Dokument-Nr. 18540
Sonntag, Josef an [Unbekannt]
Berlin-Steglitz, 27. Januar 1925

Brief 8.
Als Manuskript gedruckt.
Hochgeehrter Herr!
Der Linksblock ist durch die internen Vorgänge im Zentrum aufgeschreckt worden, wo sich der Abmarsch der Prominenten nach rechts unter dem Kanonendonner der Wirthpresse vollzieht. Von dieser Seite ist die Parole ausgegeben worden: Der Reichsarbeitsminister Dr. Brauns ist als politischer Führer eine Gefahr! Nachdem sich Herr Marx als stiller, verträglicher Mann unter dem Eindruck der scharfen Kritik, die die Reichstagsfraktion des Zentrums an der Linkseinstellung des früheren Kanzlers üben konnte, in den Hintergrund zurückgezogen hat, tritt Brauns als Verbindungsglied zwischen Zentrum und Rechtsparteien und neuer Führer seiner Partei im Reich stärker in den Vordergrund. Dr. Brauns galt bisher, wenigstens sozialpolitisch, als Linksmann. Um so größer ist die Ueberraschung, daß er jetzt den Rechtskurs einschlägt. Schon früher hatte ich auf den Irrtum bei der Einschätzung der Haltung dieses begabten Staatsmanns hingewiesen und oft genug betont, daß er bei gewissen Maßnahmen seines Ministeriums als Opfer seiner zum Marxismus neigenden Umgebung anzusehen wäre. Diese Abhängigkeit scheint im Augenblick geschwunden zu sein, wo Herr Luther die Regierungsgeschäfte übernommen hat. Für die deutsche Wirtschaft fraglos ein interessanter Vorgang. Bald werden sich noch schärfere Pfeile gegen Brauns richten, wenn es Preußen Herrn von Papen gelingen sollte, das Zentrum auf die rechte Seite zu führen. Dieser Politiker wird von der Linken besonders deshalb gefürchtet, weil er im Bunde mit Herrn Klöckner Hauptbesitzer der "Germania" ist und sehr leicht in die Lage kommen kann, nicht nur auf das erste Organ des Zentrums, sondern auch noch auf viele andere bedeutende katholische Blätter den ausschlaggebenden Einfluss zu bekommen, den sich bisher Herr Wirth auf Umwegen in einem Maße zu sichern wußte, daß er schließlich fast die ganze Zentrumspresse in sein Joch spannte. Jetzt scheint sich da eine Wandlung zu vollziehen. Erst dann wird der Bürgerblock marschieren.
Herr von Papen ist in Verbindung mit Herrn Franz Semer genannt worden, mit dem ich mich vor acht Tagen an dieser Stelle eingehend beschäftigt habe. Im vergangenen Frühjahr hatte Herr Semer an Herrn von Papen seinen Germania-Aktienanteil und außerdem ein Aktienpaket verkauft, das Semers Frau gehört. Mit ihr steht er im Scheidungsprozeß, der aus mehr als einem politischen Grund ein starkes öffentliches Interesse besitzt. Herrn Semer wird vorgeworfen, die von seiner Frau erteilte Vollmacht zur Ausübung des Stimmrechts für ihr gehörige Germania-Aktien gefälscht zu haben. Der Generalstaatsanwalt beim Landgericht I hat gegen Semer das Hauptverfahren eröffnet und Anklage wegen Urkundenfälschung erhoben. Frau Semer ist inzwischen bereits wieder das Stimmrecht für ihren Aktienanteil zugesprochen worden.1 (Das Geld für ihre Aktien hatte ihr Ehemann bei Herrn von Papen eingestrichen.) Wird Frau Semer nunmehr bei dem Kampf um die Germania mit ihren Stimmen nach rechts oder links gehen? Sie kann dort den Ausschlag geben, ihre Rolle wird hochpolitisch, da zum Germaniakonzern eine ganze Reihe anderer Zeitungen gehören. Nun hat Herr Semer während einer öffentlichen Verhandlung im Ehescheidungsprozeß jüngst die Drohung ausgestoßen, daß er weit schlimmere als die Barmat-Skandale enthüllen würde. Die Drohung konnte nur an seine bisherigen Freunde aus der politischen Welt gerichtet sein, von denen er sich offenbar im Stich gelassen sieht. Da Semer Mitwisser zahlreicher Geheimnisse amtlichen und nichtamtlichen Charakters ist, so hat der Schreckschuß des enfant terrible unserer Wilhelmstraße Entsetzen in den Kreisen hervorgerufen, auf die er sich in höchster Not verlassen zu können glaubte. Seit Jahren sind gerade diejenigen Freunde Semers, die im politischen Leben eine Rolle spielen, in viele fatalen Affären verwickelt. Die Barmat-Skandale könnten eingedämmt werden. Im Fall Semer aber wird das schon deshalb nicht gehen, weil hier ein ganzer Rattenschwanz von Prozessen vorliegt, deren Austragung grelle Schlaglichter auf die heutigen politischen Zustände werfen würde. Semer erscheint den Kennern der eigentümlichen Situationen wie ein moderner Laokoon, den, mag er sich mit seinen Schicksalsgenossen noch so krampfhaft gegen die würgenden Umarmungen wehren, die Schlangen nicht mehr freilassen.
