Dokument-Nr. 8722

Vertreter des litauischen Volkes: Eine litauische Gegenschrift Seiner Excellenz dem Herrn Reichkanzler des Deutschen Reiches. Denkschrift der Vertreter des litauischen Volkes betreffend die Eingabe aller polnischen Richtungen Litauens über die staatliche Vereinigung Litauens und Polen, 10. Juli 1917

Eure Excellenz,
werden um Gehör für folgende Darlegungen gebeten:
In Nr. 5 des in Wilna im Monat Mai des Jahres 1917 gedruckten und allenthalben verbreiteten "Builetyn Wileński" findet sich eine Eingabe der "Vertreter aller polnischen Richtungen Litauens" an den Herrn Reichskanzler, in der diese erklären, dass sie eine staatliche Vereinigung Litauens mit Polen erstreben und erstreben werden.
Die unterzeichneten Vertreter des litauischen Volkes würden diese polnische Eingabe lediglich als einen neuen Beweis für den längst auch in Deutschland erkannten aggressiven Charakter des neupolnischen Imperialismus bewerten, verriete sie nicht das Bestreben, durch Verschleierung und Verschiebung der Tatsache die deutsche Regierung dafür zu gewinnen, das litauische Volk für alle Zukunft den polonisatorischen Ausdehnungsgelüsten zu überantworten.
In erster Linie ist es nötig, den Begriff "Litauen" klarzustellen. Die polnische Eingabe versteht darunter das ganze von den Deutschen besetzte Gebiet des ehemaligen Großfürstentums Litauen, das nach ihrer Behauptung geographisch, ökonomisch religiös-kulturell eine Einheit bildet. Sollte in dem Gebiet, dem scharfe Landesscheiden durchaus fehlen, von geographischer Einheit gesprochen werden, so konnte sie nur in seinem Nordteil, dem von Litauern bewohnten Stromgebiet der Memel, gefunden werden. Die ökonomische Einheit des besetzten Gebietes beschränkt sich lediglich auf die wirtschaftliche Rückständigkeit, die alle unter den Einfluss slawischer Kultur geratenen Landschaften im Gegensatz zu Ostpreußen und Kurland aufweisen.
Wie man angesichts des starken orthodoxen Keiles, der sich zwischen den katholischen Norden und den katholischen Südwesten hineinschiebt, von religiöskultureller Einheit sprechen kann, ist unbegreiflich. Nimmt man hinzu, dass das geschlossene litauische Sprachgebiet im Norden von dem geschlossenen polnischen Gebiet im Südwesten durch einen breiten weiß- und kleinruthenischen Gürtel beinahe völlig getrennt wird, so erhellt, dass die Einheit des Gebietes aus negativen Qualitäten besteht. Sie wird von polnischer Seite lediglich behauptet, um den Litauern das Recht zu verkümmern, das von ihrem Stamme bewohnte Gebiet von polnischer Herrschaft frei
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und ungehemmt in Zukunft zu entwickeln.
Mit aller Schärfe muss immer wieder betont werden, dass im Gegensatz zur Praxis des aggressiven Polonismus das Litauertum keinen Anspruch erhebt auf die Gebiete des einstigen Großfürstentums Litauen, auch nicht auf dessen ganzen von den Deutschen besetzten Teil. Die Litauer greifen weder ins geschlossene polnische noch ins geschlossene weißruthenische Gebiet begehrlich über; sie fordern anderseits aber mit unerschütterlicher Festigkeit, die Freiheit innerhalb ihres ethnographischen Gebietes ihr Volkstum ungehindert zu entwickeln.
Die Grenzen des litauischen Stammgebietes bilden im groben Umriss im Norden die Grenze gegen Kurland; im Osten die deutsche Frontlinie; im Süden der westwärts gerichtete Lauf der Memel bis Grodno, von hier eine Linie in nordwestlicher Richtung zur ostpreußischen Grenze. An die See reicht litauisches Gebiet bis zur Mündung der heiligen Aa nördlich Palangen.
Innerhalb dieser Grenzen ist die Bevölkerung, abgesehen vom Südosten des Gouvernements Wilna, geschlossen litauisch. Der Prozentsatz der Nichtlitauer ist hier nirgends so hoch, wie der Prozentsatz der Nichtpolen im Gebiete des Generalgouvernements Warschau. Zum Verständnis der anders gearteten Verhältnisse in Teilen des Gouvernements Wilna ist ein geschichtlicher Rückblick notwendig.
