Dokument-Nr. 8541
Hartmann, Felix von an Pacelli, Eugenio
Köln, 12. Mai 1919

Euerer Exzellenz
bitte ich ganz ergebenst, folgendes unterbreiten zu dürfen. Es kommt aus einem Herzen, das ebenso voll ist von treuer Liebe zum Apostolischen Stuhle und zum heiligen Vater, wie auch von Sorgen für die katholische Kirche in Deutschland.
Die Entente hat im verflossenen Jahre das deutsche Volk sechs volle Wochen auf den in loyaler Gesinnung erbetenen Waffenstillstand warten lassen; viele Tausende sind durch dieses Zuwarten in den Tod geschickt worden. Für die Vorlage des Präliminarfriedens hat sich die Entente fast ein halbes Jahr Zeit genommen, trotzdem längst eine konsolidierte Regierung an die Spitze des deutschen Volkes getreten war. Die Lebensmittel-Blockade blieb für das unbesetzte Deutschland bis vor kurzer Zeit lücken-
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los aufrecht erhalten, trotz der notorischen größten Not besonders unter den Kindern und Kranken in den Städten, von denen Tausende und Abertausende wegen ungenügender Ernährung in den letzten Monaten dem Tode verfallen sind. Rohstoffe für die verarbeitende Industrie dürfen noch immer nicht nach Deutschland hinein, trotzdem die Arbeit in den verschiedenen Industriezweigen das einzige Mittel wäre, die vielseitige Not in Deutschland zu mindern.
Die deutschen Gefangenen werden von der Entente zurückgehalten und nach eingehenden Berichten nicht nur schlecht, sondern geradezu grausam behandelt, seitdem die Angehörigen der Entente in ihre Heimat entlassen sind, und die deutsche Regierung infolgedessen keine Repressalien mehr üben kann.
Als Bekrönung von alledem verlangt die Entente nunmehr von Deutschland die Unterzeichnung eines Friedensvertrages, der das deutsche Volk auf Jahrzehnte und Jahrhunderte hinaus zum Sklaven der ganzen Welt machen soll.
Gewiss, Deutschland hat den Krieg verloren und ist auch bereit, die Folgen eines verlorenen Krieges
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zu tragen. Aber das deutsche Volk empfindet es als grausames Unrecht, durch einen Friedensvertrag, der vorgeblich auch dem "Fortschritt der Menschheit" dienen soll, völlig vernichtet zu werden.
Das deutsche Volk fühlt sich nicht schuldig für den Weltkrieg. Der vernünftige Teil des deutschen Volkes sieht es als ein himmelschreiendes Unrecht an, dass der deutsche Kaiser, der stets ein Hort des Friedens war, mit seinen Beratern vor einen Gerichtshof der Feinde Deutschlands gestellt werden soll. Man fragt, warum dann nicht auch die Monarchen und Führer der Entente vor ein Gericht gezogen werden sollen.
Sehr verehrte Exzellenz! Diese Tatsachen und Stimmungen werden von kirchenfeindlichen Elementen ausgenutzt. Sie behaupten, dass der heilige Vater früher, als Deutschlands Macht noch groß dastand, stets zu Ungunsten Deutschlands als Wächter der Gerechtigkeit aufgetreten sei. Sie erinnern an das Wort des Papstes im Consistorium am 4. Dezember 1916: "Ich verurteile von neuem alles in diesem Kriege geschehene Unrecht, wo und von wem es auch geschehe";
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sie erinnern an die Päpstliche Friedensnote vom 1. August 1917, in der der heilige Vater von den Völkern fordert "den Geist der Billigkeit und Gerechtigkeit", "die moralische Kraft des Rechtes müsse treten an die Stelle der materiellen Kraft der Waffen". Sie sagen, der Papst habe lediglich Deutschland, als es noch auf der Höhe seiner Kraft war, mäßigen und hemmen wollen, um die Völker der Entente vor der Vernichtung zu bewahren.
Infolgedessen hat sich allmählich auch der braven deutschen Katholiken eine gewisse Unruhe bemächtigt; sie wissen sich der Angriffe jener nicht zu erwehren, die sie fragen, warum denn der heilige Vater jetzt nicht gegen das Unrecht protestiere, das seit Monaten dem deutschen Volke zugefügt werde.
Selbst das Schreiben des heiligen Vaters vom 10. März 1919, in dem Seine Heiligkeit in so liebevoller Weise mir Mitteilung machten von der väterlichen Teilnahme an dem Schicksal der deutschen Gefangenen, und das ich nicht verfehlt habe, sofort zu publizieren, hat nur vorübergehend einige Beruhigung gebracht. Dagegen wurde die Missstimmung
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noch vergrößert durch eine in der Kölnischen Zeitung vor einigen Wochen wiedergegebene angebliche Äußerung des heiligen Vaters, "er, der von Herzen stets Franzose gewesen sei, bedaure es, nicht auch von Geburt zu sein".
Unter diesen Umständen fürchte ich sehr für die Zukunft. Auch einen großen Teil der deutschen Katholiken wird die allgemeine Verzweiflung ergreifen. Sie werden, wenn sie selbst vom Statthalter Christi keine wirkliche Verurteilung des dem deutschen Volke angetanen und noch drohenden Unrechts hören, an ihrem Glauben irre werden. Religiöser und sittlicher Bolschewismus wird das katholische Glaubensleben in Deutschland aufs schwerste beeinträchtigen.
Ich verkenne keinen Augenblick, dass es für den heiligen Vater äußerst schwer ist, sich über das deutsche Volk ein richtiges Bild zu machen, weil die deutschen Bischöfe seit Jahren nicht nach Rom reisen konnten, und die diplomatischen Beziehungen teils völlig aufgehört, teils in hohem Grade erschwert sind. Deshalb würde ich es sehr
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begrüßen, wenn Euere Exzellenz die Güte hätten, dem heiligen Vater in einer Ihnen geeignet erscheinenden Form, von den geschilderten Zuständen und Stimmungen Kenntnis zu geben, Ihm dabei aber beteuerten, dass nicht Mangel an treuer Liebe und Ergebenheit gegen Seine erhabene Person Veranlassung zu diesen Darlegungen gegeben habe, sondern im Gegenteil das unbegrenzte Vertrauen, welches ich gegen den heiligen Vater im Herzen trüge, mich angetrieben habe, an seinen Stellvertreter in deutschen Landen dieses rückhaltlos offene Schreiben zu richten.
Die Bischöfe der Fuldaer Bischofskonferenz würden diesem Schreiben ohne Zweifel ausdrücklich beigetreten sein, wenn die große Dringlichkeit der Angelegenheit und die schlechten Verkehrsverhältnisse es mir gestattet hätten, mich mit ihnen ins Einvernehmen zu setzen. Dabei sind sie aber alle – wie ich Euerer Exzellenz nicht erst zu versichern brauche – von der gleichen kindlichen Liebe und Ergebenheit gegen das Oberhaupt der Kirche erfüllt, wie der Unterzeich-
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nete, der in größter Verehrung verharrt als
Euerer Exzellenz
dankbar ergebenster
Felix Card. von Hartmann.
25r, oberer rechter Seitenrand über Datum, hds. hinzugefügt: "Allegato al Rapporto del 23 Maggio 1919".
Empfohlene Zitierweise
Hartmann, Felix von an Pacelli, Eugenio vom 12. Mai 1919, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 8541, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/8541. Letzter Zugriff am: 19.04.2024.
Online seit 04.06.2012.