Wie meine Leser bereits wissen, sind durch Semer, der als Geschäftspolitiker einen geradezu klassischen Typus darstellt, auch wichtige kirchliche Interessen verletzt worden. Es wird sicherlich nicht wahr sein, wenn er immer wieder renommiert, daß er sich die engste Freundschaft des jetzigen Papstes erworben habe, als dieser in seiner Eigenschaft als Vertreter seines Amtsvorgängers während des Einbruchs der Polen in Oberschlesien tätig war und Semer als ständigen Begleiter zu Seite gehabt haben soll. Semer rühmte sich auch der besonderen Gunst des belgischen Kardinals Mercier und einiger Kurienkardinäle. Aufzuklären bleiben seine Beziehungen zu dem in Holland auch als Politiker sehr geschätzten Monsignore Dr. Nolens, von dem er vielfach behauptet hatte, daß dieser Prälat in Rom entschieden Stellung gegen Erzberger genommen hätte. Als ich seinerzeit im Verlauf meiner von Semer inszenierten Campagne gegen Erzberger den holländischen Kleriker, im Widerspruch zu Semers Weisungen, als Urheber einer vatikanischen Aktion gegen Erzberger genannt hatte, war Semer außer sich vor Aerger, weil er schon damals die Enthüllung seines Doppelspiels gegenüber Erzberger durch Nolens gefürchtet hat. Seinen fabelhaften Leistungen als politischer Kulissenschieber verdankt er jedenfalls die Ernennung zum päpstlichen Geheimkämmerer, nachdem ihm Erzberger die Verwaltung der Benediktus-Stiftung zu verschaffen wusste. Im Besitz dieser Würde vermochte Semer einer langen Reihe bekannter Prälaten so gewaltig zu imponieren, daß sie nicht wagten, gegen ihn Stellung zu nehmen, als er im Verfolg seines Ehescheidungsprozesses einen Geistlichen von bestem Ruf, der ausschließlich seiner Wissenschaft lebt, der Verletzung des Beichtgeheimisses und schwerer sittlicher Verfehlungen nur deshalb beschuldigte, weil Semer diesen Priester der Kirche und der Wissenschaft mit den Enthüllungen im "Montag Morgen" über sein (Semers) Treiben in Verbindung brachte. Auch dieser Vorgang wird sein gerichtliches Nachspiel finden.2
Inzwischen dürfte ad papam melius informandum nach Rom Bericht erstattet worden sein insonderheit über das Vorleben des Herrn Geheimkämmerers, das seiner Frau den Anlaß zur Einreichung der Ehescheidungsklage gegeben hatte. Es gibt da mehr als einen dunklen Punkt nicht nur während seiner Kriegsdiensttätigkeit in Libau, wo er u.a. polnischen Jüdinnen zur Befreiung aus Gefängnissen nach beweglichen Tarifen verhalf, sondern schon einige Jahre vor Kriegsausbruch in Süchteln-Duderstadt (Rheinland), wo Herr Semer bei einer Gründung Kommerzienräte, Bankdirektoren, Bürgermeister und den gewiß nicht auf den Kopf gefallenen Generaldirektor Reinh. Becker so übers Ohr hieb, daß das Strafverfahren wegen wissentlich falscher Angaben bei Eintragungen gegen Semer anhängig gemacht wurde. Er verschwand und tauchte in Brüssel unter, wo er Rosenkränze auf der Straße und Seife im Keller verkaufte, um zeitweise hinter der Maske seines Bruders, eines rechtschaffenen
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Kaufmanns, zu agieren. Das ist so ein kleiner Ausschnitt aus dem bewegten Leben dieses Selfmademans besonderen Schlages, der trotz der offenbaren Mängel in seiner Bildung Jahre hindurch viele erste Größen unter den Zeitgenossen mit dem Geld, das er eigentlich nie recht besaß, zu faszinieren verstand.