Bei Beginn der geschichtlichen Zeit (13. Jahrhundert) haben die Litauer das oben umgrenzte Litauen bewohnt. Im Westen und Norden haben sie es gegen den Orden zäh verteidigt; nach Süden und Osten aber von den unverrückbar fest in litauischen Besitz befindlichen Städten Troki, Wilna, Grodno und Nowogrodeck aus ihrer Herrschaft über die russischen Stämme im Süden und Osten ausgebreitet. Das Land an der oberen Duna und das ganze riesige Becken des Dnjepr wurde binnen 200 Jahren ein fester Bestandteil des Großfürstentums Litauen.
Trotzdem dieses Neuland das litauische Kerngebiet an Größe vielmals übertraf, haben die Litauer infolge kriegerischer und politischer Überlegenheit die von ihnen durch Rasse, Sprache, Religion und Kultur gründlich geschiedenen Russen dauernd beherrscht. Das ethnographische Litauen hat dank der größeren Dichte seiner Bevölkerung russische Gebiete, vor allem die an seine Grenzen anstoßenden Striche, kolonisiert. Bis jetzt hat der Beweis, dass in litauisches Gebiet in alter Zeit Russen eingedrungen sind, nicht geführt werden können. An polnisches Gebiet unmittelbar grenzt Litauen nur im Gouvernement Suwalki, wo im spät besiedelten Waldland eine schmale Zunge polnischen Sprachgebietes längs des preußischen Masurenlandes bis an das litauische Gebiet heranreicht.
Innerhalb des ethnographischen Litauens hat es bis zu dem Augenblicke, wo Jagiello die polnische Krone übernahm, abgesehen von Kriegsgefangenen, keinen einzigen Polen gegeben. Dass die heute polnisch sprechenden Litauer keine eingewanderten Polen sind, geht schon daraus hervor, dass gerade an der unmittelbaren Sprachgrenze im Nordgebiete des Gouvernements Suwalki das litauische Element nach Zahl, Kultur und nationaler Kampfkraft besonders stark ist, während die größte Zahl der "Polen" sich im Gouvernement Wilna findet, also durch bereits russisches Gebiet getrennt ist. Die
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Möglichkeit polnischer Einwanderung haben die Litauer nach ihrer Union mit Polen bis zur endgültigen Auflösung des Staates durch Gesetze unterbunden, die diesen "Ausländern" oder "Fremdländischen" nicht nur im ethnographischen Litauen, sondern im ganzen Großfürstentum den Erwerb von Grund und Boden verboten. Dass das damalige Polen städtische Einwanderer nicht stellen konnte, ist bekannt, lässt sich aber gerade für die polnische "Hochburg" Wilna noch im Anfang des 19. Jahrhunderts nachweisen. Im Jahre 1853, also in einer Zeit, in der an einen nationalen Kampf zwischen Polen und Litauern niemand dachte, lässt M. Baliński in seiner "Statistischen Beschreibung der Stadt Wilna", neben den Tabellen für Litauen, Juden, Russen und Deutschen, das polnische Element unberücksichtigt, da wie er sagt die Zahl der Polen wie auch anderer fremder Nationalitäten so gering sei, dass er ihnen keine besondere Rubrik eingeräumt habe. Das war die Blütezeit der Wilnaer Universität, in der die polnische Kultur in Litauen geherrscht haben soll. Da seit dem polnischen Aufstand 1863 die russische Regierung jeden Mann polnischer Herkunft den Grunderwerb in Litauen verbot und auch seit 1905 die Polen aus dem Königreich von der Aufhebung dieses Verbotes wenig Gebrauch machen können, ist in neuster Zeit ebenso wenig wie in alter Zelt von einer irgendwie beträchtlichen Einwanderung aus polnischem Gebiet nach Litauen zu reden. Demzufolge widerspricht es der geschichtlichen Wahrheit, dass man im ethnographischen Litauen bodenständiges echtes Polentum und Russentum finden will.
Wohl kann der Gebrauch der polnischen oder russischen Sprache, besonders durch das einfache Volk, gewisse Zweifel hervorrufen. Darf man aber behaupten, dass sie damit auch zu Polen oder Russen (Weissruthenen) geworden sind. Bei weitem nicht. Diese Elemente nennen sich selbst, je nach den Umständen, sehr verschieden: Katholiken, Hiesige, Polen, Litauer oder Russen. Das Wort "Bialoruś" (Weissruthene) ist ebenso wenig bekannt, wie es in dem ehemaligen Großfürstentum Litauen bekannt war. Nichtsdestoweniger wird dieses höchstens sprachlich entfremdete litauische Element sehr oft den Litauern als ein besonderer slawischer Volksstamm entgegengestellt. Als Grund dafür gibt man an, dass sein Nationalbewusstsein und seine Sprache nicht mehr litauische seien. Um über diese scheinbar der Wahrheit entsprechenden Erscheinung ins Klare zu kommen, ist es notwendig, die Geschichte der polnisch-litauischen Beziehungen besonders im letzten Jahrhundert etwas genauer ins Auge zu fassen.
