Dokument-Nr. 3863

Die Schule in der Reichsverfassung, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 319, 28. April 1921
Dem Reichstag ist der Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Artikels 146 Absatz 2 der Reichsverfassung zugegangen. Der Entwurf hat folgenden Wortlaut: § 1. Die Volksschulen sind Gemeinschaftsschule n, soweit sie nicht nach näherer Bestimmung dieses Gesetzes Bekenntnisschulen oder bekenntnisfreie Schulen bleiben oder werden. Die bekenntnisfreien Schulen sind entweder weltliche Schulen oder Weltanschauungsschulen.
§ 2. Die Gemeinschaftsschule steht grundsätzlich allen Schülern offen. In ihr ist Religionsunterricht im Sinne des Artikels 149 Absatz 1 der Reichsverfassung ordentliches Lehrfach nach näheren Bestimmungen des Landesrechts.
Zur Ermöglichung eines Privatunterrichts in einem Bekenntnis oder eines privaten bekenntnisfreien Religions- oder Moralunterrichts sind, falls in diesen Fächern die Schule keinen lehrplanmäßigen Unterricht erteilt, Schulräume nebst Heizung und Beleuchtung bereitzustellen; die Wünsche der Beteiligten sollen nach Möglichkeit berücksichtigt werden. Die Voraussetzungen und den Umfang der Bereitstellung bestimmt das Landesrecht.
Die Zugehörigkeit zu einem Bekenntnis ist nicht Voraussetzung für die Anstellung der Lehrer. Jedoch ist hierbei auf die religiöse Gliederung der Schüler nach Möglichkeit Rücksicht zu nehmen.
§ 3. Volksschulen eines bestimmten Bekenntnisses.
Bekenntnisschulen,
sind zulässig, wenn zur gemeinschaftlichen Pflege des Bekenntnisses eine Körperschaft des öffentlichen Rechts besteht.
Für die Bekenntnisschule gelten folgende Bestimmungen:
1. Sie dienen grundsätzlich zur Aufnahme von Schülern eines bestimmten Bekenntnisses. Die Schule verliert ihre Eigenschaft als Bekenntnisschule nicht dadurch, daß nach näherer Bestimmung des Landesrechts auch andere Schüler aufgenommen werden oder solchen in ihrem Bekenntnis lehrplanmäßiger Religionsunterricht erteilt wird. § 2 Absatz 2 findet Anwendung. 2. Die Lehrer müssen dem Bekenntnisse angehören, für das die Schule bestimmt ist. Ausnahmen sind aus besonderen Gründen zulässig. Das Landesrecht bestimmt das Nähere. 3. Dem Unterrichte sind die allgemein bestehenden Lehrpläne und die allgemeinen Lehrbücher zugrunde zu legen, jedoch können die Lehrbücher der Eigenart des Bekenntnisses angepaßt sein. 4. Die bekenntnisüblichen Religionsübungen und Gebräuche sind unbeschadet der Bestimmung des Artikels 149 Absatz 2 der Reichsverfassung zuzulassen; indessen darf der Unterrichtsbetrieb im ganzen dadurch nicht beeinträchtigt werden. § 4
Bekenntnisfreie (weltliche oder Weltanschauungs- ) Schulen
sind die Volksschulen, die Religionsunterricht im Sinne des Artikels 149 Absatz 1 der Reichsverfassung nicht erteilen.
Für die weltliche Schule gelten folgende Bestimmungen:
1. Sie steht allen Schülern offen. § 2 Absatz 2 findet Anwendung. 2. Angehörige jeden Bekenntnisses und jeder Weltanschauung können als Lehrer angestellt werden. 3. Dem Unterrichte sind die allgemein bestehenden Lehrpläne und die allgemein gebrauchten Lehrbücher zugrundezulegen [sic], jedoch können die Lehrbücher der Art der Schule angepaßt sein.
Schulen einer Weltanschauung, deren gemeinschaftliche Pflege sich eine der im Artikel 137 Absatz 7 der Reichsverfassung erwähnten Vereinigungen zur Aufgabe macht (Weltanschauungsschulen) können eingerichtet werden, wenn der Vereinigung nach Maßgabe des Artikels 137 Absatz 5, 7 der Reichsverfassung die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gewährt sind. Die nähere Gestaltung solcher Schulen bleibt landesrechtlichen Verhandlungen überlassen.
§ 5. Unter Gemeinden im Sinne des Artikels 146 Absatz 2 der Reichsverfassung und im Sinne dieses Gesetzes sind die öffentlichen Verbände zu verstehen, die zur Errichtung und Unterhaltung der öffentlichen Volksschule für die ihnen zugewiesenen Einwohner bestimmt sind.
