Dokument-Nr. 12602
Tiwolowitsch, N.Gubin, S.: Bericht
des Zentralwirtschaftausschusses der Russischen Studenten Emigranten in Deutschland
über die Lage der Russischen Studenten Emigranten in 1924.. Berlin, 15. Dezember 1924
1) Die Erhöhung der Lebenskosten. Im Sommer 1923 genügten 10 Dollar vollkommen um alle Kosten während eines Monats, Lehrgebühren, Bücher u.s.w., zu decken. Im Sommer 1924 stieg das Mindestmass der Monatsspesen für ein sehr einfaches Leben bis 20 Dollar. Lehrgebühren stiegen von der Summe 2 bis 50 im Mittel Dollar pro Monat.
2) Aufhebung des Hilfewerks durch verschiedene Organisationen, oder unregelmässige Hilfe.
a) Die größte nach ihrem Ausmasse Hilfe wurde in 1923 von Mr Whittemore erteilt, welcher 111 Stipendiaten hatte. Vor dem Anfange des Semesters hat er diese Hilfe unterlassen ohne erklärtem oder sichtbarem Grunde, und schlug seinen Stipendiaten vor nach Frankreich zu übersiedeln, ohne ihre akademische Lage in Betracht zu nehmen. Bisher ist es gelungen nur 9 von diesen in Deutschland bleiben zu helfen.
b) Das Russische Rote Kreuz, welches 38 Stipendien verteilte, war wegen Mangel an Mitteln gezwungen diese Hilfe zu unterlassen, und konnte nur 9 Studierenden teilweise helfen.
c) Das Hilfskomitee der Russischen Studenten an dem Russischen Akademischen Verbande hat Hilfe nur in akademischen Nöten, und in sehr beschränktem und ungenügendem Masse erteilt. Nur nach Semesterschluss war eine größere Summe verteilt, mit welcher es gelungen ist die allerwichtigsten Spesen zu decken um das bereits verflossene Semester für einzelne Studierende zu retten.
Obwohl das Preussische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Lehrgebühren in einem sehr hohen Beitrage für Studierende der Hochschulen in Berlin und Hannover bezahlt hat, und die Ministerien für Handel und Industrie und für Landwirtschaft und Forsten mehreren Studenten die Lehrgebühren erlassen haben, fanden sich mehrere Studenten genötigt von den Schulen Urlaub zu nehmen, oder grosse Schulden zu machen, welche nicht gedeckt werden konnten.
Nur 2 Organisationen in Deutschland sind jetzt in der Lage regelmäßige Hilfe [zu] erteilen: - Das Deutsche Rote Kreuz und die Europäische Studentenhilfe. Das erstere erteilt Beihilfe Studierenden in technischen Fächern, indem es 50 Mk monatlich an 19 Studenten verteilt. Die ESH verteilt nicht mehr als 40 Mk pro Person monatlich, nur in Abhängigkeit von der Nähe zu den Prüfungen, was die Hälfte des Mindestmasses ist.
Es befinden sich jetzt in Deutschland im allgemeinen ungefähr 700 Russische Studenten Emigranten, welche teilweise in Hochschulen bereits studieren, und teilweise in Hochschulen nicht aufgenommen sind. Es ist ganz unmöglich ihre Anzahl genau zu bestimmen, weil viele das Land konstant verlassen, andere verlassen das Studium, um sich das Leben zu er-
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werben.Die Verteilung der Russischen Studenten Emigranten in den Hochschulen Deutschlands ist die folgende: -
Berlin, Technische Hochschule 48 | 48 |
" Universität | 30 |
" Handelshochschule | 26 |
" Landwirtschaftliche Hochschule | 18 |
" Kunst-Gewerbe-Akademie | 2 |
" Konservatorium | 1 |
Hannover, Technische Hochschule | 21 |
München, Technische Hochschule | 10 |
" Universität | 4 |
" Kunst-Gewerbe-Akademie | 1 |
" Konservatorium | 1 |
Halle, Universität | 6 |
Jena, Universität | 22 |
Giessen, Universität | 7 |
Danzig, Technische Hochschule | 17 |
Dresden, Technische Hochschule | 27 |
Braunschweig, Technische Hochschule | 3 |
Strelitz, Polytechnisches Institut | 11 |
Mittweida, Technikum | 3 |
Kötten, Technikum | 20 |
Kötten, Technikum | 20 |
Heidelberg, Universität | 3 |
Karlsruhe, Technische Hochschule | 8 |
Summe 289 |
Im ganzen sind also 289 Studenten bekannt. Ihre Nöte können folgendermaßen bestimmt werden: -
1) Lehrgebühren, Prüfungs-, Laboratoriengebühren u.s.w. – 75%.