Als Litauen seine Selbstständigkeit Ende des 18. Jahrhunderts gänzlich einbüßte, begann sein Adel nach einem Zusammenschluss mit Polen zu streben, um auf diese Weise gegen den gemeinsamen Unterdrücker Russland Schutz zu gewinnen.
Die Verschmelzungsbestrebungen wurden nach dem letzten polnischen Aufstand noch mächtiger, als die Russen das Verbot der Anwendung litauischer Druckschriften erlassen und damit das geistige Leben in Litauen gänzlich unterdrückt hatten. Damals begann die polnische Presse aus Warschau und Krakau und mit ihr auch die großpolnische Propaganda ihre Werbearbeit in Litauen. Auf solche Weise ging dem litauischen Adel allmählich das nationale Bewusstsein seiner Vorväter verloren, indem er Litauen mit Polen zu identifizieren begann.
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Dass dieser so entstandene polnisch-litauische Typus keinen Bestand haben wird, sondern zum Aussterben verurteilt ist, zeigt schon die Tatsache, dass heute nicht selten in einer Adelsfamilie, wo beide Eltern als Polen-Litauer oder nur als Polen gelten, die Kinder sich zu zwei verschiedenen Nationalitäten rechnen. Aber von Jahr zu Jahr bekennen sich die Sprösslinge solcher Familien, denen ein ausgeprägtes Nationalgefühl fehlt, in steigender Zahl zum angestammten Litauertum. Nicht nur die Mehrzahl der studierenden Jugend, sondern ein bedeutender Teil der älteren Generation hat bereits ihr Volkstum wiedergefunden. Entstammt doch die Hälfte der heutigen politischen Führer Litauens, ein großer Teil seiner Schriftsteller und Gelehrten den adligen Familien Litauens, die die Polen als die ihrigen in Anspruch nehmen. Schulter an Schulter kämpfen sie heute mit der aus Bauernstamm entsprossenen Intelligenz für die geistigen und materiellen Interessen des litauischen Volkes. Und sie sind hier den besten Traditionen des litauischen Adels treu. Denn vor der Bauernbefreiung, als dem Lande die breite Intelligenzschicht aus Bauernblut noch fehlte, haben seine Angehörigen die national-litauische Idee vertreten. Der um die Mitte des 19. Jahrhunderts wirkende Adlige T. Narbutt aus Lida zeigt sich in seiner Geschichte Litauens als größter Separatist, als ausgesprochener Litauer und Nichtpole, obwohl er seine Werke polnisch verfasste und zu Hause nur polnisch sprach. Sein Zeit- und Standesgenosse, der Dichter L. Kondratowitsch (Syrokomla) offenbart in seinen Werken einen ausgesprochenen litauischen Geist. In einer seiner Schriften beklagt er wehmütig "Litauer bin ich und im Litauerlande konnte ich mich mit den Leuten nicht litauisch verständigen." So erkennt er die Tatsache an, dass es Litauer gibt, die nicht mehr litauisch verstehen. Hier findet das tragische Geschick der litauischen Nation schlichten, ergreifenden Ausdruck. Wohl haben auch andere zum Nationalbewusstsein erwachende Völker ihre entfremdeten führenden Schichten erst wieder zurückgewinnen müssen. Aber in Litauen lahmte die verhängnisvolle politische Verhoppelung mit Polen lange Zeit hindurch die natürliche Entwicklung.
Der größte Dichter, auf den die Polen so stolz sind, A. Mickiewicz, hat nicht nur die Vergangenheit Litauens und den litauischen Geist idealisiert, sondern leitete selbst seinen Ursprung vom litauischen Stamm ab, als ob er damit zeigen wollte, dass er in erster Linie Litauer und dann erst Pole sei. Wenn wir uns noch weiter in die litauische Geschichte bis zur Lubliner Union vertiefen, so sehen wir überall, dass der litauische Adel sich klar von dem polnischen abgetrennt wissen will und sich deutlich litauisch und nicht polnisch nennt. Zuweilen haben die litauischen Edelleute ihr Litauertum sogar in drastischer Form zur Schau getragen. So hat Janusz Radziwill im 17. Jahrhundert im Beisein des Königs, als er Litauens Interessen vor einem hohen polnischen Beamten schützen musste, drohend ausgerufen, es würde doch einmal die Zeit kommen, wo die Polen nicht mehr die Tür finden könnten, sogar wo man sie einfach durchs Fenster hinausschmeißen würde.
