Dokument-Nr. 3437

[Becker, Carl Heinrich]: Mündlich geäusserte Gesichtspunkte, vor dem 24. Februar 1923

Abschrift
Preussen kann aus staatsrechtlichen Gründen verbindliche Erklärungen über Gegenstände, die der Heilige Stuhl mit dem Reiche regeln würde, dem Heiligen Stuhl gegenüber nicht abgeben. Denn die verbindlichen Erklärungen zu diesen Gegenständen würden dem Reiche gegenüber abgegeben, wenn nach Artikel 69 der Reichsverfassung die Gesetzesvorlage im Reichsrat behandelt würde. Vor diesem Zeitpunkte kann die Stellungnahme der Preussischen Staatsregierung nicht verbindlich festgelegt werden.
Wenn die abzuändernden Bestimmungen der vor rund 100 Jahren vereinbarten Bullen im Einvernehmen mit dem Heiligen Stuhl abgeändert werden, so wird auch darüber Einvernehmen herrschen müssen, dass die nicht abgeänderten Bestimmungen in Geltung sind. Eine solche Klarstellung liegt im Interesse der Katholischen Kirche, die in Preussen Angriffen und Erschwerungen – besonders finanzieller Natur – ausgesetzt sein würde, wenn diese von Preussen als fortbestehend behandelten Vereinbarungen nicht mehr als fortgeltend anerkannt würden. Für die Behandlung der preussischerseits zur Erörterung gestellten Fragen wird der Abschluss eines förmlichen Vertrages voraussichtlich nicht für erforderlich erachtet werden. Es ist vielmehr in Aussicht genommen, die preussischen Gesetze abzuändern, sobald durch Schriftwechsel oder durch ein Protokoll Einvernehmen über die zu vereinbarenden Massnahmen herbeigeführt sein wird, die der Heilige Stuhl nach Abände-
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rung der preussischen Gesetze treffen wird.
Was schliesslich die Beziehung des preussischen Episkopats zu der preussischen Hochschulverwaltung anlangt, so darf zunächst festgestellt werden, dass diese Beziehungen einen festen Rückhalt an einer seit langem bewährten Praxis gefunden haben. In Weiterentwicklung der für die drei preussischen Fakultäten gegebenen Satzungen hat sich namentlich für die wichtigste Frage, die der Besetzung der theologischen Lehrstühle als eine Art ungeschriebener Rechtssatz eine Regelung dahin herausgebildet, dass die Staatsregierung auf der Grundlage des Vorschlags der Fakultäten die ersten Berufungsverhandlungen mit dem zunächst ausersehenen Kandidaten führt und nach vorläufigem Abschluss der Verhandlungen den zuständigen Bischof befragt, ob er gegen Lehre und Wandel des Kandidaten Bedenken habe. Die Publikation der Berufung und die Ernennung zum staatlichen Professor erfolgt erst nach Eingang einer verneinenden Antwort des Bischofs. Bei diesem Verfahren erhalten die Bischöfe rechtzeitig Gelegenheit, die Interessen der Kirche geltend zu machen.
Die Abänderung dieses Verfahrens würde daher ohne ein aus der praktischen Erfahrung erwachsenes Bedürfnis wesentlich unter theoretischen Gesichtspunkten erfolgen. Gegenüber einer solchen mehr konstruktiven Lösung ergeben sich bei genauerer Betrachtung der preussischen Verhältnisse gewichtige Bedenken. An den 12 preussischen Universitäten (ausser der Akademie in Braunsberg) bestehen neben 10 evangelisch-theologischen 3 katholisch-theologische Fakultäten, darunter die von Münster erst seit weniger als 2 Jahrzehnten. So sicher das wissen-
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schaftliche Ansehen dieser 3 Fakultäten im Kreis der übrigen theologischen Fakultäten begründet ist, so dürfte doch damit gerechnet werden müssen, dass die wissenschaftlichen Voraussetzungen für die Tätigkeit der katholisch-theologischen Fakultäten in der wissenschaftlichen Forschung ausserhalb der Universitäten nicht überall als vollgültig anerkannt werden, ein Zustand, der in einem so stark andersgläubigen Land wie Preussen und angesichts der prominenten Stellung der katholischen Volkspartei kaum einer besonderen Erklärung bedarf. Solange kein akuter Anlass gegeben ist, zu der Tätigkeit der preussischen katholisch-theologischen Fakultäten Stellung zu nehmen, braucht dieser Zustand keine Komplikationen auszulösen. Sobald aber eine gesetzgeberische Massnahme wie der Abschluss neuer Vereinbarungen über die Besetzung der katholisch-theologischen Professuren zur öffentlichen Erörterung dieses Problems veranlasst, ist die Besorgnis abträglicher Urteile und fühlbarer Beeinträchtigungen der Lage der katholisch-theologischen Fakultäten nicht von der Hand zu weisen. Es dürfte daher auch vom Standpunkt der kirchlichen Interessen die Frage zu stellen sein, ob bei den besonderen Verhältnissen Preussens eine theoretische Diskussion des von der Praxis durchaus befriedigend gestalteten Problems Vorteile verspricht.
Diese Besonderheiten lassen es auch nicht als angängig erscheinen, die Verhältnisse ausserpreussischer Hochschulen, etwa die für die katholisch-theologische Fakultät in Strass-
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burg s. Zt. getroffene Regelung zum Ausgangspunkt zu nehmen. Für das katholische Elsass, für das weit eher süddeutsche, namentlich bayerische Verhältnisse zum Vergleich heranzuziehen wären, galten ganz andere Bedingungen, als sie für die Verhältnisse im überwiegend evangelischen Norden Deutschlands bestimmend sein müssen. Die allgemeine Struktur des Landes, Zahl, Lage und Stellung der preussischen katholisch-theologischen Fakultäten im Leben der preussischen Universitäten schufen Verhältnisse, die grundsätzlich für sich betrachtet werden müssen.
Damit soll nicht gesagt sein, dass neuere Vorgänge in anderen deutschen Landesteilen ohne Belang für die preussischen katholisch-theologischen Fakultäten bleiben müssten. Von Interesse dürften namentlich die entsprechenden Verhandlungen mit der bayerischen Regierung sein. Daher empfiehlt es sich wohl zunächst den Ausgang dieser Verhandlungen abzuwarten, um ihn für den Fortgang der preussischen Verhandlungen nutzbar machen zu können.
Empfohlene Zitierweise
[Becker, Carl Heinrich], Mündlich geäusserte Gesichtspunkte vom vor dem 24. Februar 1923, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 3437, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/3437. Letzter Zugriff am: 18.04.2024.
Online seit 24.10.2013.