§ 6. Innerhalb einer Gemeinde sind zur Stellung eines Antrages auf Einrichtung von Bekenntnisschulen oder bekenntnisfreier Schulen befugt die im Sinne des bürgerlichen Rechts Erziehungsberechtigten volksschulpflichtiger die Volksschule besuchender Kinder, soweit sie im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte und der deutschen Staatsangehörigkeit sind. Neben dem Vater hat die Mutter das Antragsrecht. Für das Gewicht der Willenserklärung ist die Zahl der Kinder maßgebend. Die Erziehungsberechtigten können die Einrichtung von Schulen eines Bekenntnisses beantragen, dem sie selbst nicht angehören.
Die Landesgesetzgebung bestimmt, in welcher Gemeinde das Antragsrecht solcher Erziehungsberechigter [sic] ausgeübt wird, deren Kinder die Volksschule nicht am Wohnort oder in Ermangelung eines Wohnortes am gewöhnlichen Aufenthaltsorte des Erziehungsberechtigten besuchen.
Die Landesgesetzgebung kann Bestimmungen treffen über die Übertragung des Antragsrechts der Erziehungsberechtigten auf die Vorstände von Erziehungsanstalten und solche Personen, die fremde Kinder in Pflege haben.
Wann ein rechtswirksamer Antrag vorliegt, bestimmt das Landesrecht; dieses kann insbesondere bestimmen, daß ein Antrag auf Einrichtung von Bekenntnisschulen oder bekenntnisfreien Schulen nur dann wirksam ist, wenn er von einer Mindestzahl von Antragsberechtigten gestellt ist.
§ 7. Wird ein rechtswirksamer Antrag auf Einrichtung von Bekenntnisschulen oder bekenntnisfreien Schulen gestellt, so findet ein befristetes Anmeldungsverfahren für die beantragten Schularten statt.
§ 8. Die Länder bestimmen, innerhalb welcher regelmäßig wiederkehrenden Zeiträume Anträge auf Neueinrichtung von Bekenntnisschulen oder bekenntnisfreien Schulen gestellt oder wiederholt werden können.
Jedesmal zu Beginn dieses Zeitraumes ist beim Vorliegen eines solchen Antrages innerhalb der Gemeinde, in denen keine Gemeinschaftsschule besteht, Gelegenheit zur Anmeldung der Kinder für die Gemeinschaftsschule zu geben. Dasselbe gilt auch ohne Vorliegen eines Antrages, wenn mindestens 25 Antragsberechtigte (§ 6), in Gemeinden mit weniger als 250 Antragsberechtigten mindestens ein Zehntel derselben, dieses verlangen.
Auch innerhalb dieser Zeiträume können nach mehreren Bestimmungen des Landesrechts Gemeinschaftsschulen und aus besonderen Gründen auf Antrag Bekenntnisschulen und bekenntnisfreie Schulen neu eingerichtet werden.
§ 9. Die Einrichtung oder Beibehaltung einer beantragten Schule beeinträchtigt einen geordneten Schulbetrieb im Sinne des Artikels 146 Absatz 2 der Reichsverfassung nicht schon dann, wenn die beantragte Schule selbst wegen ihrer Schülerzahl die in der betreffenden Gemeinde übliche Klassengliederung nicht erreichen könnte. Dagegen ist eine solche Beeinträchtigung dann als vorliegend anzusehen, wenn durch die Einrichtung oder Beibehaltung der beantragten Schule die in der Gemeinde erreichte Höhe der gesamten Schulorganisation erheblich herabgesetzt, oder die Verwirklichung der in den Gemeinden der betreffenden Art an die Gliederung des Schulwesens billiger Weise zu stellenden Anforderungen verhindert würde.
Im übrigen bestimmen sich die Voraussetzungen, unter denen die Einrichtung oder Beibehaltung einer Bekenntnisschule oder bekenntnisfreien Schule mit einem geordneten Schulbetrieb (Artikel 146 Absatz 2 der Reichsverfassung) als vereinbar zu erachten ist, sowie die Voraussetzungen für die Einrichtung oder Beibehaltung einer Gemeinschaftsschule nach Landesrecht.
§ 10. Hilfsschulen oder Hilfsklassen, sowie Förder- und Begabtenklassen können als bekenntnismäßige oder bekenntnisfreie eingerichtet oder beibehalten werden, wenn dies nach Lage der örtlichen Verhältnisse zwckmäßig [sic] erscheint.
