Dokument-Nr. 6441
Wiedenfeld, Kurt August Bernhard Julius: [Kein Betreff]. Moskau, 19. Juni 1922
Zunächst macht sich, wie ich bereits anderweit berichtet habe, der alte Gegensatz zwischen der schwarzen und der weißen Geistlichkeit auch in dieser Frage sehr nachhaltig geltend. Innerhalb der weißen Geistlichkeit überwiegen jene Popen, die draussen auf dem Lande und auch in der Stadt ein recht kümmerliches Dasein fristen und umsomehr mit ausgeprägtem Neid auf die von der schwarzen Geistlichkeit besetzten hohen Stellungen zeigen, als ihnen selbst nach orthodoxem Kirchenrecht das Erreichen dieser Stellen in aller Regel unmöglich ist. Die Sowjetregierung und die kommunistische Partei haben natürlich das Ihre getan, diesen Zwiespalt zu erweitern, indem sie mit aller Nachhaltigkeit den hohen Geistlichen üppiges Leben, Herrschsucht usw. in ihrer Presse vorzuwerfen pflegen. So konnte auch nicht ausbleiben, dass ein beträchtlicher Teil der niederen Popen dem Sowjetregiment durchaus freundlich, zu mindest nicht ablehnend gegenüber steht.
Auch die hohe, die sogenannte schwarze Geistlichkeit ist jedoch nicht in sich geschlossen. Schon in der zaristischen Zeit, als noch der Zar durch das Heilige Synod das kirchliche Regiment in starker Hand hielt, spielten Eifersüchteleien unter den Bischöfen und Metropoliten eine derartige Rolle, dass der Prokureur des Synods, bekanntlich ein Verwaltungsbeamter und Laie, gerade hierauf seine beherrschende
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Stellung zu stützen pflegte. Die Erneuerung der Patriarchenwürde hat hierin nicht nur nichts geändert, sondern im Gegenteil der Eifersucht der nichtgewählten, aber sich für berufen haltenden Bischöfe neue Nahrung zugeführt. So stand gleich von Anfang an der Bischof Antonin in bekanntem Gegensatz zum Patriarchen Tichon, was jetzt wieder beim Kampf um die kirchlichen Schätze besonders hervortritt, vor allem aber in der Stellung zu gewissen Ritualfragen sich äussert. Der Sowjetregierung ist es gelungen, Antonin, einen sehr guten Redner, auf ihre Seite zu ziehen; von ihm ist der Antrag ausgegangen, ein Konzil zur Wahl eines neuen Patriarchen einzuberufen und bis dahin einem vorläufigen Obersten Kirchenrat die Leitung der orthodoxen Kirche zu übertragen, was natürlich die Stellung des Patriarchen erheblich geschwächt hat. Endlich hat das Verhalten des Patriarchen selbst in der Frage der Kirchen-Mobilisierung in seine eigene Anhängerschaft eine gewisse Spaltung hineingetragen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der streng kirchlich gesinnten Kreise steht auf dem Standpunkt, dass die nicht unbedingt zur Durchführung des Gottesdienstes erforderlichen Geräte und erst recht die sonstigen Kirchenschätze zu Gunsten der Hungernden herausgegeben werden müssten, und dass keine genügende Rechtfertigung der Weigerung in dem Hinweise läge, dass man über die Verwendung der herausgegebenen Kirchenschätze keine Sicherheit habe. Ein anderer Teil nimmt es dem Patriarchen übel, dass er in dem Prozess gegen die Geistlichen, der sich schon abgespielt hat, so provokatorisch gegen die Sowjetregierung aufgetreten sei. Auch dies wird von den Gegnern des Patriarchen ausgeschlachtet; Bischof Antonin soll kürzlich in einem Vortrag öffentlich die zum Patriarchen haltenden Kreise beschuldigt haben, dass das Blut der hingerichteten Geistlichen an ihnen
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klebe. Erst recht berufen sich die Sowjetleute darauf, dass der Patriarch ihnen durch sein Auftreten eine Schonung der Geistlichen geradezu unmöglich gemacht habe und dass es schon eine große Milde von ihrer Seite bedeute, wenn sie den Patriarchen nicht ins Gefängnis, sondern nur ins Donskoi Kloster zu einer Art von Ehrenhaft abgeführt hätten. In dieser Atmosphäre kirchlicher Zwiespaltigkeit hat der Ruf nach einer kirchlichen Reform naturgemäss eine besondere Resonanz bekommen. Alle Welt spricht – für und gegen – vom "neuen Geist". Sieht man aber näher zu, so handelt es sich, genau wie bei den meisten russischen Sekten, lediglich um Form- und Ritusfragen, wobei einstweilen nur der Streit um die zu benutzende Sprache (altslavisch oder russisch) von wesentlicherer Bedeutung zu sein scheint. Antonin z. B. hält Messe und Predigt in russischer Sprache. Ich muss aber bemerken, dass es innerhalb der russischen Kirche schon seit langem Gebiete gibt, die sich immer der russischen Sprache als ihrer Ritussprache bedienen.
Von grösserer sachlicher Bedeutung könnte die Frage für den Zusammenhang von Kirche und Staat sein, wenn nicht die Sowjetregierung sich sehr streng von jeder Einmischung in die kirchlichen Dinge fernhielte. Augenblicklich hat auch diese Frage daher nur theoretische Bedeutung, beschäftigt aber eben deswegen die kirchlich und zaristisch zugleich gesinnten Kreise in erheblichem Masse.
gez. Wiedenfeld.