunkt, wo die Gesetzgebung die Regelung treffen sollte, würde mit der Kurie verhandelt werden über eine alsbaldige Neugestaltung, Abänderung oder Beseitigung des Konkordates. Die Reichsverfassung hat gerade auf dem Gebiet der Schule und Kirche einschneidende Maßnahmen vorgesehen. Die Abmachungen der drei Koalitionsparteien müssen die Grundlage bilden für die Ausgestaltung der Verfassung. Es ist nicht ein Abkommen zwischen drei Parteiführern, sondern zwischen drei Fraktionen.3
Ministerialrat Graßmann: Bayern war ohne Regierung, als in Weimar die entscheidenden Besprechungen bezüglich der Reichsverfassung stattfanden. Die Vertreter Bayerns in Weimar mußten sich damals die Frage gefallen lassen, was sie überhaupt vor hätten.
Ministerpräsident Hoffmann: Die Reichsverfassung wird am 1. Juli in der Nationalversammlung kommen und dort beraten werden, wobei eine Woche zur Erledigung der Vorlage vorgesehen ist. Das Reich wird eine Gesandtschaft beim Vatikan einrichten. Die bayerischen Gesandtschaften sollen bekanntlich durch die Reichsverfassung beseitigt werden. Die Frage ist strittig, ob neben der Gesandtschaft des Reiches auch eine Gesandtschaft Bayerns in Rom bestehen kann. Der gesandte Preger verhandelt zurzeit in meinem Auftrag in dieser Richtung mit der Reichsregierung. Die Kompromißvereinbarungen der drei Parteien sind natürlich getroffen vorbehaltlich der Bestimmungen in der Reichsverfassung.4 Wenn Bestimmungen der Reichsverfassung dagegen sind, dann sind die entsprechenden Bestimmungen des Abkommens damit erledigt. Mit der Abmachung soll die Verfassung nicht erschöpft sein, aber die Abmachung soll eine gemeinsame Basis für die Verhandlungen über den Verfassungsentwurf schaffen, so über die Frage der Republik, Einkammersystem usw. Was in der Vereinbarung an Grundsätzen niedergelegt ist, muß beibehalten sein.
Ministerialrat Graßmannweist noch auf die bedenklichen Bestimmungen in Absatz 7 des Art. 134 des Reichsverfassungsentwurfes hin, wonach den Religionsgemeinschaften die Vereinigungen gleichgestellt werden, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen. Er meinte, daß schließlich auch der Bolschewismus und Kommunismus behaupten könne, eine religiöse Bewegung zu sein.
Nach einigen Bemerkungen des Referenten Abgeordneten Ackermann und des Vorsitzenden Abgeordneten Dr. Süßheim vertagt sich der Ausschuß auf morgen nachmittags, wo die Spezialdebatte über den Verfassungsentwurf ihren Anfang nehmen wird.
1Mittig am oberen Seitenrand hds. von unbekannter Hand in blauer Farbe notiert: "[Bericht 1 5,0]".
2"Das Fundament [...] werden" rechts des Textkörpers hds. vermutlich vom Empfänger durch eine senkrechte Linie in roter Farbe hervorgehoben.
3"Ministerpräsident Hoffmann [...] Fraktionen" links des Textkörpers hds. vermutlich vom Empfänger durch eine senkrechte Linie in roter Farbe hervorgehoben.
4"Das Reich [...] Reichsverfassung." links des Textkörpers hds. vermutlich vom Empfänger durch eine senkrechte Linie in roter Farbe hervorgehoben.
Empfohlene Zitierweise
Anlage vom 26. Juni 1919, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 2796, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/2796. Letzter Zugriff am: 28.03.2024.
Online seit 04.06.2012, letzte Änderung am 25.02.2019.