Und wenn die Mehrheit des litauischen Adels noch heute den Polen Gefolgschaft leisten will, so scheinen sie ganz die Spuren ihrer Ahnen verlassen und völlig vergessen zu haben, was ihre Vorväter gewesen sind. Solche Adlige dürfen deshalb auch gar nicht den Anspruch ergeben, staatserhaltendes Element zu sein. Vielmehr sind
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sie, ihrem Volke und Lande entfremdet, ein staatszersetzendes Element geworden. So und nicht anders wird dieses Element von den Litauern eingeschätzt.
Die niederen Bevölkerungsschichten im Osten Litauens, die sich ein polnisches oder polnisch-russisches Kauderwelsch aneigneten, haben noch kein Nationalbewusstsein erlangt.
Ihre Sitten, Trachten, Lieder, Gewohnheiten, ihr Glaube und sogar ihr Aberglaube zeigen, dass sie Litauer sind. Noch vor einigen Jahrzehnten haben sie fast alle litauisch gesprochen. Die Ältesten haben auch heute die litauische Sprache noch nicht vergessen, nur die Kinder beginnen ihre Muttersprache aufzugeben. Warum das geschieht, ist ebenfalls verständlich: lange Zeit hindurch haben Richter und Beamte russisch, Priester aber polnisch mit ihnen gesprochen. Unter dem Druck der gebietenden slawischen Sprachen bildete sich hier, an der Sprachscheide Litauens und Westrusslands, ein polnisch-russischer Jargon, hier "einfache Sprache" genannt. Auch das Verbot des litauischen Druckes hat viel zur Entnationalisierung dieser Volksschichten beigetragen. Während West-Litauen zur Zeit des Druckverbotes noch immerhin von den litauischen Büchern, die im Geheimen am Tilsit und Memel über die Grenze geschmuggelt wurden, Nutzen ziehen konnte, hat Ost-Litauen, von der preußischen Grenze weit entfernt mit polnischen Büchern, die nicht verboten waren, und von den Polonisatoren der Bevölkerung eifrig in die Hände gedrückt wurden, vorlieb nehmen müssen.
Die geistliche Obrigkeit der Wilnaer Diözese, welche sich in den Händen der Polonisatoren befand, hat verschiedentlich versucht, die Volksmasse zu überzeugen, dass "Katholisch" dem "Polnischen" und "Litauisch" dem "Heidnischen" gleichbedeutend sei, und ein solches "Nationalbswusstsein" genügt noch für viele im Osten Litauens. Auf einem solchen "Bewusstsein" baut auch die polnische Denkschrift, wenn sie von einer "national orientierenden Bauernschaft" spricht, "die seit Jahrhunderten ihr bodenständig und durch Bande des Bluts mit den anderen Mitbewohnern verbunden sei." So sieht das ausgesprochen polnische Gepräge des Landes in Wirklichkeit aus. Andererseits versuchen die russischen Panslavisten diese in Unwissenheit gehaltenen Katholiken der Wilnaer Diözese, nur weil sie einen polnisch russischen Jargon sprechen, für sich in Anspruch zu nehmen, in dem sie diese Volksmassen zu Weissruthenen als zu Russen stempeln. Der Wettstreit dieser Falschmünzer beweist nur eins: Hier gibt es weder Polen noch Russen, sondern hier im Südosten ist ethnographisches, sprachlich verkümmertes Litauen.
