Dokument-Nr. 16331

Schulte, Karl Joseph: Zur kirchlichen Lage der deutschsprechenden Katholiken in den deutschen sog. Minderheiten von Südost-Europa.. Köln, 08. Dezember 1926

Die Lage der deutschen Minderheiten in Rumänien und Jugoslavien verdient vom Standpunkte unserer heiligen Kirche aus eine tiefernste Beachtung.
Nach der kirchlichen Seite hin fühlen sich diese Minderheiten gedrückt und verlassen, zum Teil auch vergewaltigt. Sie rufen nach dem Schutze des kirchlichen Rechtes. Sie verlangen dringend den Religionsunterricht für ihre deutschgeborenen Kinder in der Muttersprache. Sie sehnen sich nach Predigt und Seelsorge in der Muttersprache. Sie verlangen nach Priestern, die ihre Muttersprache sprechen. Sie wünschen gleichzeitig eine ihrer Bedeutung und Bevölkerungszahl entsprechende Vertretung in der Hierarchie ihres Landes. Sie wollen eine Jugenderziehung in katholischen Schulen, in denen auch Unterricht in der deutschen Muttersprache gesichert ist. Die dem Naturrecht widersprechende kirchlich–kulturelle Unterdrückung, die in der Entziehung der Muttersprache gipfelt und damit den katholischen Minderheiten die Erfüllung ihrer heiligsten religiösen Pflichten erschwert, führt zu einer gesteigerten nationalen Reaktion gegen
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die unverschuldete Eingliederung in einen fremden Staat. Einer friedlichen Entwicklung der neuen innerstaatlichen Verhältnisse und der internationalen Beziehungen ist damit nicht gedient. Zu einer europäischen Minderheitsbewegung haben sich bereits viele deutsche und auch nichtdeutsche Minderheiten zusammengeschlossen. Die beiden großen europäischen Minderheitskonferenzen, die in Genf tagten, haben das Interesse weiter politischer und kirchlicher Kreise für die Lage der Minderheiten geweckt. Deutsche in Lettland und in Esthland [sic], in Polen und in Litauen fühlen sich vereint mit den Deutschen in Italien, Rumänien und Jugoslavien. Eine Art A B C, eine Art Fibel des Minderheitenrechtes und Erstanfänge einer Literatur der deutschen Minderheitengebiete entwickeln sich, eine neue internationale komparative Methode der Rechtslage tritt in Erscheinung. Man vergleicht den Rechtszustand mit Lettland und Rumänien. Man erkennt als Ideal die kulturelle Autonomie der Deutschen in Esthland an, die tatsächlich etwas Vorbildliches und Grosszügiges besitzt, die eine Aussöhnung zwischen Nationalkultur und Minderheitenrecht bedeutet, und die auf das Bewusstsein aller politischen Minderheitsgruppen in europäischen Staaten als großartiger Anschauungsunterricht und als allgemein nachzuahmendes Beispiel
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Einfluss ausübt.
Man erwärmt sich aber nicht bloss an dem Aufstieg der Minderheiten in den vormals russischen Ostsee-Provinzen, man sucht auch schon viel energischer als früher im Mutterlande eine Stütze für die Erhaltung der angestammten Kultur, wie andererseits die katholischen Minderheiten von Rom eine Hilfe zur Erhaltung der Muttersprache auf dem religiösen Gebiete erhoffen.1
Das Interesse für die im Auslande angesiedelten Deutschen hat sich seitdem im Mutterlande wesentlich gehoben. Die in fremde Staaten eingegliederten deutschen Minderheiten schöpfen daraus, im Zusammenhang mit der allgemeinen internationalen Minderheitsbewegung, einige Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lage.
