Dokument-Nr. 20831

[Brentano, Bernard von]1: In der Heimat der 'Weber'. Entwicklung einer Stadt, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Nr. 599, S. 1 f., 14. August 1927
Waldenburg i. Schl., im Sommer 1927
"Unser Los ist die Kargheit und die Enge."
Einfahrt: Die schlesische Kohlenstadt Waldenburg liegt nicht an der Bahn; der Reisende verläßt den Zug in Dittersbach oder Altwasser. Schon wird er zweifelhaft belehrt: einmal vermag er nicht festzustellen, wo Altwasser aufhört und Waldenburg beginnt; wie die Stadtbezirke Berlins gehen langgestreckte Orte nahtlos ineinander über. Das zukünftige Groß-Waldenburg wächst zusammen. Zum anderen fürchtet man bereits mit der Straßenbahn unter Tag zu kommen; so rapid geht es und knatternd bergab. In einem Talkessel, rings von Bergen umstanden, rauchen die Schlote der Gruben, vier fünf und mehr, wie man von der Höhe zählen kann, die eigentlichen Gründer der Stadt, die Ursachen ihres Reichtums und ihrer Armut. - Der Weg zur Grube, in die ich einfahren will, ist nicht weit. Die Anlagen gleichen - über Tag - jeder beliebigen Industrieanlage. Der Pförtner sitzt an der Stechuhr, Geleise führen über den Hof, Schornsteine wachsen auf der baumlosen Fläche. Männer stehen und spritzen Wasser auf glühenden Koks. Der zischt vor Frost, kaum hörbar im Lärm der Motoren, die der Mensch schweigend regiert. In einem Baderaum verwandelt man sich in einen Bergmann. Kein Straßenanzug käme lebendig aus der Teufe zurück. Am Weg sehe ich Frauen und Kinder an der Schüttelrutsche stehen und das Produkt der Erde von den mitgeschlagenen Steinen - den Bergeteilchen - reinigen. Das ist die Kohle, die hier gewonnen wird. Die Fabrik liegt in der Tiefe.
Ein Wagen wird aus dem Förderkorb wieder herausgeschoben. Das gibt Platz für drei Männer und wir steigen ein. Die Lampen leuchten auf, schon ist es Nacht um uns, der Korb fällt und fällt, ein kleines Licht erscheint, eine Stimme sagt: "Glück auf!" "Glück auf!" antwortet man, den ungewohnten Gruß sehr ehrlich zurückgebend. Wir sind am Ziel, 300 Meter tief. Bald werden die Schmalen, schwarzen Gänge niedrig; nur tief gebückt kommt man noch vorwärts. Die Lampe beleuchtet das Gebälk, Balken rechts und links, die die Wände halten und die Eisenschienen tragen, welche die Decke stützen. Alle Augenblicke ist eine gebrochen und hängt in spitzem Winkel herunter. Auch Eisenschienen sind kein Widerstand für den Berg. Wir gehen auf schmalen Geleisen. Rechts und links führen Seitengänge ins Dunkel ab. Man hört keinen Laut. Die Luft ist feuchtwarm und schmeckt schlecht. Auf einmal ist ein kleines Licht vor uns: "Glück auf!" sagt ein Mann, der in einer schwarzglänzenden Mulde hockt. Während er mit uns spricht, haut er mit einer scharfen Hacke weiter große Stücke Kohle aus dem Bauch des Berges heraus. Sein Gesicht ist schwarz und naß von Schweiß. Auf dem Kopf hat er eine alte Militärmütze.
Die Schüttelrutschen, lange Blechgefäße, die längs durch die Gänge gehängt sind und in raschem Takt die Kohle weiterschütteln, die der Bergmann draufschippt, machen einen gräßlichen Lärm. Man versteht sein eigenes Wort nicht. Aber ihr Geräusch ist milde und angenehm gegen das rasende Geschrei der pneumatischen Bohrhämmer, die sich mit eisernen Zacken in den Berg einwühlen. Der Mann, der sie bedient, zittert wie Espenlaub. Wir schlagen ihm auf die Schulter; er stellt den Hebel ab, einen Augenblick ist Stille, als habe der Feind das Trommelfeuer eingestellt. Dann geht es wieder los, und während wir weiterkriechen, drückt die Erschütterung die alte schlechte Luft uns fühlbar in den Rücken. Einem Zug auszuweichen, der entgegenkommt, schiebt man sich seitwärts ins Gebüsch des Gebälks. Rasch fahren die Wagen, bis oben mit Kohle beladen vorüber. Tempo, Tempo ist auch in dieser Arbeit. Drei Schichten zu acht Stunden füllen den 24stündigen Tag. Keinen Augenblick ruht der Berg still. Ueber drei Stunden wanderte ich unter der Erde. Ich sah nur einen kleinen Teil einer einzigen Grube. Wenige wissen, wie groß die Erde ist; wer weiß, wie tief sie ist?