Das litauische Volk kann nicht zugeben und wird niemals zugeben können, dass diese seine gequälten und betörten Söhne gerade jetzt, da die Grundssätze der Völkerfreiheit so klar und deutlich vor das Bewusstsein der Welt getreten sind, der weiteren Ausbeutung ausgeliefert und als ethnografisches Material den Polen oder den "Anderen" überantwortet werden. Nur eine blinde Kraft oder ein böser Wille könnte solche Preisgabe herbeiführen und kein Grundsatz der Kultur und der Ethik würde sie rechtfertigen. Das litauische Volk wird diesen von Russen und Polen moralisch vergewaltigten Volksteil mit hoher Kraft verteidigen. Wenn weiterhin poli-
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tiker das ganze ethnographische Litauen als ein Völkergemenge hinstellen, in dem keine Nation führend sein könne, so ist es schwer nur auf unverzeihliche Unwissenheit und nicht auf böse Absicht zu schließen, die Litauens nationales Leben ertöten möchte. Dem gegenüber fühlt sich das litauische Volk berechtigt und verpflichtet, das Schicksal des litauischen Landes in eigne Hand zu nehmen. Die polnisch gewordenen Bewohner unseres Vaterlandes können wir nicht als eine besondere Nationalität anerkennen, wie es z. B. der Adel Kurlands ist, sondern lediglich als ein unheilvolles Produkt unserer unglücklichen geschichtlichen Entwickelung ansehen. Mit dem Augenblicke, da die nationale Entwickelung der Litauer freie Bahn erhält, wird dieses Element zerfallen und allmählich verschwinden, wie es noch vor dem Kriege in West-Litauen verschwunden ist, wo das Volk die polonisierenden Führer abgeschüttelt hat. Da es auch bei der skrupellosesten Beeinflussung der Volkszählung heute nicht mehr gelingen will, im weitaus größten Teil Litauens eine beachtenswerte polnische Minderheit herauszudestillieren, suchen die Unterzeichner der polnischen Eingabe der zahlenmäßigen Schwäche durch Unterstreichen der Qualität zur gewünschten Überlegenheit zu verhelfen.
Sie schreiben: "Das Polentum gab Litauen die Religion, die Aufklärung, die ökonomische Kultur und staatliche Tradition, d. h. die höchsten Güter einer wahren Zivilisation". Darauf bezugnehmend möchten die Polen aus Litauen eine Provinz Polen machen, aber hierbei verschweigen oder vergessen sie, dass die Kulturträger während der ganzen litauischen Geschichte nicht zugewanderte Polen, sondern bodenständige Litauer waren, welche, wenn sie auch lateinisch oder polnisch geschrieben oder gesprochen haben, dennoch litauisch fühlten und sich niemals bis zum letzten Jahrhundert Polen nannten, sondern sich immer deutlich von diesen absonderten.
Es widerspricht ferner den Tatsachen, dass die in Litauen von den Litauern gepflegte Kultur lediglich polnischen Ursprungs gewesen wäre: Sie war, soweit sie von auswärts stammte, eine gemeinsame westeuropäische Kultur, die von der litauischen Intelligenz zum großen Teile an der Quelle ohne polnische Vermittelung geschöpft worden ist. Wir wissen, und selbst polnische Geschichtsschreiber erkennen es an, dass auch die Polen aus Litauen sehr viel Gutes für ihre Kultur erhalten haben. Litauische Schriftsteller haben den Polen Weltruhm verschafft dadurch, dass sie das, was aus litauischer Eigenart erwachsen war, in das Gewand der polnischen Sprache kleideten, Litauer haben eine Epoche in der Geschichte der polnischen Kultur anfangs des 19. Jahrhunderts zur Zeit der Wilnaer Universität gemacht. Gewiss haben die Polen bei der Übermittlung der westlichen Kultur eine Rolle gespielt, zumal da durch den Kampf mit dem Orden lange Zeit hindurch der Zugang zur deutschen Kultur versperrt war, aber es heißt für übertriebene Verdienste Wucherzinsen verlangen, wenn die Polen auf Grund jener Vermittlerrolle Herrenrechte über Litauen fordern.
Befremdend wirkt es vollends, wenn man die Einführung des christlichen Glaubens in Litauen als besonderes Verdienst der Polen preisen hört. Wir wissen, dass die Einführung des Katholizismus in Litauen nur auf dem Papier durch die Polen erfolgte, in Wirklichkeit aber nur von den Polen in die Hände genommen wurde, ist das Volk noch bis zum 18. Jahrhundert im Heidentum verblieben. So war es ganz in der Nähe von
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Wilna, also unweit der Stadt, deren kirchliche Oberämter die Polen sich stets in die zu spielen wussten [sic]. Was für Wert hat der polnisch gefärbte Katholizismus für Litauen? Noch heute werden die Wilnaer Katholiken bekehrt, Gott als polnischen König und die Mutter Gottes als polnische Königin zu verstehen. Pole und Katholik sind nur Synonyme. In einer Denkschrift, die die Wilnaer Polen vor einem Jahre den deutschen Behörden einreichten, wird der katholische Glaube einfach "Polnischer Glaube" genannt. Hier wird noch lange und ernste Arbeit geleistet werden müssen, damit der christliche Glaube vor dem für katholisches Empfinden verletzenden Missbrauch zu rein weltlichen Dingen bewahrt bleibe.
