Dokument-Nr. 7768

Pacelli, Eugenio: [Pacelli-Punktation II]. [Berlin], 15. November 1921

I.
Die Kirche übt ihre Gewalt unabhängig von der Zivilbehörde aus; insbesondere ist sie unabhängig und frei:
1.) in der Darlegung und der Verkündigung der katholischen Lehre;
2.) in der Abhaltung des Gottesdienstes und sonstiger religiöser Uebungen wie Prozessionen, Wallfahrten, Volksmissionen, geistlicher Exerzitien; usw.;
3.) in der Spendung der Sakramente und Sakramentalien einschliesslich der Einsegnung der Ehe, welche auch vor dem Zivilakte stattfinden kann;
4.) in der Ausübung der kirchlichen Gesetzgebungsgewalt, in der Einrichtung der kirchlichen Verwaltung, in der Ausübung der kirchlichen Gerichtsbarkeit und Strafgewalt;
5.) in der Errichtung, Aenderung und Aufhebung der kirchlichen Aemter, Benefizien und Amtsbezirke;
6.) in Erwerb, Verwaltung und Verwendung des kirchlichen Vermögens;
7.) in der Errichtung religiöser Orden und Vereine;
8.) in der Ausübung der kirchlichen Caritas;
9.) in der Einführung und Erhaltung eigener Begräbnisstätten.
II.
Der Staat anerkennt die katholische Kirche und ihre Institute (Bischofssitze, Kapitel, Seminare, Pfarreien usw.) als Körperschaften und juristische Personen des öffentlichen Rechtes mit den daraus sich ergebenden Rechten.
Die kirchlichen Amtspersonen geniessen grundsätzlich die den öffentlichen Beamten zustehenden Vorrechte. Sie leisten dem Staate keinen Diensteid.
III.
Die Kirche hat das volle und freie Besetzungsrecht für alle
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Kirchenämter und Benefizien ohne Mitwirkung des Staates oder der Gemeinden. Das Privatpatronatsrecht bleibt aufrecht erhalten, soweit es nach den kanonischen Bestimmungen noch zu recht besteht.
IV.
In Ausübung ihres Amtes geniessen die Geistlichen den Schutz des Staates, der Verunglimpfungen ihrer Person und Störungen ihrer Amtshandlungen nicht zulässt und etwaige Vergehen ahndet. Kleriker und Religiosen sind frei von der Uebernahme des Geschworenen- und Schöffenamtes bei den staatlichen Gerichten.
V.
Die Errichtung, Leitung und Verwaltung der Priester- und Knabenseminarien sowie der Konvikte steht unabhängig von der Zivilgewalt ausschließlich der kirchlichen Behörde zu. Die mit den Knabenseminarien verbundenen Gymnasien haben die Berechtigungen der öffentlichen Gymnasien, falls sie die für Anstalten gleicher Art geltenden lehrplanmässigen Vorbedingungen im wesentlichen erfüllen.
Die Kirche hat das Recht zur Ausbildung des Klerus philosophische und theologische Lehranstalten zu errichten, welche ausschliesslich von der katholischen Behörde abhängen. Die Ernennung oder Zulassung der Professoren und Dozenten an den theologischen Fakultäten der Universitäten wird staatlicherseits erst erfolgen, wenn die in Aussicht genommenen Kandidaten von dem zuständigen Diözesanbischof die kanonische Bestätigung erhalten haben.
Sollte einem der genannten Professoren oder Dozenten von dem Diözesanbischofe wegen seiner Lehre oder seines sittlichen Verhaltens auf Grund eines kanonischen Straf- oder Verwaltungsverfahrens die erteilte Bestätigung entzogen werden, so wird ihn
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die Staatsregierung seines Lehramtes bezw. Lehrauftrages entheben und nach Massgabe des Abs. 3 Ziffer V für Ersatz sorgen. Aufnahmebestimmungen, Studienprogramm und Unterricht an den theologischen Fakultäten sind so einzurichten, wie es den Vorschriften des kanonischen Rechtes und den Bedürfnissen der Kandidaten des Priesterstandes entspricht. Der Bischof hat das Recht, sich hierüber in geeigneter Weise zu vergewissern. An denjenigen Universitäten, an welchen eine katholisch-theologische Fakultät besteht oder nachträglich errichtet werden sollte, wird in der philosophischen Fakultät wenigstens ein Professor der Philosophie und der Geschichte angestellt, der nach dem Urteil des Diözesanbischofs auf katholisch kirchlichem Standpunkt steht.