Die neue Stadt: In der Stadt Waldenburg sieht man viele neue Häuser. Ihre jungen Dächer leuchten heller als anderswo, weil sie wie eine neue Zeit mitten in einer uralten stehen, deren Farbe grau ist und niederdrückend. Schon kurz nach dem Krieg begann man Siedlungen anzulegen. Kleine Häuser in kleinen Gärten zu bauen, die von großen Familien bewohnt werden. Heute baut man große Häuser mit kleinen Wohnungen; man baut sie, unter einem rührigen Stadtbaurat, praktisch und freundlich, leider kann man sie nicht billig bauen. Die Mieten kann der Bergmann nicht zahlen. Die Schutzpolizei, die in den schlimmen Jahren der Nachkriegszeit hier wie eine Besatzung stationiert war, hat eine mächtige Kaserne erstellt; dafür baute die Stadt den Beamten Wohnungen, eine Siedlung, die mit dem naheliegenden Stadion zusammen in ihrer Geschlossenheit wie eine neue Gemeinde wirkt. Das neue Stadion, an die Hügel gelehnt, würde einen Athener entzückt haben. Es ist vormittag; die Stadt hat ihre Bewohner unter Tag und in die Fabriken entsandt. Fast nur Frauen und Kinder füllen die Straßen; knurrige Bauern in derben Kleidern den Marktplatz. Im Stadion läuft eine Riege Männer Dauerlauf. Die Körper sind tadellos; die weißen Turnanzüge leuchten. Allemal packt mich ein Anblick; der Wille zum Leben antwortet dem Willen zum Leben.
Die Sünden der Väter: Aber es sind wenige Menschen hier, die Zeit, Kraft und Platz haben, ihren Körper zu trainieren und in der Sonne spazieren zu gehen, derweil sie scheint. Der Weg von den Siedlungen zur alten Stadt führt abwärts; in jeder Beziehung abwärts. Das Wohnungselend, das hier herrscht - trotz der paar Neubauten, die ja nicht annähernd ausreichen - ist bitter. Im Gesamtgebiet des Kreises Waldenburg sind 40 Prozent aller Wohnungen Einzimmerwohnungen; 37 Prozent bestehen aus Stube und Küche. In einzelnen Bergarbeitergemeinden, - Dorfgemeinden -, sind bis zu 75 Prozent aller Wohnungen Einzimmerwohnungen. Man kann sie leicht besichtigen. Die Inhaber gestatten es jedem. Auf langen Korridoren aneinandergereiht liegen diese Wohnungen. Man öffnet die Tür und jedesmal ist es das gleiche Bild: ein viereckiger mäßig großer Raum mit Betten, Tischen, Stühlen vollgestopft und ein Ofen an der Wand, der zugleich der Herd ist. Fast immer gibt es mehr Bewohner als Betten; davon erzählen deutlicher als die Statistiken die alten Augen der Kinder. Wasser, einen Zapfhahn für alle Parteien, gibt es nur auf dem Flur. Ebenso einen Abort. Arme Leute, die selbst für diese Behausungen die Mieten nicht aufbringen können, vermieten ein Bett an Schlafburschen. Das Lager wird niemals kalt. Wenn der eine aufsteht, legt sich der andere hin. In diesen Räumen ist immer Nacht; Müdigkeit ist der Gewinn dieses Lebens.