Die Polen, so wird weiter behauptet, hätten Litauen die staatlichen Traditionen gegeben. Hat sich aber nicht Polen mit Litauen zu einem Staate vereinigt? Längst bevor es sich mit Polen verband, hatten die Litauer einen starken Staat gebildet, der ein gefährlicher Gegner Polens war. Litauen hat außerdem den Polen die Jagiellonendynastie gegeben, deren sich die Polen noch heute rühmen. Leider muss gesagt werden, dass die Unionen mit Polen, die der Willkür des Adels Tür und Tor öffneten, auf den litauischen Staat nur schwächend einwirkten und ihn endlich ins Verderben zogen. Die Dokumente der Lubliner Union bezeugen, aufs deutlichste, dass die Litauen in klarer Erkenntnis dieser Gefahr nicht gewillt waren, sich mit den Polen zu vereinigen. Sie sahen, dass in Polen nicht die gepriesene Freiheit, sondern die Willkür, Ungerechtigkeit, Unduldsamkeit und allgemeiner Hass herrschten.
Vollends ohne jeden Sinn ist die Behauptung, dass die Polen Litauen eine Landwirtschaftskultur gegeben hätten. Falls die Herren Verfasser der genannten Eingabe ihre eigenen Güter im Sinne habe: so haben wir allen Grund zu behaupten, dass dann nur von einem Verfall dar Landwirtschaftskultur gesprochen werden könnte. Fast überall in Litauen konnten die Adelsgüter den Wettbewerb mit der Bauernwirtschaft nicht aushalten: vielfach mussten sie verkauft und unter die Bauern aufgeteilt werden. Dort wiederum, wo diese Güter sich einigermaßen halten konnten, haben sie fast nirgends, wie Sachkenner bezeugen, einen kulturellen Einfluss auf die Bauern auszuüben vermocht. Wer den wahren Wert der "polnischen" Landkultur erkennen will, braucht nur die reinlitauischen Bauerngegenden des Westens mit der Umgebung Wilnas zu vergleichen, wo die polnische Kultur ihren Hochsitz haben soll. Hier findet man unmittelbar vor den Toren der Stadt den hölzernen Pflug, der den Boden nur ritzt, Eggen, an denen kein Stück Eisen zu finden ist und an Stelle der Sense – die Sichel.
Es bleibt noch die Frage offen, welche Bedeutung die "Vertreter aller polnischen politischen Richtungen Litauens" in dem Volke haben, das sie in den polnischen Staat eingliedern möchten. Sie konnten im Lande nur soweit gelten, als sie seitens der polonisierten kirchlichen Hierarchie und der russischen Bureaukratie Unterstützung fanden.
Beide wünschten die ihre nationale Rechte fordernden Litauer mit Hilfe des polonisierten Großgrundbesitzers niederzuhalten. Dass aber diese Politik nicht den gewünschten Erfolg hatte, zeigen die Dumazahlen: im Gouvernement Kowno konn-
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ten die polonisierten Gutsbesitzer nur eine ihnen gesetzlich verbürgten Vertreter in die Duma entsenden. Im Gouvernement Suwalki haben die Litauer allein ohne großen Wahlkampf stets ihren Kandidaten gegen die Stimmen der Polen und Juden in die Duma gewählt. Nur im Gouvernement Wilna, wo das an sich stark eingeschränkte Wahlrecht der Bauern infolge der guten Beziehungen der polnischen Gutsbesitzer zu Petersburg bis zur Ohnmacht verschlechtert worden war, wo außerdem die Macht der Kirche den Polenfreunden dienstbar war, nur hier bekamen die Polonisatoren die Oberhand.
Aber diese polonisierten Gutsbesitzer selbst fühlen keinen festen Grund unter ihren Füßen. Je nach den Umständen wechseln sie Standpunkt und Überzeugung. Vor der Revolution 1905 haben ihre Führer versucht, sich der verfallenden russischen Bureaukratie zu nähern, um ihrem Stande eine stärkere Stütze abzugewinnen, und deshalb auch an den Einweihungsfestlichkeiten der Denkmäler von Murawjew und Katharina II. in Wilna teilgenommen. Während der Revolution wünschten sie Fühlung mit dem Volke zu bekommen und gaben sich für Litauer aus. Nach der Revolution verhandelten sie mit der russischen Reaktion, um ein ihren Interessen möglichst günstiges Dumawahlrecht zu erlangen. Das ist ihnen teilweise auch gelungen, als im Kriege in Polen politische Freiheit und Macht zu erstehen begannen, streckte das polonisierte Element in Litauen seine Hand dorthin aus, da es den einzigen Weg zur Erhaltung seiner bisherigen Herrenstellung in der Angliederung Litauens an das stark aggressive Polen sieht und deutlich spürt, dass falls Litauen selbständig wird, die Rolle des polonisierten Elements in diesem Lande ausgespielt wäre. Und deshalb erscheint ihm alles möglich, bloß weil kein freies Litauen, wo das litauische Volk die entscheidende Stimme hatte, nicht aber die privilegierte dünne Oberschicht mit ihren Veralteten Überlieferungen, die sich bisher unter dem reaktionären Beginne enthalten hat.