Auf religiösem Gebiete sehen dagegen die katholischen Minderheiten immer noch mit grosser Sorge der Zukunft entgegen. Diese katholischen Minderheiten vergleichen ihre Lage mit den protestantischen Volksgenossen in der politischen Diaspora. Diese protestantisch-deutschen Kreise, z. B. in Siebenbürgen, besitzen eine gewisse kirchlich–kulturelle Autonomie; sie sorgen selbst für ihren deutschen Gottesdienst und geben sich ihre Kirchenverfassung, sie wählen ihre Geistlichen und berufen sie vielfach aus dem Deutschen Reiche;
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sie schaffen sich selbst deutsche kirchliche Wohltätigkeitsanstalten. Die deutsche Sprache vor allem ist für sie auch nach der religiösen Seite das einigende und stärkende Band. Sie haben, wie in Siebenbürgen, eine hochstehende deutsche Kultur geschaffen, die sich dessen wohl bewußt ist, dass gerade das religiöse und christliche Element eine unerlässliche Voraussetzung für die Befestigung des Deutschtums bildet.2
Ihre eigene ungenügende kirchliche Lage vergleichen die katholischen Minderheiten missgestimmt mit der viel vorteilhafteren, weil selbständigeren Stellung ihrer protestantischen Volksgenossen. Sie stehen der Tatsache gegenüber, dass sie vielfach in ein Bistum eingebettet sind, dessen Bischof nicht nur nicht ihres Stammes ist, sondern manchmal antideutschen politischen Bestrebungen der nationalen Regierung bewusst oder unbewusst Vorschub leistet. Sie sehen es zum Beispiel im Banat ungern, daß sie vielfach von Priestern geleitet werden, die für die treubewahrte deutsche Frömmigkeitsart kein Interesse und Verständnis haben, die noch im Sinne des Ancien Régime die magyarische Kultur als überlegen betrachten, die die Gefahr der neuerobernden Kraft des protestantischen Auslandsdeutschtums nicht würdigen und verstehen. Daneben allerdings gibt es im Banat an-
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dere Priester, die jeden Nationalismus, sowohl den magyarischen wie den deutschen, mit aller Entschiedenheit ablehnen, die sich aber darüber klar sind, dass nur durch die Beibehaltung der deutschen Muttersprache im kirchlich-religiösen Leben die Erhaltung des deutschen katholischen Volksteils im katholischen Glauben möglich ist. Wirklich sind gerade die gewissenhaftesten und die geistig besonders hervorragenden Priester in den deutschen Minderheiten - einerlei ob sie in Elsass-Lothringen oder in Südosteuropa wohnen - der Auffassung, dass mit der national-staatlichen Beseitigung der deutschen Muttersprache gleichzeitig die katholische Religion einen unermesslichen Schaden erleiden werde, dass es für unsere katholische Sache einen schweren Schlag bedeutet, wenn die Meinung unter den deutschen Minderheiten noch mehr allgemein würde, dass wohl protestantischerseits Schutz zu finden sei, dass die Leitung unserer heiligen Kirche mehr auf die Ansprüche der siegreichen Nation als auf den Schutz der unterdrückten polititischen Minderheiten in ihren heiligsten und innersten Rechten Rücksicht nehme.
Das religiös–sittliche Leben speziell der Minderheiten Rumäniens und Jugoslaviens steht sowieso
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in einer sehr starken Krise. Diese Krise geht von der ungünstigen volkswirtschaftlichen Lage aus. Es fehlt an Land, an Ackerfläche, an Grund und Boden. Die ehemals z. T. von der Kaiserin Maria–Theresia so gross angelegten Siedelungen brachten es zu einer numerisch starken Bevölkerung; sie haben auch mit steigender Bevölkerung viel Land zugekauft. Aber jetzt ist infolge der sog. Agrarreform bzw. infolge des Landraubes der jungen Nationalstaaten (Rumänien, Jugoslavien, Tschechoslowakei) kein Land mehr zu erwerben. Eine Folge davon ist die Einschränkung der Geburtenziffer, die gerade in vielen Bezirken der Minderheiten (d. i. in Rumänien, Jugoslavien, im östlichen Teile der Tschechoslowakei; daneben gibt es allerdings in einzelnen Bezirken noch Familien mit blühender Kinderzahl) einen erschreckenden Umfang angenommen hat. Im Banat ist stellenweise das Zweikindersystem durch das Einkindersystem ersetzt. Alles dies sind Quellen grosser sittlicher Gefahren, und es bedarf grundlegender sittlicher und religiöser Maßnahmen für diese deutschen Minderheitengebiete, für die auch die Mithilfe von musterhaften Vertretern des reichsdeutschen Klerus segensvoll werden kann. Zwei Priester der Diözese Rottenburg wirken seit kurzem bereits mit
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grossem seelsorglichen Eifer im Banat. Für die Bewältigung dieser Krise ist die deutsche Muttersprache als Unterrichtssprache, die katholische deutsche Schule und der Gottesdienst mit deutscher Predigt und Katechese gar nicht zu entbehren.