Die breite Oeffentlichkeit interessiert vor allem sein Verhältnis zu Erzberger. Semer hat sich nunmehr im "Achtuhr-Abendblatt", das ihm auf meine Hinweise zu Leibe rückte, dahin vernehmen lassen, daß er Erzberger während dessen Prozeß gegen Helfferich mit "aufklärendem Material" auf Veranlassung von Giesberts beigestanden habe. Gewiß: wie der Brandstifter, der, wenn er das Haus brennen sieht, auch einen Eimer Wasser holt. Nachdem ich Erzberger im Juli 1919 auf Grund von Semers sehr eingehenden Informationen, namentlich auch über die Rolle, die Erzberger gegenüber englischen Journalisten während der Friedenvertragssverhandlungen gespielt hat, mit aller Schärfe angegriffen hatte, ging Erzberger nicht zum Staatsanwalt, sondern schrieb einen Artikel gegen mich in der "Deutschen Allgemeinen Zeitung" und in der "Germania", worauf ich noch lebhafter erwiderte und den Redaktionen der beiden Blätter eine Beleidigungsklage mit Zeugenvernehmung Erzbergers in Aussicht stellte, wofern sie diesem ein zweites Mal bei einer Attacke gegen mich dienen wollten. Der Erfolg war der von Semer prophezeite: Erzberger schwieg und Helfferich redete. Bald darauf überfiel Semer die blasse Furcht. Erzbergers falscher Freund bat und flehte, ich möchte zur Abwechslung den Spieß umkehren und Helfferich durch Angriffe belehren, daß er auf unrichtiger Fährte sei. Einen Gefallen tat ich Semer, und das bereue ich nicht: An einem grauen Novemberabend begab ich mich auf sein hartes Drängen zu Helfferich, nicht um ihm vorzutragen, daß "die Sache applaniert" werden könnte, wenn er nachgäbe, sondern um festzustellen, wie sich Helfferich auf den Prozeß vorbereitet habe. Es waren drei unvergeßliche Stunden, in denen ich Helfferich als Meister der forensischen Kunst und der Diktion zu hören bekam. Als ich Semer wunschgemäß von meinen Eindrücken berichtete, mußte ich - bei seiner Rundlichkeit - für das Leben dieses Mannes bangen, der sich der Tragweite seines Verrats am Geschäftsfreund plötzlich schlagartig bewußt wurde. Es war die Höllenangst, daß ihm jemand im Prozeß die Maske vom Gesicht reißen könnte. Lange genug hat er sie getragen. Er, der so gern und viel enthüllte, sieht sich nun selber enthüllt.
Die Aussichten für eine bürgerliche Regierung in Preußen werden in unterrichteten Kreisen als nicht ungünstig angesehen. In einer Hinsicht wäre es vielleicht nicht unvorteilhaft gewesen, wenn sich der Sturz des Kabinetts Braun noch etwas verzögert hätte. In Zentrumskreisen, die einer Veränderung des preußischen Kurses nicht ablehnend gegenüberstehen, ist nämlich der Auffassung Ausdruck gegeben worden, daß eine Neuorientierung auch des preußischen Zentrums leichter gewesen wäre, wenn über die Reichspolitik schon längere Erfahrungen vorgelegen hätten. So kommt dieser Zwang für das Zentrum etwas sehr plötzlich. Der Entschluß, sich mit den Rechtsparteien in der einen oder anderen Form zusammenzufinden, dürfte dem Zentrum indessen merklich erleichtert werden, wenn die Rechte sich jetzt der allergrößten Vorsicht in der Behandlung des sehr empfindlichen Zentrums, vor allem in konfessionellen Fragen, befleißigt. Dies ist die Auffassung auch im Schoß der Reichsregierung, die an einer Homogenität mit den preußischen Verhältnissen naturgemäß aufs stärkste interessiert ist, sich aber wohlweislich hütet, auch nur den Schein einer Einmischung hervorzurufen.