VI.
Der Religionsunterricht ist in allen Mittelschulen, Gymnasien und anderen Mittleren und höheren Lehranstalten ordentliches Lehrfach.
Bei der Bestellung von Religionslehrern an den mittleren und höheren Lehranstalten findet Verständigung zwischen dem Bischof, der dieselben benennt, und der Regierung statt. Jene, welche der Diözesanbischof auf Grund ihrer Lehre oder ihrer sittlichen Führung zur Fortführung ihres Lehramtes für unfähig oder ungeeignet erklärt, werden Ihres Amtes enthoben.
VII.
Der Staat sorgt für eine genügende Anzahl von katholischen Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten, deren Besuch für die Lehrer und Lehrerinnen, welche an katholischen Schulen angestellt werden wollen, verpflichtend ist. Zur Beurteilung der Eignung für die Erteilung des Religionsunterrichtes bezw. Anstellung an konfessionellen Schulen wird der Kirche das Recht eingeräumt, an der
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Prüfung der Lehramtskandidaten mitzuwirken bezw. Kommissare zu entsenden.
Die privaten Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten sind den staatlichen gleichgestellt, wenn sie die für letztere geltenden unterrichtlichen Vorbedingungen im wesentlichen erfüllen. Betreffs der Zulassung zum Lehramte und der Anstellung an Volksschulen oder mittleren und höheren Lehranstalten gelten für Angehörige von Orden oder religiösen Kongregationen keine anderen Vorbedingungen als für Laien.
VIII.
In allen Gemeinden, in denen Eltern oder sonstige Erziehungsberechtigte es beantragen, müssen katholische Volksschulen errichtet werden, wenn die Zahl der dafür angemeldeten Schüler einen geordneten Schulbetrieb wenigstens in einfacher Form ermöglicht.
IX.
In den Volksschulen bleibt der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach. Stundenplan und Lehrplan dieses Religionsunterrichtes werden im Einvernehmen mit der kirchlichen Oberbehörde festgesetzt. Für diese Festsetzung ist im wesentlichen der derzeitige Stand massgebend. In jenen Volksschulen, in welchen nach den zur Zeit geltenden Bestimmungen Religionsunterricht nicht ordentliches Lehrfach ist, wird wenigstens die Erteilung eines privaten Religionsunterrichtes durch die Bereitstellung der Schulräume, sowie durch Beheizung und Beleuchtung derselben aus staatlichen oder gemeindlichen Mitteln sichergestellt.
Den Schülern der Volksschulen, Mittelschulen und höheren Lehranstalten wird im Benehmen mit den kirchlichen Behörden geeignete und ausreichende Gelegenheit zur Erfüllung ihrer religiösen Pflichten gegeben.
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X.
Die Beaufsichtigung und Leitung des Religionsunterrichtes an den Volksschulen, Mittelschulen und höheren Lehranstalten steht der Kirche zu, welche dieselbe durch die von ihr bestellten Organe ausübt. Weiterhin wählt die Kirche nach Benehmen mit der Regierung die Religionslehrbücher aus.
Dem Bischof und seinen Beauftragten steht das Recht zu, Missstände im religiös-sittlichen Leben der katholischen Schüler wie auch nachteilige oder ungehörige Beeinflussung der katholischen Schüler in der Schule, insbesondere etwaige Verletzungen ihrer Glaubensüberzeugung oder ihrer religiösen Empfindungen im Unterrichte bei der staatlichen Aufsichtsbehörde zu beanstanden, die für entsprechende Abhilfe Sorge tragen wird.
Der Staat wird dafür Sorge tragen, dass an konfessionellen Schulen nur solche Lehrer angestellt werden, welche nach dem Urteile des Bischofs geeignet und willens sind, den Religionsunterricht zu erteilen.
Die Lehrer, welche an konfessionellen Schulen die Erteilung des Religionsunterrichtes ablehnen oder nachweislich von der Uebereinstimmung mit der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre abweichen, sind auf Beschwerde der Kirche oder der Erziehungsberechtigten im Interesse des Dienstes zu versetzen.
XI.