Werden diese elementarsten religiösen Grundrechte nicht von der kirchlichen Autorität garantiert, wird das Minderheitenrecht nicht nach der religiös-kirchlichen Seite irgendwie für diese deutschen Minderheiten gesichert, so ist nach den zuverlässigsten Informationen mit der Ausbreitung einer "Los von Rom-Bewegung" zu rechnen. Das ganze Milieu ist noch mit einiger Hoffnung auf Rom erfüllt, aber wenn diese Hoffnung fehlschlägt, wird dem Protestantismus eine reiche Ernte zufallen. Mit starkem Misstrauen begegnet man den beginnenden Konkordatsverhandlungen, in die der hl. Stuhl mit Jugoslavien und Rumänien eingetreten ist oder demnächst eintreten will. Man fürchtet, daß in diesen Verhandlungen für die Minderheiten nichts erreicht wird. Mit Hohn hat bereits einer der rumänischen Minister dem deutschen Abgeordneten des Minderheitengebietes des Banats, dem Abgeordneten Dr. Kräuter, mitgeteilt, man werde rumänische katholische Knaben in Altrumänien ausbil-3
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den und sie in das deutsche Banat senden als künftige Pfarrer und Bistumsbeamte. Mit Erbitterung werden derartige rumänische Verlautbarungen in den führenden deutschen Kreisen erörtert. Besonders die katholischen intellektuellen Kreise der deutschen Minderheiten (die Laien, die freien Berufe) sind aufs tiefste verwundet. Sie senden ihre Söhne nach Deutschland. Diese Studenten kehren wenige Jahre später nach den heimatlichen deutschen Minderheitengebieten zurück und urteilen oft mit ätzender Kritik über deren auch nach der kirchlichen Seite hin desolate Lage. Trotz mancher Uebertreibungen, Zuspitzungen bei solcher Kritik hören die Volksgenossen doch den richtigen Kern heraus. Die Zurückgekehrten weisen darauf hin, wie hoch das Elternrecht im Mutterlande, in der deutschen Reichsverfassung, bewertet wird; dass gerade im Zeichen des Elternrechtes und des Naturrechtes die deutschen Katholiken ihren Schulpolitischen Kampf führen; wie aber in den breiten Gebieten der deutschen Minderheiten das Elternrecht und Naturrecht (Schulunterricht in der Muttersprache) nicht in Erscheinung treten darf; dass sich hier also im Katholizismus Dissonanzen und Unterschiedlichkeiten auftun, die unerträglich sind. Gerade die akademische gebildete Jugend 4
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dieser Minderheitsgebiete verweist auf die Vorteile der religiös–kulturellen Stellung, die der deutsche Protestantismus in den deutschen Minderheitsgebieten (vor allem in Siebenbürgen) besitzt. Es fallen bereits ebenso deutliche wie hässliche Aeusserungen aus diesen Kreisen katholischer Akademiker (laureati), die ihre Bildung in Reichsdeutschland genossen haben (besonders in Marburg, wo protestantische Theologen in Dingen des Auslandsdeutschtums führend sind), man müsse die katholischen deutschen Gemeinden religiös neu konstituieren, man müsse sie selbständig machen, man könne die deutschgegnerische Haltung von nationalistischen Professoren und Priestererziehern in den Priesterseminaren nicht mehr ertragen. Die Erbitterung der Unterdrückten wächst durch solche Reden bedrohlich. Besonders wird in Jugoslavien das Vordringen der altslavischen Kirchensprache mit großer Erbitterung betrachtet; diese Propaganda für altslavische Liturgie macht auch das einfache und schlichte deutschsprechende Volk kopfscheu. Der einfache Mann aus dem Volke und auch die ältliche schlichte Frau wie die religiös unterwiesene Jugend waren gewöhnt, das Evangelium und die Präfation in lateinischer Sprache zu hören. Man hat ihnen daran 5
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den Universalismus der heiligen katholischen Kirche erklärt. Nun sehen die den Einbruch der altslavischen Kirchensprache als eine Paralellaktion [sic] zu den politischen Unterdrückungen an, denen sie von Belgrad aus unterworfen sind. Sie protestieren in ihrer Presse, und diese Proteste werden von der reichsdeutschen Presse aufgenommen. Man will in diesen katholisch-deutschen Minderheitskreisen sicherlich nicht eine bewusste und gewollte "Los von Rom–Bewegung" (es ist viel tief überzeugter Katholizismus dort vorhanden), aber man kann doch nicht übersehen, daß eine ungeheure Erbitterung durch die Massen geht, dass eine Reihe hochstehender geistiger und kultureller Führer aus dem Laientum hier und da an eine neue kirchenpolitische Orientierung denken, die praktisch auf eine Abwendung von der Kirche hinauskommt. Dazu kommt das unheilvolle kulturelle Vordringen des, wie vorher angedeuteten, freiheitlich sich gerierenden Protestantismus, der den deutschen Minderheiten mit Vorträgen und Büchern, mit Besuchen und materiellen Unterstützungen so viele Vorteile und geistige Beeinflussung bringt. Wenn es im Laufe der Jahre in den deutschen Minderheiten des Südostens zu einer auch nur teilweisen Loslösung von der heiligen Kirche 6