Die Löhne, die hier bezahlt werden, waren nie hoch, und wenn die Armut eine Heimat hat, ist es Schlesien, ein schönes, reiches und fruchtbares Land. Ein altes Arbeiter- und Industrieland. In Waldenburg wurde die erste Dampfmaschine des Kontinents in einer Großweberei aufgestellt. Aber die schlesische Leinenindustrie erlag der mächtigen rheinisch-westfählischen und englischen Konkurrenz. Damals ging man mächtig an den Bergbau. Die angesammelten Menschenmassen mußten, als die Weberei nichts mehr einbrachte, anderweitig ihr Brot verdienen. Heute ist die Lage wieder ähnlich: abermals bedroht Rheinland-Westfalen das kleine Niederschlesien und seinen Bergbau. Der Gründe sind einige. Die Kohlenflöze des niederschlesischen Reviers sind nicht rein. Mit der Kohle schlägt der Bergmann viele Steine, die seinen Wagen füllen, dem Unternehmer aber nichts einbringen; ihn
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im Gegenteil dazu zwingen, über Tag komplizierte Anlagen zu schaffen, um dort die Kohle von den Steinen zu reinigen. Die geologischen Verhältnisse sind überhaupt schlecht. Von zwei Seiten wird das niederschlesische Kohlenbecken von gewaltigen Porphyrkegeln durchbrochen, die vulkanischen Ursprungs sind. Durch die eruptive Gewalt des Durchbruchs sind die Kohlenflöze in ihrer Lagerung gestört und zum Teil überworfen worden. An solchen Stellen haben die Flöze eine Lagerung bis zu 85°. Die Arbeit in diesen stehenden Flözen ist gefahrvoll für den Bergmann, dementsprechend zeitraubend und teuer. Endlich ist aus den gleichen Gründen der Gebirgsdruck gewaltig, der auf diesen schmalen unterirdischen Gängen lastet; nur mit einem großen und kostspieligen Aufwand an Stützmaterial (Holz und Eisen) können sie erhalten werden.
Gegen diese Schwierigkeiten, die naturbedingt sind, kämpfen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam. Es ist ein wilder Kampf, der hier gekämpft wird. Der Arbeitgeber sagt: Es muß mehr produziert werden. Tatsächlich liegt hier die Durchschnittsleistung eines einzelnen Bauers um 14½ Prozent höher als vor dem Krieg. Die bestbezahlte Arbeitergruppe, die Bauer, verdient etwa Mk. 6.20 pro Tag, also Mk. 150,- monatlich. Davon gehen fast 20 Prozent für Steuern und sonstige Ausgaben weg. Da bleibt wenig Geld für einen Mann übrig, der eine Familie ernähren muß. Vor mir liegt eine Lohntüte, auf der zu ersehen ist, was ihrem Besitzer von einem Monatslohn von Mk. 152.30 plus Mk. 2.52 Kinderzulage abgezogen wurde:
Für Steuer Mk. 3.50
Für Invalidenversicherung Mk. 3.03
Für Knappschafts-Pens.-Vers. Mk. 9.90
Für Krankenkasse Mk. 6.44
Für Erwerbslosenfürsorge Mk. 2.16
Für Unterstützungskasse Mk. 1.50
Dabei kann dieser Mann noch von Glück sagen, daß bei ihm die Rubriken leer sind: Sterbekasse, Wassergeld, Strafe, Lampenreparatur, Gezähe, Altholz, Badeschnur.*) Es wird ausschließlich im Akkord gearbeitet. Dabei ist ein Mindestmaß festgesetzt dessen, was der Bauer schlagen muß. Schlägt er mehr, bekommt er das extra bezahlt, aber die Direktion behält es sich vor, das Mindestmaß herauszusetzen. Man hat auch in Frankfurt den "Weber"-Film gesehen. Die Zustände, die er zeigt, wird der Zuschauer historisch betrachten. Nun, es gibt keine Weber mehr in Schlesien; es gibt jetzt Bergleute. Es gibt auch Tuberkulose, auffallend viel Nervenerkrankungen, die eine Folge der Arbeit z. B. an den Preßlufthämmern sind. Kindersterblichkeit, Geburtenrückgang. (Vom Jahre 1921 bis 1926 um fast 15 Prozent). Kein Tag vergeht ohne Unglücksfall. Unter den 32 653 Mitgliedern des Knappschaftsvereins waren im Jahre 1924 2400 Invaliden; im Januar 1927 waren es 6136.
Der Besitz. Wie überall hat auch in Niederschlesien der Krieg und die Inflation einen Wandel in den Besitzverhältnissen herbeigeführt. Die letzten der kleinen Einzelgewerkschaften, deren Gewerken einmal die Bauern waren, denen der Boden gehörte, sind verschwunden. An ihre Stelle sind die großen Konzerne getreten, die sich heute in die Kohle teilen. Das sind die Kokswerke und Chemische Fabriken A.-G. Berlin mit etwa 33 Prozent der niederschlesischen Förderung; der Fürst Pleß mit etwa 23 Prozent; die Gewerkschaft Steinkohlenwerk Vereinigte Glückhilf-Friedenshoffnung mit etwa 14 Prozent; und die Rütgerswerke A.-G. Berlin mit 13 Prozent. Außer diesen gibt es noch ein paar kleine Gesellschaften.