Zu § 11 liegt eine Regierungsvorlage und Beschlüsse des Reichsrats vor.
Die Regierungsvorlage besagt: Das Landesrecht bestimmt die Stellen, die prüfen und entscheiden, ob und inwieweit die Einrichtung oder Beibehaltung beantragter Schulen nach § 9 als mit einem geordneten Schulbetrieb vereinbar anzusehen ist. Das Landesrecht hat jedem Antragsteller ein verwaltungsgerichtliches Verfahren zu eröffnen, in dem er die Ablehnung des Antrages anfechten kann. Über die Frage, ob die Ablehnung des Antrages der Reichsverfassung oder Bestimmungen dieses Gesetzes zuwiderläuft, entscheidet im
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letzten Rechtszug bei Rechtsbeschwerden das Reichsverwaltungsgericht; bis zur Einrichtung dieses Gerichts steht die Entscheidung im letzten Rechtszug dem Obersten Verwaltungsgericht der Länder zu.
Die Beschlüsse des Reichsrats lauten: Das Landesrecht bestimmt die Stellen, die prüfen und entscheiden, ob und inwieweit die Einrichtung oder Beibehaltung beantragter Schulen nach § 9 als mit einem geordneten Schulbetrieb vereinbar anzusehen ist. Das Landesrecht hat jedem Antragsteller ein verwaltungsgerichtliches Verfahren zu eröffnen, in dem er die Ablehnung des Antrages anfechten kann.
§ 12. Die Länder haben die zur Ausführung dieses Gesetzes erforderlichen landesrechtlichen Bestimmungen so rechtzeitig zu erlassen, daß die Anträge gemäß Artikel 146 Absatz 2 der Reichsverfassung erstmalig binnen 18 Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes gestellt werden können.
§ 13. Bei den erstmaligen Antragsverfahren gilt die Beibehaltung bestehender Bekenntnisschulen im Sinne des § 3 Absatz 1 oder bekenntnisfreier Schulen ohne weitere Voraussetzung als im Sinne des § 7 beantragt.
Wird die Neueinrichtung einer Schule beantragt, oder gilt ein Antrag nach Absatz 1 als gestellt, so ist das Anmeldeverfahren (§ 7) auch auf die Gemeinschaftsschule zu erstrecken. Nicht angemeldete Kinder gelten als für die Schule angemeldet, die sie besuchen.
§ 14. Bestehende, nach Bekenntnissen nicht getrennte Volksschulen mit Religionsunterricht gelten als Gemeinschaftsschulen und sind unverzüglich nach den Vorschriften des § 2 einzurichten. Auf bestehende Bekenntnisschulen findet die Bestimmung des § 3 Anwendung, soweit diese Schulen auf Grund dieses Gesetzes bestehen bleiben. Mit der gleichen Maßgabe ist § 4 Absatz 2 auf bestehende Volksschulen ohne Religionsunterricht anzuwenden. Unbeschadet der Vorschrift des Absatzes 1 ist die Neugestaltung des Volksschulwesens einer Gemeinde nach den Vorschriften dieses Gesetzes erst möglich, sobald über alle rechtswirksam gestellten Anträge endgültig entschieden ist, oder sobald festgestellt ist, daß ein rechtswirksamer Antrag nicht vorliegt.
§ 15. In den Ländern Baden und Hessen sowie in dem ehemaligen Herzogtum Nassau bleiben die dort gesetzlich bestehenden nach Bekenntnissen nicht getrennten Volksschulen bis auf weiteres erhalten. Doch kann auf diesem Gebiet jederzeit durch die Landesgesetzgebung die Durchführung dieses Gesetzes angeordnet werden.
§ 16. Auf die für den Unterricht und die Erziehung blinder, taubstummer, schwerhöriger, sprachleidender, schwachsinniger, krankhaft veranlagter, sittlich gefährdeter oder verkrüppelter Kinder bestimmten Anstalten und Schulen finden die Vorschriften dieses Gesetzes keine Anwendung.
Der Reichsrat hat doch noch einen § 17 hinzugefügt: Die Mehrkosten, die den Ländern und Gemeinden aus der Durchführung des Artikels 146 der Reichsverfassung und dieses Gesetzes entstehen, werden in Höhe von zwei Dritteln vom Reich erstattet.
Empfohlene Zitierweise
Anlage vom 28. April 1921, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 3863, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/3863. Letzter Zugriff am: 29.03.2024.
Online seit 14.05.2013, letzte Änderung am 24.10.2013.