Dokument-Nr. 2887

Zum Wechsel im Reichswirtschaftsministerium, in: Germania, Nr. 317, 15. Juli 1919
Zum Wechsel im Reichswirtschaftsministerium.
Man schreibt uns:
Bekanntlich ist der Rücktritt des Reichswirtschaftsministers Wissel notwendig geworden, weil er in der Durchführung der vom Unterstaatssekretär von Moellendorff eingeleiteten Planwirtschaft keine Unterstützung im Kabinett fand. Wissels Rücktritt ist aber nicht nur die Folge der Sozialisierung unserer Wirtschaft von Bedeutung, sondern auch für die Frage unserer Versorgung mit Lebensmitteln und unentbehrlichen Gebrauchsgegenständen. Und in dieser Beziehung verdient die Entscheidung über die Person seines Nachfolgers Beachtung. Man wird sich der ungewöhnlich heftigen Auseinandersetzung zwischen dem Wirtschaftsminister Wissel und dem Ernährungsminister Schmidt auf dem sozialdemokratischen Parteitag erinnern. Sie drohte sich um die Frage der Einfuhr von Lebensmitteln. Wissol wollte zum Schutz unserer Valuta die Einfuhr von Lebensmitteln auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken. Dieser Standpunkt wird nahezu von allen maßgebenden Wirtschaftspolitikern als abwegig abgelehnt, weil wir einmal bei dem Hereinströmen fremder Waren über die Westgrenze auf den Stand unserer Valuta nahezu keinen Einfluß haben und weil außerdem die Erfahrungen der letzten Wochen gezeigt haben, daß die politische Lage auf die Bewertung der Reichsmark im neutralen Auslande von erheblich größerem Einfluß ist als die Gestaltung unserer Zahlungsbilanz. Im übrigen muß man eine reichlichere Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln nicht nur aus gesundheitlichen Rücksichten, sondern auch im Interesse der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung für die wichtigste Aufgabe der Regierung halten. Diesen Standpunkt vertrat der Ernährungsminister Schmidt in seiner scharfen Polemik gegen Wissell. Er erklärte, wir hätten nicht zu viel, sondern noch viel zu wenig Lebensmittel eingeführt. Wenn nun jetzt die Leitung unseres Wirtschaftsministeriums an Schmidt übergegangen ist, so ist damit zu rechnen, daß die bisherigen Hemmungen in der Einfuhr ausreichender Mengen von Lebensmitteln fortfallen werden.
Aber nach den halbamtlichen Verlautbarungen zu Wissels Rücktritt ist auch damit zu rechnen, daß die Einfuhr von Erzeugnissen, an denen die Bevölkerung seit Jahren Mangel leidet, eine freiere Gestaltung nehmen wird. Der Kredit, den der deutsche Kaufmann im Ausland genießt, soll für unsere Versorgung mit Lebensmitteln, Rohstoffen und Erzeugnissen nutzbar gemacht werden. Zur Unterstützung soll eine korporative Kreditgewährung an einzelne Industriezweige und eine staatliche Bürgschaft herangezogen werden. Wissels Grundsatz, Fertigfabrikate im Interesse der heimischen Industrie möglichst ganz von der Einfuhr auszuschließen, war nur so weit möglich, als die Industrie über Rohstoffe verfügte und infolgedessen arbeiten konnte. Soweit dies aber nicht der Fall ist, bedeutete die Einfuhr von Erzeugnissen keine Schädigung unserer Industrie. Wir werden deshalb beispielsweise Schuhwerk zur Einfuhr zulassen, weil unsere Schuhindustrie aus Mangel an Leder den vorhandenen Bedarf bei weitem nicht decken kann.
Es ist aber auch damit zu rechnen, daß der neue Leiter des Wirtschaftsministeriums auf einem anderen Gebiet die Frage der Einfuhr ohne Engherzigkeit entscheiden wird, nämlich auf dem Gebiet der Versorgung mit Tabakerzeugnissen. Nach Ansicht von Nichtrauchern sind Zigarren und Zigaretten entbehrliche Genußmittel. Aber in Zeiten, wie wir sie jetzt durchleben, wo die Stimmung der Massen von größter Bedeutung auf die innere politische Lage ist, darf man einen solchen Standpunkt nicht als ausschlaggebend ansehen. Ein Volk, das so lange Jahre Entbehrungen aller Art erlitten hat, verlangt nach einer Rückkehr zu den Gewohnheiten, die dem Leben ein gewisses Maß von Behaglichkeit geben. Dazu gehört auch der Rauchgenuß. Es ist nicht angängig, daß der Minderbemittelte Tag für Tag sieht, wie sich nur der Wohhabende Zigarren und Zigaretten für teures Geld kaufen kann, während er selbst sich im besten Fall mit übelriechenden Ersatzmitteln begnügen muß. Es kommt hinzu, daß ein einst blühendes Gewerbe, das Tabakgewerbe, völlig zu erliegen droht, wenn wir nicht bald Rohtabak aus dem Auslande einführen. Die Blockade ist aufgehoben, der holländische Tabakmarkt wird dem deutschen Kunden wieder offen stehen. Darum ist damit zu rechnen, daß sich die freiere Richtung in der Frage der Einfuhr auch auf unsere Versorgung mit Rohtabak erstrecken wird.
Empfohlene Zitierweise
Anlage vom 15. Juli 1919, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 2887, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/2887. Letzter Zugriff am: 28.03.2024.
Online seit 04.06.2012.