Dokument-Nr. 18538
Sonntag, Josef an [Unbekannt]
Berlin-Steglitz, 20. Januar 1925
Alle Welt wartet mit Spannung auf den Ausgang des Duells Luther-Wirth. Das Zentrum hat zu entscheiden, ob der Linksblock oder der Bürgerblock das Feld behaupten soll. Im Zentrum aber schlagen die von rechts und links kommenden Wogen heftiger denn je aufeinander. Wirth steht auf der Höhe seines Einflusses. Mit Hilfe der ihm jetzt blind ergebenen Presse des Zentrums, dessen rechter Flügel nur noch ganz wenige und nicht bedeutende Blätter zur Verfügung hat, sowie der meisten Organe der Demokratie und aller Zeitungen der Sozialdemokratie, zuletzt aber auch ganz besonders mit wirksamer Unterstützung fast der gesamten Auslandspresse hat der Führer der Regierungsopposition eine journalistische Einheitsfront für den Linksblock geschaffen, der gegenüber die Regierung Luther sich nur dann wird behaupten können, wenn sie beherzt den Stier bei den Hörnern zu fassen kriegt und den Kampf bis zum Aeußersten führt. Bei Wirth tritt klar die Absicht zutage, die öffentliche Meinung ausschließlich in den Dienst seines Blocks einzuspannen, dem Ausland die Rolle des Schützers seiner Koalition zuzuweisen und sich bei den Franzosen in Gunst zu erhalten, um damit den Linksblock wie einen rocher de bronze zu zementieren. Die parlamentarische Herrschaft wäre ihm dann sicher, und mit ihr könnte er schalten und walten und jeden Versuch zu einer Säuberungsaktion unterbinden. In erster Linie ist ihm an der Rettung diverser Genossen aus dem Sumpf zu tun. Die Erkenntnis von der drohenden Gefahr hat sich in den Kreisen des rechten Zemtrumsflügels Bahn gebrochen, die Gegenaktion könnte schärfer einsetzen, wenn eben Herr Wirth nicht die Macht der Presse ausspielen würde. Das Schicksal des neuen Kabinetts wird unter diesen Umständen noch länger ungewiß bleiben, falls es Wirth nicht schon beim ersten Ansturm gelingen sollte, seinen Gegner Luther aus dem Felde zu schlagen. Die Anfangstaktik Luthers ist staatsmännisch.
Bisher sprach man vom jüdischen Barmat, der schwache Charaktere verdorben habe. Es ist an der Zeit, die Rolle eines christlichen Barmat aufzuhellen, dessen Einfluß in gewissen Kreisen der Regierung und des Parlaments noch größer und viel verhängnisvoller war. Der bisherige Reichspostminister Höfle wäre sicherlich nicht in die Fallstricke gefallen, die ihm der Barmat aus Lodz gelegt hatte, wenn ihm nicht schlechte Beispiele vor Augen gestanden hätten. Seit Monaten unterhält man sich in parlamentarischen Kreisen sehr angeregt über das eigenartige Geschäftsverhältnis zwischen dem früheren Postminister Giesberts und Herrn Franz Semer, der bisher jeder wirtschaftlichen Konjunktur gewachsen war. Eine problematische Existenz, dieser Herr Semer. Vielleicht die seltsamste, die uns die Nachkriegszeit beschert hat. Einem Balzac oder Zola würde er einen dankbaren Stoff liefern. Vor dem Kriege hatte Semer seinen Laden in Brüssel aufgeschlagen.1 Mit Kruzifixen, religiösen Geschenkartikeln und anderen Devotionalien trieb er seinen kleinen Handel. Seinen Freunden gegenüber rühmt er sich zwar, daß er Habitué an der Brüsseler Börse gewesen wäre. Die Kenner seiner Antecendentien [sic] bestreiten das lebhaft. Im Kriege tauchte er bald hier, bald da in der Etappe auf. In Libau war seine Tätigkeit nach mehr als einer Seite unter die Lupe genommen worden. Aus dem Felde brachte der weiß Gott durch welche Instanzen zum höheren Offizier beförderte "Krieger" einen ganzen Klempnerladen voll Orden und Ehrenzeichen heim. Darunter auch das Eiserne erster, den Hausorden der Hohenzollern u. dergl. Das alles genügte ihm noch nicht für seine geschäftlichen Aufgaben. Er holte sich bei den ersten Regierungsinstanzen eine Legitimation nach der andern. Und so fand er allenthalben offene Türen. Doch war er ein armer Teufel, der lediglich vom Glanz seiner Orden und von dem Wert seiner amtlichen Ausweise lebte. Geld besaß er wenig, desto größer wurde allmählich sein Kredit. Mit diesem verstand er auch verschiedene bekannte Schwerindustrielle zu fesseln, denen er ebenfalls Kredite verschaffte. In Rheinland-Westfalen war Semer bald der Mann, der die größten Schwierigkeiten auf finanziellem Gebiet spielend leicht aus dem Wege räumte.