Orden und religiöse Kongregationen sind unter den allgemeinen gesetzlichen Bedingungen zur Gründung und Führung von Privatschulen berechtigt. Diese Privatschulen geben die gleichen Berechtigungen wie die staatlichen Schulen, soweit sie die lehrplanmässigen Vorschriften für letztere im wesentlichen erfüllen.
XII.
In den Schulverwaltungsorganen erhält die Kirche gesetzlich eine stimmberechtigte Vertretung.
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XIII.
Für das Heer, die Straf-, Fürsorge- und Pflegeanstalten sowie die Krankenhäuser und ähnliche öffentliche Anstalten wird eine regelmässige Seelsorge eingerichtet, für die der Diözesanbischof eine entsprechende Anzahl von Geistlichen anstellt. Soweit es sich um staatliche oder vom Staate unterstützte Anstalten handelt, sorgt der Staat für Bereitstellung der für die Abhaltung des Gottesdienstes und die Seelsorge notwendigen Mittel.
XIV.
Der Staat verpflichtet sich, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit erlassenen Anordnungen und Urteile der kirchlichen Behörden anzuerkennen und zu ihrer Ausführung im Bedarfsfalle seine Unterstützung zu gewähren, wenn dieselbe erbeten wird.
XV.
Orden und religiöse Genossenschaften können frei gegründet werden und unterliegen von Seiten des Staates keiner Beschränkung in Bezug auf ihre Niederlassungen sowie die Zahl und die Eigenschaften ihrer Mitglieder. Soweit sie bisher die Rechte einer juristischen Person besessen, bleiben ihnen dieselben gewahrt; die übrigen erlangen die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen. Ihr Eigentum und ihre andern Rechte werden ihnen gewährleistet. Sie verwalten ihr Vermögen und ordnen ihre Angelegenheiten unabhängig vom Staate.
Ihre Tätigkeit in der Seelsorge, im Unterricht, in der Pflege der Kranken und in den Werken der Caritas ist frei.
XVI.
Der Staat wird seinen auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden vermögensrechtlichen Verpflichtungen gegen die katholische Kirche auch fernerhin nachkommen. Als solche Rechtstitel werden unter anderen ausdrücklich aufgeführt das Herkommen,
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die Pflichten, welche auf den ehemals vom Staat säkularisierten Gütern ruhen, die vom Reichsdeputationshauptschluss anerkannten vermögensrechtlichen Verpflichtungen, die Circumscriptionsbullen und die auf späteren Gesetzen und Uebereinkommen fussenden Leistungen. Bei der Ablösung aller dieser Leistungen wird der Staat dem veränderten Geldwerte und den tatsächlichen Bedürfnissen Rechnung tragen. Ueberdies werden auch jene in den Circumscriptionsbullen festgelegten Verpflichtungen berücksichtigt, die der Staat bisher nicht oder nur ungenügend erfüllt hat. Den auf Grund des Art. 138 der Reichsverfassung zu erlassenden Reichs- und Landesgesetzgebungen muss betreffs der kirchlichen Ansprüche eine Vereinbarung mit dem Heiligen Stuhle vorangehen. Privatrechtliche Verpflichtungen bleiben aufrecht erhalten u. werden nicht abgelöst.
XVII.
Die staatlichen Gebäude und Grundstücke, die zur Zeit unmittelbar oder mittelbar kirchlichen Zwecken einschliesslich der Klösterlichen dienen, werden der Kirche kostenlos zur dauernden und uneingeschränkten Benutzung überlassen. Der Staat wird der ihm obliegenden Baupflicht im bisherigen Umfang auch fernerhin nachkommen und im Bedarfsfalle auch für notwendige Neubauten aufkommen.
XVIII.
Der Kirche bleiben für immer ihr Eigentum und ihre Vermögensrechte gesichert. Sie verfügt frei über ihr Vermögen.
XIX.
Die Kirche hat das Recht, Steuern zu erheben. Der Staat wird diese Steuern gemeinsam mit den staatlichen gegen eine mässige Vergütung ergeben.
XX.
Der Staat verpflichtet sich, alle bisher erlassenen und noch in Kraft befindlichen Gesetze, Verordnungen u. Verfügungen, soweit sie den obigen Artikeln entgegenstehen, aufzuheben.
Empfohlene Zitierweise
Pacelli, Eugenio, [Pacelli-Punktation II], [Berlin] vom 15. November 1921, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 7768, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/7768. Letzter Zugriff am: 20.04.2024.
Online seit 14.05.2013.