Noch etwas hat der Krieg gebracht: neue Grenzen. Von einer Gesamtverladung im Jahre 1913 von 4 264 450 t gingen damals fast 1 300 000 t nach Böhmen in die alte Monarchie. Heute ist aus Böhmen die Tschechoslowakei geworden, die ihre eigenen Kohlenvorkommen ausgebaut hat und selber ein Kohlenüberschußland geworden ist. Von der Gesamtverladung im Jahre 1925 gingen nur mehr 440 000 t über diese nahe Grenze. Für den Rest mußten neue Absatzgebiete, fast durchweg in Deutschland, erschlossen werden; in Württemberg, in Bayern, in der Schweiz, in Gebieten also, die weit entfernt liegen und durch eine lange Reise eine hohe Fracht auf die Kohle schlagen. Vor dem Krieg waren dem Revier einige Sondertarife bewilligt worden, die es ihm ermöglichten, seine Kohle zu billigen Frachtsätzen zu versenden. Heute hat die Reichsbahn diese Vergünstigungen samt und sonders aufgehoben. Eine harte Maßregel, zu der sie nicht zuletzt der Versailler Vertrag zwingt.
Am meisten aber fürchtet man hier den Bau des Mittelland-Kanals. Man rechnet aus, daß nach dessen Fertigstellung sich die Absatzverhältnisse auf dem Kohlenmarkt grundsätzlich ganz erheblich verschieden werden, weil es dann möglich sein wird, die rheinisch-westfälische Kohle nach Berlin, nach Sachsen und noch weiter um 3 Mark billiger die Tonne zu bringen, als die soviel näherliegende schlesische Kohle. (Der Absatz nach Berlin betrug im Jahre 1925 etwa 430 000 t Kohle un 80 000 t Koks.) Damit werden diese und andere Märkte für Niederschlesien verloren sein, und das bedeutet - wahrscheinlich - das Ende des Reviers.
Entwicklung. Inzwischen lebt und wächst diese Stadt. Sie baut, sie plant, sie rührt sich. Sie möchte ein Theater und ein großes modernes Hotel haben, ein wenig phantastische oder deutlicher gesagt, unorganische Wünsche, wenn man nur so oben hin bedenkt, was ihr an sehr viel wichtigeren Dingen fehlt. Aber man hat durchaus das Gefühl, daß sich diese Stadt seit einiger Zeit der Arbeit bewußt geworden ist, die unter ihren Fundamenten an ihrem Fundament geleistet wird. Seit einiger Zeit, das heißt ganz einfach: seit der Republik. Die Arbeitskraft der 30 000 Bergleute beginnt am eigenen Ort sichtbar zu werden. Es geht langsam, es ist kaum zu beweisen; nur der Spaziergänger, der Fremde, der durch die Straßen geht, auf die Anhöhen steigt und betrachtet, glaubt es zu fühlen. Ja, es ist deutlich zu sehen. Aber vielleicht ist es zu spät ...
*)Die Räume, in denen sich die Bergarbeiter morgens und abends umziehen, sind zugleich die Baderäume. Die Leute ziehen ihre Kleider aus und ihre Arbeitsröcke an; um Platz zu sparen, werden die Anzüge an eine Schnur gebunden und an die Decke gezogen. Durch die Feuchtigkeit des Raumes verfault die Schnur ziemlich rasch, und die Verwaltung berechnet den Arbeitern von Zeit zu Zeit einige Pfennige für Badeschnur.
1Zuschreiben Bernard von Brentano nach dessen Werk: Der Beginn der Barbarei in Deutschland, Berlin 1932, S. 103-104.
Empfohlene Zitierweise
[Brentano, Bernard von]Zuschreiben Bernard von Brentano nach dessen Werk: Der Beginn der Barbarei in Deutschland, Berlin 1932, S.103-104., In der Heimat der 'Weber'. Entwicklung einer Stadtin: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Nr.599, S.1f. vom 14. August 1927, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 20831, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/20831. Letzter Zugriff am: 25.11.2024.
Online seit 20.01.2020.