Dokument-Nr. 4438

Auswärtiges Amt: [Kein Betreff]. Berlin, 04. Dezember 1923

Der Deutsche Botschafter beim Vatikan ist beauftragt worden, die Vermittelung Seiner Heiligkeit des Papstes bei der Französischen und Belgischen Regierung zu Gunsten der deutschen Ruhrgefangenen und der in Zusammenhang mit der Ruhraktion Ausgewiesenen in folgender Richtung zu erbitten:
I. Zu Gunsten der in St. Martin de Ré im Dépôt des Forçats befindlichen Gefangenen, auf die sich der Bericht des Legationssekretärs von Rintelen bezieht:
a) Für das bevorstehende Weihnachtsfest die Erlaubnis zu einem gemeinsamen Zusammensein der Deutschen für wenige Stunden, so dass sie auf diese Weise zum ersten Mal wieder ihr Schweigen brechen können;
b) Berücksichtigung der Motive ihrer Straftaten in der Art der Vollstreckung der Strafe, insbesondere also eine strenge Sonderung von den gemeinen Verbrechern;
c) Abbeförderung aus St. Martin de Ré, um ihnen die ständige Bedrohung mit einer Verschickung nach den Strafkolonien zu nehmen;
d) Abbeförderung in deutsche Gefängnisse im besetzen Gebiet, wodurch sie die Möglichkeit erhalten würden, wieder von Zeit zu Zeit, wie alle übrigen Gefangenen, einen Besuch der Angehörigen zu erhalten.
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II. Zu Gunsten der etwa 2.500 Gefangenen, die sich noch auf Grund von Urteilen französischer und belgischer Militärgerichte im besetzten Gebiet, aber auch in geringerer Anzahl in Gefängnissen auf belgischem Boden befinden, eine grosszügige Gnadenaktion. Bisher sind trotz restloser Einstellung des passiven Widerstands, die auch vom französischen Herrn Ministerpräsidenten in öffentlicher Rede anerkannt worden ist, nur einige wenige Persönlichkeiten aus den Gefängnissen entlassen worden, deren die Franzosen und Belgier zur Wiederingangsetzung des wirtschaftlichen Lebens im Kohlenrevier in ihrem eigenen Interesse bedurften. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass selbst von französischer Seite wiederholt anerkannt worden ist, dass die französische Kriegsgerichtsbarkeit während des Ruhrkonfliktes eine Zweckjustiz gewesen ist, deren Tendenz sich jeder Veränderung der politischen Situation angepasst hat, wodurch sich die gewaltigen Unterschiede in der Höhe und der Art des Strafmasses auch bei gleichgelagerten Fällen erklären. Die Gerichte haben bei der Verurteilung selbst nicht damit gerechnet, dass die Strafen in voller Höhe vollstreckt werden würden, sondern haben wiederholt ihrer Annahme Ausdruck gegeben, dass die Strafen ihr natürliches Ende in dem Augenblick der Einstellung der passiven Widerstandes finden würden.
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Besonders wichtig erscheint eine der Gerechtigkeit und Menschlichkeit entsprechende Festlegung der Unterschiede zwischen politischen Verbrechen und Verbrechen gemeinen Rechts, die auf Seiten der Belgier und Franzosen rein formalistisch vorgenommen werden. Hierbei dürften vor allen Dingen die Motive der Tat zu berücksichtigen sein, ob sie aus Eigennützigkeit und Gewinnsucht oder aus edelen Beweggründen vorgenommen worden sind.
III. Zu Gunsten der Ausgewiesenen.
Die Gesamtzahl der Ausgewiesenen beträgt 147.000 Personen. Noch nach Einstellung des passiven Widerstandes sind 7.000 Personen ausgewiesen worden. Bei der furchtbaren Wohnungsnot in Deutschland bedeutet dies, dass all diese Personen jetzt heimatlos sind und noch kein eigenes Familienleben wieder führen können.
Die Deutschen Missionen in den hauptsächlichsten neutralen Ländern sind beauftragt worden, den dortigen Regierungen Kenntnis unserer Demarche beim Päpstlichen Stuhle zu geben und hierbei zu bemerken, dass wir, falls diese Regierungen sich zu einem gleichen Schritt bei der Französischen und Belgischen Regierung entschliessen wollten, dies von der Deutschen Regierung und dem deutschen Volke dankbar aufgenommen werden würde.
Empfohlene Zitierweise
Auswärtiges Amt, [Kein Betreff], Berlin vom 04. Dezember 1923, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 4438, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/4438. Letzter Zugriff am: 28.03.2024.
Online seit 24.10.2013, letzte Änderung am 18.09.2015.