Sein Nimbus stieg, als er schwarz auf weiß in neuen Amtsausweisen die Gönnerschaft des Herrn Erzberger nachweisen und bald auch eine Bank aus der Taufe heben konnte, bei der die Herren Erzberger, Scheidemann, Südekum, Giesberts sowie eine Reihe anderer bekannter Größen des Zentrums und der Sozialdemokratie Pate standen. Da Erzberger ihm aber nicht immer so recht zu Willen war, so eröffnete Semer gegen seinen Geschäftsfreund hinterrücks jenen Feldzug, der Helfferich zu seinem denkwürdigen Siege im Prozeß seines Gegners Erzberger führte. Ich muß hier folgendes einschalten: Es war Ende April 1919, als der mir damals noch völlig unbekannte Herr Semer an mich herantrat und unter Vorweis seiner Korrespondenzen mit höchst einflußreichen Persönlichkeiten auch aus dem Wirtschaftsleben mir die ersten Unterlagen zu meinen Angriffen gegen Erzberger an die Hand gab. Mein Mißtrauen verstand Semer durch immer neue konkrete Mitteilungen über das Treiben von Erzberger und Genossen zu zerstreuen. Helfferich griff damals gleich nach den Verhandlungen über den Friedensschluß die Sache auf und führte einen erbitterten Kampf gegen Erzberger. Als Semer mir das Ansinnen stellte, meine Angriffe gegen Erzberger einzustellen, weil dieser inzwischen in verschiedenen Ein- und Ausfuhrgeschichten sowie in holländischen Kreditangelegenheiten klein beigegeben hatte, und Semer nun von mir erwartete, daß ich den gebeugten Erzberger wieder aufrichte, da trennten sich unsere Wege. Nun war Semer in großer Not, der Prozeß Erzberger-Helfferich war unvermeidlich geworden. Das Verräterherz schlug ihm bis zum Halse hinauf. Denn die Anklagen gegen Erzberger bauten sich fast ausschließlich auf Semers Preisgabe gewisser Geschäftsgeheimnisse auf, mit der er ursprünglich nur Erzberger, später auch andere Politiker und Regierungsbeamte, wie Scheidemann, Bell, Südekum, Bauer, Geheimrat Dr. Kräuter Kommerzienrat Rechberg u. a., in materielle und moralische Abhängigkeit von sich zu bringen hoffte. (Außer holländischen Krediten standen damals Lebensmittelschiebungen größten Stils in Frage.) Erzberger fiel, und Semer richtete sich wie eine frisch gewaschene Boje wieder in die Höhe.
Wie Semer dann durch Erzberger in den Besitz des Hauptanteils an der damals schwindsüchtig gewordenen "Germania" und zur Verwaltung der Bonifaziusstiftung - durch päpstliche Vermittlung - gekommen ist, bildet ein reizvolles Kapitel für sich. Der Weg zu den höchsten vatikanischen Ordens- und Ehrenzeichen stand ihm damit offen. Und als er gar die berühmte Sammlung zum Erwerb des Nuntiaturgebäudes in Berlin einleitete und bei diesem Geschäft - denn zum Geschäft vermengte und vermanschte er Religion und Politik in gleich großzügiger Weise - sogar den gerissenen Herrn Louis Hagen gründlich einseifte, der eben in Rom aus der Taufe gehoben und der katholischen Ordens-Trostmittel sehr bedürftig war, da stand Semer auf der Höhe seiner Leistungen. Er hat zwar Herrn Hagen ver-
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dächtigt, daß
dieser ihm für die bewußte Sammlung nur einen schäbigen Inflationsscheck übersandte, der im
Handumdrehen wertlos wurde, aber Personen, die Herrn Semers Geschäftstüchtigkeit besser
kennen, behaupten, daß er den Ertrag der Sammlung vermögender Katholiken mit einiger
Verspätung abgeliefert und kein schlechtes Inflationsgeschäft dabei gemacht habe. Sein
frommes Werk wurden jedenfalls mit der Verleihung der Würde eines päpstlichen
Geheimkämmerers gekrönt, die er zum Glanz der alten Eroberungen fügte und gewissermaßen als
Panzerhemd anlegte, an dem die Angriffe seiner Feinde abprallten.Auch mit Herrn Ebert wußte er sich ausgezeichnet zu stellen. Eine ganze Reihe katholischer Blätter wurde ihm untertan. Und er hätte sich in seinem dunklen Drang noch manchen anderen Ruhmestitel erwerben können, wenn nicht Herr Wirth dazwischengetreten wäre, als Semer daran ging, die Germania dem rechten Flügel des Zentrums auszuliefern. Semer schwankte gleich wieder nach links, wußte aber bald im Kampf um das Hauptorgan des Zentrums nicht mehr aus noch ein. Mißliche Zwischenfälle brachten ihn schließlich auf den Gedanken, seinen Aktienanteil und dazu noch einen zweiten, der ihm gar nicht gehörte, an Herrn von Papen zu verkaufen, aus welcher Transaktion ein sehr bösartiger Prozeß erwuchs.