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kommt, würde die Rückwirkung auf Reichsdeutschland ungeheuer sein. Darüber ist kein Wort zu verlieren. Diese Spannung zwischen Nationalität und Kirche würde auch die reichsdeutschen Katholiken in eine unbequeme Situation bringen. Sie würde zwar nicht die Treue der reichsdeutschen Katholiken im Glauben wankend machen können. Die Glaubensfestigkeit und Glaubensfreudigkeit dürfte im allgemeinen in den breiten Massen nach wie vor dieselbe bleiben, aber in den Kreisen der heranwachsenden studierenden Jugend könnte sich manche Einbusse vollziehen. Es würde eine Erstarkung des extremen politischen völkischen Sinnes kommen, die auch dem deutschem Katholizismus und der katholischen Kirche abträglich ist. Symptome machen sich bereits jetzt schon geltend. Professor Martin Spahn M. d. R. verlangt in einem Aufsatz "Reichskonkordat und Minderheiten" an recht beachtlicher Stelle (in "Das Deutsche Volk", Katholische Wochenzeitung für das gesamte deutsche Volkstum, Erster Jahrgang Nr. 33 vom 17. Oktober 1926, Verlagsort Berlin W 39, Motzstrasse 22), dass ein Reichskonkordat geschaffen werde, darin die Lage der deutschen Minderheiten im Auslande ausdrücklich geschützt werden müsse. Gewiss ist das eine absurde 7
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juristische Konstruktion, aber diese Aeusserung aus den führenden Kreisen der deutschnationalen Katholiken ist doch sehr beachtlich. "Das Reichskonkordat", also lautet der passus concernens, "muss zu einer Verständigung mit dem Hl. Stuhl über die kirchlichen Schulangelegenheiten nicht nur der zufälligen Staatsbevölkerung werden, die durch Friedensverträge heute in diesem, morgen in jenem Umfange aus dem Ganzen des deutschen Volkstums herausgeschnitten wird, sondern Hl. Stuhl [sic] und Deutsches Reich haben sich über die kirchlichen und Schulanliegen des gesamten deutschen Volkstums zu verständigen".
Das Versagen der obersten Kirchenleitungen in der von den katholischen Minderheiten erhofften Hilfe zur Erhaltung der Muttersprache auf religiösem Gebiete (Seelsorge und Kindererziehung) wäre Wasser auf die Mühle der Gegner der Kirche, die das Vertrauen der Katholiken in die politische Unparteilichkeit des Hl. Stuhles zu erschüttern versuchen. Dass die Protestanten in dem trüben Wasser der nationalen Verhetzungen zu fischen suchen, liegt auf der Hand. Jedenfalls kann nicht übersehen werden, dass die katholische Presse Deutschlands und Oesterreichs diese Entwicklung der Minderheiten auf kirchlich-8
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kulturellem Gebiete mit steigender Besorgnis verfolgt. Alles in allem liegen schlimme Gefahrpunkte vor für den gesamten deutschen Katholizismus überhaupt, auf die den Hl. Stuhl in ebenso grosser Ehrerbietung wie Besorgnis aufmerksam zu machen dem gehorsamst Unterzeichneten vor Gott und seinem Gewissen als Pflicht erscheint.
CJ Card Schulte,
Erzbischof von Köln.
1Rote Markierung am Rand dieses Absatzes.
2Rote Markierung am Rand dieses Absatzes ab "Siebenbürgen".
3Markierung mit Bleistift am Rand ab "wenn diese Hoffnung fehlschlägt".
4Markierung mit Bleistift am gesamten Rand der Seite.
5Markierung mit Bleistift am gesamten Rand der Seite und unter der letzten Zeile.
6Markierung mit Bleistift am Rand der Seite von Beginn bis "Abwendung von der Kirche hinauskommt".
7Markierung mit Bleistift am Rand der Seite von "Symptome" bis zum Ende der Seite und unter Professor Martin Spahn M. d. R.
8Markierung mit Bleistift am Rand der Seite unter "doch sehr beachtlich"; von "Verständigung mit dem Hl. Stuhl" bis "Volkstums zu verständigen"; von "Seelsorge und Kindererziehung" bis "liegt auf der Hand".
Empfohlene Zitierweise
Schulte, Karl Joseph, Zur kirchlichen Lage der deutschsprechenden Katholiken in den deutschen sog.Minderheiten von Südost-Europa., Köln vom 08. Dezember 1926, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 16331, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/16331. Letzter Zugriff am: 29.03.2024.
Online seit 29.01.2018, letzte Änderung am 26.06.2019.