Was die Statistik des Jahres 1916, die Hauptwache der Polonisatoren, anbetrifft, so verdient sie Beachtung nur darin, weil sie zeigt, welcher Art dieser polnische Katholizismus ist, mit dem die Polen vor der ganzen Welt prahlen. Wie unanfechtbare Zeugenaussagen in großer Zahl zeigen, sind Litauer gegen ihren ausdrücklichen Willen als Polen eingetragen worden, sogar solche Litauer, welche als größte Gegner des Polentums allenthalben bekannt sind, auch solche, die kaum polnisch sprechen konnten. Da hieß es: Katholik, also Pole. In dieser statistischen Aufnahme sind ganze Kirchspiele, wo die litauische Sprache in lebendigem Gebrauch ist, als polnische verzeichnet. Soll auch da von einer bodenständigen polnischen Bauernschaft die Rede sein? Schon der Umstand allein, dass zu den 44 Personen, die den Bischofsverweser der Wilnaer Diözese aller gehört [sic], verrät den Weg, auf dem die Ergebnisse dieser Statistik gewonnen worden sind.
In Anbetracht aller hier angeführten Gründe erachten wir Litauen in den am Anfang angegebenen Grenzen für ein litauisches Land und erkennen nur dem litauischen Volk entscheidendes Recht auf dieses Land zu. Die Rechte aller fremder Volksminderheiten zu ordnen und ihnen die nötigen Bürgerschaften zu gewähren, ist eine innere Angelegenheit des zukünftigen Litauens. Wie sich diese Zukunft gestalten wird, hängt von der Entwickelung der geschichtlichen Ereignisse ab. Es möge den Vertretern des
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litauischen Volkes vergönnt sein, der deutschen Regierung, deren Vertreter auch dem litauischen Volke Befreiung von fremder Unterdrückung verheißen hat, darzulegen, wie die Litauer in Erkenntnis der realen und idealen Kräfte ihres Volkes die Grundlinien ihrer Zukunft ziehen müssen.
Es sei ihnen das gestattet, besonders mit Rücksicht darauf, dass nicht nur unverantwortliche polnische Imperialisten, sondern der polnische Staatsrat des von den verbündeten Mittelnächten in den Grundlagen erschaffenen polnischen Staates politische Ziele verkündigen, die Litauen keine Befreiung vom fremden Joch, sondern nur die Fremdherrschaft einer anderen Nation bringen würde. Wenn vor dem Kriege die Litauer, wie die anderen Fremdvölker Russlands, für eine Autonomie innerhalb des russischen Reiches gekämpft haben, so können sie sich, da sie unter den Lasten des Krieges vielleicht mehr als alle anderen unterdrückten Völker gelitten haben und da sie neben sich dem polnischen Staat erstehen sehen, heute nicht anders ihre Zukunft denken, als in der Form der Unabhängigkeit. Das ist die auf Grund der geschichtlichen Überlieferungen beruhende Sehnsucht der Litauer, gestärkt durch das Wiedererwachen der nationalen Sprache und das Bewusstsein der eigenen nationalen Kultur. Das ist nicht nur ein aus dem nationalen Bewusstsein hervorgegangener Wunsch und eine Folge der durch den Krieg hervorgerufenen tief wirkenden Umwälzungen, sondern das ist die für gesunde Entwicklung des Volkes unentbehrliche Vorbedingung, um frei und unabhängig sein durch Jahrhunderte ersticktes und zerstörtes Leben wieder aufzubauen und zu stärken. Das litauische Volk hat in der Vergangenheit so viel für seine Freiheit und Selbstständigkeit gekämpft und so viel Schicksalsschläge erlitten, dass der Wunsch allen seinen Leiden ein Ende zu bereiten, unwiderstehlich und unaustilgbar ihm in die Seele geprägt ist.
Wenn dieser Krieg, der für lange Zeit über das Schicksal der Völker entscheidet, die Bestrebungen des litauischen Volkes unberücksichtigt ließe; wenn er die Litauer der Gnade oder Ungnade eines anderen Volkes oder Staates auslieferte und damit der weiteren Verkümmerung unter fremdem Joch überantwortete, so wäre damit eine Ungerechtigkeit vollzogen, die in Litauen den Grund für einen unaufhörlichen Kampf schaffen müsste, Litauen wäre genötigt, seine Kraft unproduktiv zu vergeuden, und noch mehr als früher wären hier Tür und Tor für jene zersetzenden Maßnahmen geöffnet, die bemüht sind, aus Litauen einen allpolnischen oder allrussischen Vorposten gegen Ostpreußen zu machen.