Eine Zentrumsgröße nach der andern wandte sich von Semer, besonders nachdem er seinen Schwur nicht halten konnte, den "Montag Morgen" zu verklagen, der ihn moralisch so erbarmungslos gestäupt hatte wie nicht bald einen Christenmenschen, der an den Pranger kam. Auch die Wirtschaftler, denen er in besseren Tagen Gelder aus gewissen Kassen sowie Aufträge für Eisenbahn und Post vermitteln konnte, mochten von ihm nichts mehr wissen. Nur die Kirche kann ihn noch nicht fallen lassen. Es sollen da Bindungen vorliegen, über deren Natur sich manche Politiker den Kopf zerbrechen. Die meisten seiner früheren Freunde hat Semer bei dieser und jener Instanz angeschwärzt. Einer seiner heftigsten Gegner ist Herr Preuß, der Verfassungs-Preuß, der jetzt außerordentlich schweres Geschütz gegen ihn auffährt. Die Herren Scheidemann, Südekum, Bauer, mögen auch auf Semer drücken, da sie Mitwisser seltsamer Kreditaktionen zugunsten des Becker-Kohlewerks waren, eine Affäre, die viel Staub aufwirbelte, als zwischen dem Werk und der Schweiz das bekannte Abkommen perfekt wurde, bei dem auch Wolfang Heine als Jurist fungierte. Es wäre interessant, heute festzustellen, welche Rolle damals der Reichspostminister Giesberts spielte, dem Semer bald in hingebungsvoller Freundschaft, bald in bitterster Feindschaft gegenüberstand. Welcher Handel hat die beiden so eng und so oft zusammengeführt? Neben Kredit- auch Lieferungsgeschäfte? Generaldirektor Becker pflegte gute Provisionen zu zahlen. Nur daß er sie in der Inflationszeit mit einiger Verspätung zahlte, das wurmte einen Mann wie Semer ganz besonders, weil er im gleichen Falle mit derselben Münze zu dienen pflegte. Wie wenige andere Menschen ist Semer Mitwisser peinlichst gehüteter Amtsgeheimnisse und sucht aus diesen Kenntnissen Kapital zu schlagen, wenn er bei ihrer Ausbeutung auf Hindernisse stößt. Einmal hat er sich allerdings in der Adresse geirrt, als er dem früheren Reichspressechef Dr. Spiecker, weil dieser ihm in Sachen Germania-Aktien im Wege stand, in der Oberschlesieraffäre ein Panama zu bereiten gedachte. Er, der so gut im Sumpf Bescheid wußte, verbiesterte sich hier. Der Schlag, den er dem Gegner zudachte, sauste auf ihn selbst hernieder. Seitdem ist Herr Semer vom Pech verfolgt.
Weshalb ich die Geschichte dieser Laufbahn aufrolle? Weil sie ein Spiegelbild unserer Zeiten gibt. Und weil sie einen notwendigen Annex zum Barmatskandal bildet. Minister, Reichspräsident, Papst und Nuntius, Großindustrielle und Großbankiers wußte dieser Cagliostro der Inflationszeit mit einem fast genialisch zu nennenden Raffinement einfachster Mittel, die er der Regie des schlichten Hauptmanns von Köpenick abgesehen zu haben schien, hinters Licht zu führen. Semers Name wird in der Geschichte weiter leben, weil er und nicht, wie die Linke immer behauptet, Helfferich Erzberger das Grab gegraben hat und weil der landfremde Jude Barmat sich leichter die Hände in Unschuld waschen könnte als der christkatholische Geheimkämerer Semer.
In hochachtungsvoller Begrüßung
Josef Sonntag
1↑Passage von "Seit Monaten" bis "in Brüssel aufgeschlagen" links entlang des Textes hds. in roter Farbe von unbekannter Hand, vermutlich vom Empfänger, markiert.