2) Allgemeine (Wohnung, Speisung, Kleidung): -
a) 19 Stipendiaten des Deutschen Roten Kreuzes erhalten je 50 Mk pro Monat, was ungenügend ist.
b) Stipendien der Europäischen Studentenhilfe werden nur in Abhängigkeit von der Nähe zu den Prüfungen erteilt. Ungefähr 20 Stipendiaten, nicht mehr wie 40 (jetzt 30) Mk pro Monat.
Nur 40–45 Studenten erhalten also eine teilweise Hilfe, oder 15%.
Wenn gerechnet werden könnte, dass 20% im Wintersemester Lehrgebühren entrichten könnten, was wegen Lebenskostensteigerung zweifelhaft erscheint, so könnte man folgendes annehmen: -
selbständig wären 20%,
teilweise Hilfe erhalten 17%,
hilfslos 63%.
Das obengesagte zeigt, wie aussichtslos die Lage der Studenten er-
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scheint, und wie
beachtenswert sie ist.Die Studentenschaft ohne Hilfe weiter bleiben zu lassen ist unmöglich, weil Erwerbsmöglichkeiten in Deutschland sehr gering sind. Eine Beschäftigung zu finden, welche es zulassen würde gleichzeitig in der Schule zu arbeiten, ist erstens schon durch die Intensivität der Arbeit in Deutschland heute unmöglich; wegen der stets höher werdenden Verlangungen der Hochschulen würde die Erwerbsarbeit die Schulzeit verlängern, und somit den Wirkungsgrad der bereits erteilten Hilfe herabsetzen.
Das Übersiedeln ins Ausland (wie es bereits zwangsmässig z.B. durch Mr Whittemore durchgeführt worden ist) führt sogar unter der seltenen Bedingung der Kenntnis der Landessprache des neuen Landes wenigstens zum Verlust langer Jahre angestrengter Arbeit, ohne die Tatsache des Uebergangs in stets minderwertigere Schulen auch in Betracht zu nehmen. Eine solche Massnahme fällt auch jetzt wegen des fast allgemeinen Anerkennens der Soviets ab.
Die Befriedigung der Nöte der Studentenschaft könnte durch folgende Massnahmen durchgeführt werden: -
1) Regelmässige Stipendien, welche unabhängig von der Nähe zu den Prüfungen, sondern nur mit Rücksicht auf die akademische und wirtschaftliche Bedürftigkeit der Studenten und ihre Hilfswürdigkeit verteilt werden sollte.
2) Schaffung eines Studentenheims in Berlin, welches die Möglichkeit auch im Winter arbeiten bieten würde.
3) Unterstützung durch Ausleihe von Schulbücher und Lehrhilfsmitteln, welche ohne Pfandentnahme, sondern nur unter Verantwortung von studentischen Organisationen erfolgen sollte.
4) Maßnahmen zur Lösung der Gebührenerlassfrage.
Es wird diese Maßnahmen um desto leichter durchzuführen, dass die Anzahl der Russischen Studenten Emigranten sich stets vermindert.
Infolge der sich beständig ändernden Bedingungen ist es unmöglich ein Schema der in Betracht kommenden Ausgaben zu entwerfen.
Der Zentralwirtschaftsausschuss der Russischen Studenten Emigranten in Deutschland kann zu jeder Zeit die Lage der Russischen Studentenschaft in Deutschland schildern, als die die akademischen und wirtschaftlichen Nöte vertretende Organization [sic].
Der Vorsitzende
des Zentralwirtschaftsausschusses
der Russischen Studenten Emigranten
in Deutschland (untz.) N. Tiwolowitsch,
stud. rer. merc.
Der Schriftführer (untz.) S. Gubin,
stud. ing.