Auch die Möglichkeit, daß das Zentrum den preußischen Ministerpräsidenten stellt, wird innerhalb der Rechten ohne Voreingenommenheit geprüft. Für die Deutschnationalen ist dieser Gedanke keineswegs unannehmbar, sofern die eigene Partei das Innenministerium bekommen sollte. Allerdings spricht dagegen, daß das Zentrum bereits den Präsidenten des preußischen Staatsrats zu den seinigen zählt und man im allgemeinen darauf ausgeht, eine Verteilung der wichtigsten Posten in Preußen auf die an der angestrebten neuen Regierung vertretenen Parteien zu erreichen. Der Belassung des Postens des Landtagspräsidenten bei der Sozialdemokratie stehen keinerlei unüberwindliche Bedenken entgegen, wofern das neue Kabinett selbst die Gewähr für eine bürgerliche Politik geben würde. Die bisherigen interfraktionellen Besprechungen haben, um es zu wiederholen, keinen ungünstigen Eindruck hinterlassen. Auf Quertreibereien von Zentrumsseite, wobei namentlich an den wildgewordenen Abgeordneten Heß zu denken wäre, ist man gefaßt, glaubt sie aber nicht sonderlich tragisch nehmen zu sollen. Zwischen Volkspartei und Deutschnationalen ist die Annäherung noch weiter gegangen. Beide Parteien sind sich über die Grundlinien ihrer Politik und Taktik völlig einig, die persönlichen Beziehungen der maßgebenden Führer, die lange Zeit zu wünschen gelassen hatten, scheinen ja ganz ausgezeichnete zu sein, während der Verkehr zwischen Zentrum und Deutschnationalen bislang über das Konventionelle auch im Reich noch nicht hinausgegangen ist und für den Außenstehenden den Eindruck des Frostigen erweckt. Doch kann sich das bald ändern. Auch in den Kreisen der Sozialdemokratie rechnet man jetzt mit dem Uebergang des Zentrums zur Rechtskoalition, und die Demokraten merken, daß ihre Position ins Wanken gekommen ist. Auch hier möchte man den Anschluß nach rechts nicht gern versäumen.
Die Handelsvertragsverhandlungen stehen zurzeit auf einem so kritischen Punkt, daß in unterrichteten Kreisen sogar mit der Wahrscheinlichkeit ihres Scheiterns gerechnet wird. Man hat in den letzten Tagen den Eindruck gewonnen, daß die Franzosen von ihrem für uns unannehmbaren Standpunkt, die Differenzierung der deutschen Einfuhr voll aufrecht zu erhalten und uns über ihre endgültigen Absichten im Unklaren zu lassen, nicht abgehen werden. Kleinere Konzessionen, die die Gegenseite zweifellos noch machen wird, um die Verantwortung für den Bruch auf uns zu wälzen, kommen demgegenüber nicht in Betracht. Die Reichsregierung wird wohl gerade in ihrer jetzigen Zusammensetzung es nicht auf sich nehmen wollen, für die deutsche Meistbegünstigung de jure eine Behandlung der deutschen Einfuhr in Frankreich einzutauschen, die ihr nur ganz wenige und bedingte Vorteile brächte. In dieser Beziehung dürfte sich die Haltung der neuen Regierung gegenüber den wirtschaftlichen Anerbietungen und Forderungen des Auslands zweifellos unnachgiebiger zeigen, wenn man sich auch heute darüber klar ist, daß eine zu intransigente Handelsvertragspolitik nicht ohne Bedenken wäre. Es ist sehr leicht möglich, daß die weit gespannten Wünsche und Erwartungen unserer agrarischen Kreise sich auch jetzt eine gewisse Herabschraubung werden gefallen lassen müssen, obwohl Männer ihres Vertrauens an sehr maßgebenden Stellen sitzen. Jedenfalls weist auch die Regierung Luther es von sich, daß Deutschland nun etwas Zollkrieg mit aller Welt führen könnte. Der Entschluß, unter Umständen die Verhandlungen mit Frankreich abzubrechen, ist daher nur verständlich durch die absolute Ungleichwertigkeit der französischen Forderungen und Angebote; hier scheint zurzeit eine Einigung unmöglich.
In hochachtungsvoller Begrüßung
Josef Sonntag
Pizzardo fügte seinem Schreiben ein weiteres Exemplare des Briefes bei. Diese liegen auf 204rv des gleichen Faszikels. Den Exemplaren ist jeweils eine Denkschrift beigefügt (Dokument Nr. 18541).
1Passage "Herr von Papen ... zugesprochen worden" links entlang des Textes hds. in roter Farbe von unbekannter Hand angestrichen, vermutlich vom Empfänger.
2Passage "Wie meine Leser...gerichtliches Nachspiel finden." rechts entlang des Textes hds. in roter Farbe von unbekannter Hand angestrichen, vermutlich vom Empfänger. Innerhalb dieser Markierung weitere, gesonderte Anstreichung etwa bei "Freundschaft des jetzigen Papstes", "und einiger Kurienkardinäle" und "die Verwaltung der Benediktus-Stiftung".
Empfohlene Zitierweise
Sonntag, Josef an [Unbekannt] vom 27. Januar 1925, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 18540, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/18540. Letzter Zugriff am: 29.03.2024.
Online seit 24.06.2016.