Dokument-Nr. 14217
Weidinger, Joseph an Pacelli, Eugenio
Würzburg, 17. September 1923
Das Heim, das am 17. April 1921 feierlich eröffnet wurde, hat sich im Laufe dieser 2 Jahre, äußerlich betrachtet, dermaßen günstig entwickelt, dass der Charakter des ehemaligen Lagers vollständig in den Hintergrund getreten ist. Die ehemaligen Mannschaftsbaraken [sic] sind für die Kinder eingerichtet, die Offiziersbauten adaptirt zu einem Erholungsheim für Erwachsene, das Offizierskassino [sic] als Kirche, die Kaserne als Wohnung für die Schwestern und die Stallungen für Küche und Ökonomiegebäude. Es muß das Organisationstalent des Herrn Stadtrats Staab ebenso rückhaltlos anerkannt werden wie sein Geschick und sein unermüdlicher Eifer, mit welchem er das Unternehmen bis jetzt zu finanzieren und für dasselbe [sic] immer neue Kreise zu interessiren wußte.
Es steht außer allem Zweifel, dass mit dem Kinderheim eine segensreiche Einrichtung geschaffen wurde und dass sein Gründer damit sich große Verdienste erworben hat.
Gleichwohl glauben wir verschiedenen Bedenken, die uns teils auf Grund eigener Beobachtung, teils aus schriftlichen und
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mündlichen Äußerungen unserer Geistlichen der nächsten Umgebung im Laufe der letzten Zeit erwachsen sind, hier offen Ausdruck verleihen zu sollen.1) Zunächst möchten wir den Satz der Eingabe richtig stellen, dass Marienruhe ein Kinderheim sei "auf kathol. Grundlage." Der Verein Kinder- und Erholungsheim Marienruhe trug von allem Anfang an interkonfessionellen Charakter und trägt denselben auch heute noch, wie die Zusammensetzung des Verwaltungs-Ausschußes beweist. Der simultane Charakter des Kinderheims ist von Anfang an in dem mit der Militärbehörde abgeschlossenen Pachtvertrag festgelegt. Katholisch ist allerdings die derzeitige Leitung des Heims durch Herrn Staab und die katholischen Ordensfrauen. Tatsächlich wird das Simultaneum in weiten Kreisen und namentlich von der katholischen Geistlichkeit der nächsten und weiteren Umgebung wenig günstig beurteilt, deswegen, weil das Heim zum größten Teil mit katholischem Gelde – man denkt dabei an die ansehnlichen Spenden des hl. Vaters, der holländischen Bischöfe und die Zuwendungen der katholischen Bevölkerung – eingerichtet und erhalten wurde und dann Kindern aller Konfessionen, selbst Kindern aus Freidenkerfamilien offen steht. Wie weit diese Bedenken begründet sind, können wir ziffermäßig nicht feststellen, da uns eine Zusammenstellung der Gelder, die aus rein katholischen Kreisen stammen, nicht zur Verfügung steht. Wir müßten verlangen, dass wenigstens der kirchlichen Oberbehörde gegenüber alljährlich einwandfrei festgestellt werde, welche Zuschüsse das Heim von katholischer und protestantischer Seite und aus neutralen Organisationen erhalten hat.
2) Viele Mißstimmung erregten sowohl bei unserem Klerus wie bei der Leitung des Diözesan-Charitas-Verbandes die häufigen Sammlungen für Marienruhe. Während man von
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Seiten des Diözesan-Charitas-Verbandes sich mit Recht bemüht, die Sammlungen für Charitas, Diözesanseminare und die einzelnen Kongregationen nach einem bestimmten Plan zu organisieren, um dadurch die wilden Sammlungen einzelner Ordensfrauen und einzelner Ordenshäuser zu verhindern, hält sich Marienruhe an keinerlei Abmachung und sammelt, wann und wo und was es will; und weil die Seelsorgsgeistlichkeit zum größten Teil nicht mehr für Marienruhe eintritt, wendet sich dasselbe an die Bürgermeister und Lehrer.3) Entgegen dem Bemühen der Direktion durch eine vielseitige Reklame die Frequenz des Heims tunlichst zu steigern, sind wir der Auffassung, dass dem wirklichen Kinderelend wirksamer begegnet werden könne einmal durch Unterstützung der betreffenden Familien seitens der Charitas-Organisationen und andererseits durch Verbringung der Kinder in die bereits bestehenden Diözesananstalten. So wurden beispielsweise Kinder aus der Pfalz mit großen Kosten nach Marienruhe verbracht, die recht wohl in den dortigen Anstalten hätten Aufnahme finden können.
4) Wohl hat Herr Direktor Staab es bisher verstanden, die weitesten Kreise für das Heim zu interessiren und demselben immer wieder neue Unterstützungen zu erschließen und dadurch das ganze Unternehmen zu halten. Abgesehen aber von der stetig zunehmenden Teuerung wird dem Heim eine wesentliche Belastung erwachsen dadurch, dass Herr Staab nicht mehr wie seither charitativ im Nebenamte, sondern als hauptamtlich-besoldeter Direktor die Leitung des Heims übernehmen soll. Welchen Gehalt er als solcher beansprucht und der Ausschuß ihm zugebilligt hat entzieht sich unserer Kenntnis. Ebenso enthalten wir uns eines Urteils darüber
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ob er als ehemaliger Kaufmann die nötigen fachmännischen Vorkenntnisse besitzt um einen größeren landwirtschaftlichen Betrieb zu leiten und der damit gegebenen Schwierigkeiten (häufiger Wechsel des Personals) Herr zu werden.Was wir fürchten ist das Eine, dass der durch Aufstellung eines hauptamtlichen Direktors erforderliche Mehrbedarf unmöglich aus dem Betrieb herausgewirtschaftet werden kann und deshalb wiederum durch freiwillige Spenden aufgebracht werden muß, eine Mehrbelastung, die man auf die Dauer der Charitas wohl kaum zumuten darf, ohne dadurch die übrigen charitativen Anstalten auf's Schwerste zu schädigen.
Wir befürworten wohl für dieses Mal eine besondere Unterstützung, deren Höhe zu bestimmen wir dem gütigen Ermessen des hl. Vaters anheimgeben müssen; in Zukunft aber könnten wir eine ähnliche Sonderaktion des Vereins Marienruhe schon mit Rücksicht auf unsere übrigen charitativen Anstalten, die um ihre Existenz ringen, nicht wieder befürworten.
Für dieses Gutachten stimmten in heutiger Sitzung von den anwesenden neun Herren acht; dagegen stimmte Herr Dompfarrer Dr. Winterstein, der seinen Standpunkt in dem beiliegenden Schriftstück näher begründet hatte.
Ehrerbietigst gehorsamst
Dr. Weidinger, vic. gen.