Es fragt sich aber, ob das litauische Volk als reif betrachtet werden kann, um ein selbständiges, unabhängiges Staatsdasein zu führen. Darauf ist nur Folgendes zu sagen.
Dass die Litauer es verstanden haben, ihr staatliches Leben zu lenken, bezeugt ihre Vergangenheit; nur die Einmischung der Slawen und vor allem der Polen in die Angelegenheiten Litauens, und zwar gegen den Willen der Litauer, hat die Weiterentwickelung aufgehalten und durch Verstrickung in die polnische Anarchie ihren Staatsorganismus zerstört.
Indem es auf die Ländergebiete des geschichtlichen Litauens verzichtet, bean-
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sprucht das litauische Volk zum Wiederaufbau des zukünftigen Staatsgebildes nur die von ihm seit altersher bewohnten Gebiete und zwar in den Grenzen, die wir oben auf Grund des ethnographischen Prinzips gekennzeichnet haben. Vermeintlicher Mangel an Intelligenz und höheren Ständen wäre, wie die glückliche Entwickelung Bulgariens zeigt, kein unüberwindbares Hindernis zur Wiedererrichtung Litauens. Aber bereits vor dem Kriege hat das litauische Volk verhältnismäßig viel mehr Intelligenz hervorgebracht, als die Russen. Nur die politischen Umstände erlaubten es nicht, diese Intelligenz in Litauen selbst zu verwerten. Nach dem Kriege wird die Mehrheit dieser Intelligenz selbstverständlich nach Litauen zurückkehren. Die meisten der Adligen, die sich heute noch passiv verhalten oder von ihrem alten Volksstamme abgefallen sind, werden ihr Nationalbewusstsein wiedererlangen und sich wieder mit dem litauischen Volk vereinigen. Neugeschaffene Bedingungen im freigewordenen Lande werden neue Reihen der Intelligenz erstehen lassen, wie das immer in neu erstandenen Staaten gewesen ist. Den vorläufig vorhandenen Mangel an eigenen Intelligenzkräften wird Litauen durch die Kräfte des Staates beheben können, mit denen es in nähere wirtschaftliche, politische, kulturelle Beziehungen treten wird.
Der Charakter der Landwirtschaft und der Mangel an Industrie verbinden schon vor dem Kriege Litauen mit den hoch entwickelten industriellen Ländern Westeuropas, vor allem aber mit Deutschland. Es ist in der Natur der realen Verhältnisse begründet, dass diese Verbindung in Zukunft viel stärker werden wird. Ebenso wird die Wissenschaft und die Technik die Litauer in höherem Maße noch als früher nach Westen, nicht aber nach Osten oder Süden lenken. Diese wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen werden jedoch dem litauischen Volke nur auf Grund gemeinsamer Interessen erstrebenswert sein, unbeschadet der Unabhängigkeit der Nation. Sie müssten solchen Beziehungen entgegengesetzt sein, wie sie zwischen Polen und Litauen nach den Vorschlägen der großpolnischen Politiker geschaffen werden sollten, wobei die eine Seite und zwar die polnische, der anderen alles, sogar die nationale Seele zu nehmen trachtet.
Wird vielmehr, wie die Vertreter des litauischen Volkes wünschen und hoffen, die Zukunft Litauens auf der Grundlage der Gerechtigkeit in nationaler Unabhängigkeit aufgebaut, dann werden die Probleme der äußeren Staatsform und der sogenannten realen Garantien beim Friedensschluss ohne Schwierigkeit zu lösen sein.
90r, links oben hds. von unbekannter Hand notiert: "Memoriale dei Rappresentanti del popolo Lituano sulla petizione dei Partiti Polacchi in Lituania per l'unione della Lituania alla Polonia".
Empfohlene Zitierweise
Vertreter des litauischen Volkes, Eine litauische Gegenschrift Seiner Excellenz dem Herrn Reichkanzler des Deutschen Reiches. Denkschrift der Vertreter des litauischen Volkes betreffend die Eingabe aller polnischen Richtungen Litauens über die staatliche Vereinigung Litauens und Polen vom 10. Juli 1917, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 8722, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/8722. Letzter Zugriff am: 29.03.2024.
Online seit 24.03.2010, letzte Änderung am 10.03.2014.