Dokument-Nr. 2969
Franz an Familie des Kriegsgefangenen Franz
Château Gontier, 24. Oktober 1919

Ihr Lieben!
Im dritten Jahr! und nichts wie Gewißheit noch auf ungewisse Zeit als Geisel, Druckmittel und Maltraitierungsobjekt von den Kämpfern für Kultur und Freiheit eingesperrt zu sein. Dieser Idiot von Professor, der den Gefangenen für Friedensbundespropaganda nahetreten will, soll doch mal selbst herkommen und sich nur 8 Tage einsperren lassen, vielleicht vergeht ihm dann die Lust. Wenn ihm seine Haut lieb ist, rat ich ihm, den französischen P. G. nicht zu nahe zu "treten", sonst tritt nicht er, sondern andere. Ich glaube, daß noch sehr wenig Menschen den Charakter dieses Negervolkes richtig erkannt haben oder vielmehr den der herrschenden Klassen und deren Werkzeuge. Sonst kann ich mir nicht vorstellen, daß man sich mit einem Volke, das im Untergehen ist und sich in der letzten Verzweiflung an die verrücktesten Ideen klammert, liiren will. Solche Kerle sollten doch nur mal die Zeitungen lesen, die Literatur verfolgen und sich über die (künstlich erzeugte) Stimmung den Boches gegenüber orientieren. So mancher Artikel in den "Mitteilungen" hat uns sehr viel Freude gemacht, aber selbst bei dieser Angelegenheit gibt es Vereine, die sich gegenseitig Konkurrenz machen! Unglaublich! Die Lersnerbriefe enthalten doch recht viel Geseiche! Sauber ist die Antwort eines Heimgekehrten auf den Dradt'schen Bericht. Ganz das, was wir schon gesagt hatten, als wir von seiner Reise lasen. Zu Mutters Bemerkungen über das katholische Frankreich jetzt nur: Die schlimmsten Haß- und Racheneger sind die katholischen Pfaffen. Der schlimmste, gemeinste Sergent war in Cholet ein kath. Pfaffe.
In letzter Zeit scheinen aus Deutschland Beschwerden über Ch. G. bei den Behörden einzutreffen. Dann wird mit viel Lärm wenig gemacht wie immer, seit wir hier sind: "wegen des bevorstehenden Rapatriments können grössere Änderungen nicht mehr gemacht werden" gesagt. Geringe Herabsetzung der Kantinenpreise für einzelne Artikel und sogar Beginn einer ordentlichen Buchung und Aufbewahrung der zurückgehaltenen Sachen ist der letzte Erfolg. Die geklauten
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und jetzt als fehlend festzustellenden Sachen <sind damit nicht>1 ersetzt.
Am 20. erhielt ich Brief 38, am 21. Brief 39 und am 22. die "Mitteilung" in den Umschlägen 1-4. Diese und noch andere sind schon längere Zeit da, aber da jetzt wieder ein sergant (ohne Deutsch zu verstehen) die Post nachsieht und stempelt, werden hin und wieder solche Sachen zurückgehalten. Am 20. kamen Pakete 18, 19, 22 und das Schweizer, am 21. N° 17, 20, 26 und heute N° 24. Alle bis auf 24 in gutem Zustande. An Wertbriefen kamen am 20. N° 5, 6, 7 und am 22. N° 8. Recht innigen Dank vor allem Dir liebe Mutter! Ludwig will nun wohl bei der Branche bleiben? Wenn er sich in dem reinen Schreibstubenbetrieb wohl fühlt, ist das ja sicher aussichtsreich. Für mich ist das glaube ich nichts.2
Voriges Mal habe ich den letzten Teil des Briefes nicht mehr abgeben können, da will ich doch lieber sofort 6 Seiten schreiben.
Die Nachrichten, die wir von den inzwischen heimgekehrten Kranken haben, sind voll Lob für die Aufnahme in Meschede, voll Wut über das Verhalten der Badehosenkollegen. Jetzt kommen hier wieder die irrsinnigsten deutschen Zeitungsmeldungen: "hat angefangen", "beginnt am 22.", "am 25.", "am 27.", "am 29." u. s. w. "bis Weihnachten ist alles rapatriiert". Der größte Humbug kommt in die Zeitungen und wird von den armen Angehörigen "was man wünscht, das glaubt man gern" als Evangelium aufgenommen. Aber etwas Tatsächliches, sei es über das Los der Gefangenen, sei es über die Heimbeförderung und deren Dauer wird nicht veröffentlicht. Daß die Heimbeförderung günstigsten Falls 9 Monate dauern muß, hat sich anscheinend noch kein Mensch überlegt. Ein Beispiel: Am 29. August erschien das berüchtigte Menschlichkeitsmanifest, am 20. Oktober veröffentlicht Frankreich, daß vorläufig Kriegsgefangene nicht fortkommen, die Zivilinternierten aber sofort. Nun hat man in Deutschland aber außer Acht gelassen, daß immédiatement in Frankreich die Bedeutung "man wird sehen" hat, so ist denn jetzt der erste Zug gefahren und der 4. und letzte soll an 3. November fahren.
Nun hoffe ich liebe Eltern, daß es Euch und den Brüdern gesundheitlich befriedigend geht und Euch die unangenehmen Verhältnisse nicht zu viel Kummer machen. Du liebe Mutter sollst Dir vor allem um mein Ergehen nicht soviel Sorge machen. Körperlich geht es mir so, daß mir ev. Magen und Darmsachen nach Vorschrift Birrenbach nicht so leicht fallen werden.
Die allerliebsten Grüße
Franz
1Hds. eingefügt, vermutlich vom Absender.
2"Am 20. erhielt … glaube ich nichts." hds. gestrichen von unbekannter Hand.
Empfohlene Zitierweise
Franz an Familie des Kriegsgefangenen Franz vom 24. Oktober 1919, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 2969, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/2969. Letzter Zugriff am: 24.11.2024.
Online seit 04.06.2012.