Sturz des Kabinetts Stresemann II am 23. November 1923

Am 6. Oktober 1923 trat das zweite Kabinett unter Reichskanzler Gustav Stresemann zusammen. Es handelte sich wieder um eine Große Koalition aus Sozialdemokraten (SPD), Deutscher Demokratischer Partei (DDP), Zentrumspartei und Deutscher Volkspartei (DVP). Die zweite Amtszeit Stresemann war von einer schweren innenpolitischen Krise geprägt. Der seit der Ernennung Gustav Ritter von Kahrs zum Generalstaatskommissar am 26. September 1923 schwelende Konflikt zwischen Reichsleitung und Bayern wurde weiter angeheizt durch Überlegungen der bayerischen Regierung, die unter dem Druck der erstarkenden vaterländischen Verbände stand, nach dem Vorbild der italienischen Faschisten einen "Marsch auf Berlin" zu unternehmen und eine nationale Diktatur zu errichten. Gleichzeitig trat in Sachsen und Thüringen am 10. bzw. 16. Oktober 1923 die Kommunistische Partei (KPD) in die sozialdemokratischen Landesregierungen ein und begann, "proletarische Hundertschaften" aufzustellen. Die Reichsregierung schritt gegen letztere energisch ein. Die thüringische Regierung beugte sich ihrem Druck freiwillig, die widerständische Regierung Sachsens wurde Ende Oktober durch eine Reichsexekution beseitigt. Die Minister der SPD traten am 2. November aus der Reichsregierung aus, da die übrigen Minister ein entsprechendes Vorgehen gegen Bayern ablehnten. Das verbleibende Rumpfkabinett wurde dabei insbesondere auf Drängen Reichskanzler Friedrich Eberts weiter von der SPD geduldet.
Zwar verhinderte Stresemann zur gleichen Zeit die drohende Errichtung einer Rechtsdiktatur in Sachsen oder im Reich, doch sorgte seine Politik besonders beim linken Flügel der SPD für Empörung. Dieser setzte sich gegen den Widerstand Eberts durch und die SPD stellte am 22. November 1922 einen Misstrauensantrag gegen Stresemann. Der Erfolg des Antrags war zwar von der Zustimmung der Deutschnationalen (DNVP) abhängig, gleichzeitig aber absichtlich so formuliert, dass diese nicht zustimmen konnte, so dass der Antrag vor allem dazu diente, den linken Flügel der SPD zu besänftigen und nicht dazu, Stresemann tatsächlich zu stürzen. Doch der Kanzler duldete keine weitere Schwächung seiner Position und stellte deshalb selbst die Vertrauensfrage. Die Abstimmung darüber verlor er am 23. November.
Stresemanns Nachfolger wurde am 30. November Wilhelm Marx. Sein bürgerliches Minderheitenkabinett aus Zentrum, DVP, DDP und Bayerischer Volkspartei (BVP) wurde auf Drängen Eberts wieder von der SPD toleriert.
Literatur
RICHTER, Ludwig, Die Deutsche Volkspartei 1918-1933 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 134), Düsseldorf 2002, S. 286-302.
WINKLER, Heinrich August, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 385), Bonn 2002, S. 447.
Empfohlene Zitierweise
Sturz des Kabinetts Stresemann II am 23. November 1923, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 460, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/460. Letzter Zugriff am: 16.04.2024.
Online seit 24.10.2013, letzte Änderung am 10.03.2014.
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