Dokument-Nr. 20311
Derjugin, Wladimir Michailowitsch an Redaktion der Zeitung "Vozroždenie"
Berlin, 04. Oktober 1925

Sehr geehrter Herr Redakteur!
Gestatten Sie mir, Ihnen im Namen einer Reihe von Personen, die Hilfe von katholischen Organisationen erhalten und in Ergänzung der bereits aus Frankreich, Italien und Belgien Ihnen zugesandten Mitteilungen (s. Nr. 75 der Zeitung "Wosreschdenije") einige Tatsachen betr. die Arbeit zu Gunsten der russischen Flüchtlinge in Deutschland zu machen.
Die Initiative auf diesem Gebiete gehört der Baronin A. W. von Oettingen, welche im Jahre 1921 diese Arbeit aus eigenen Mitteln angefangen hatte, indem sie Lebensmittel kaufte und diese an die dürftigsten Familien der russischen Flüchtlinge verteilte. Ihre selbstaufopfernde, uneigennützige Tätigkeit fand Anerkennung und Unterstützung durch Herrn Kardinal Mercier und den päpstlichen Nuntius Pacelli. Diese liessen ihr Unterstützungen zu kommen; später übernahm letzterer alle Ausgaben für ihre Organisation. Gegenwärtig befindet sich in Händen der Baronin von Oettingen die Lebensmittelhilfe für etwa 100 russische Kinder, die Verpflegung von Studenten des Russischen Wissenschaftlichen Institutes und die Verteilung von freien Mittagessen, die von katholischen Krankenhäuser [sic] und Sanatorien zur Verfügung gestellt worden sind, an sehr dürftige russische Familien. Ausserdem hat Baronin von Oettingen den Ferienaufenthalt russischer Kinder organisiert, sie erwirkt für besonders Notleidende einmalige Unterstützungen und veranstaltet alljährlich für die russischen Kinder eine Weihnachtsfeier, bei der die Kinder Kleidungsstücke als Bescherung erhalten.
Zur Pastoration der katholischen Russen wurde im November 1924 vom Breslauer Erzbischof Kardinal Bertram Professor Dr. Berg nach Berlin berufen - Bald nach seiner Ankunft nach Berlin wandte er seine Fürsorge auvh [sic] den russischen Flüchtlingen orthodoxer Confession zu und wurde so zu einem Zentrum des notleidenden Teils der russischen Kolonie. Wohlwollend und in höchstem Grade energisch nutzte Professor Berg alle Arten der Wohltätigkeit aus, um den Flüchtlingen zu Hilfe zu kommen. Er hat in katholischen Krankenhäusern und Sanatorien ca. 100 freie Mittagessen für besonders dürftige erwirkt, er bringt Kinder in katholischen Schulen und Kindergärten unter, zahlt die Lehrgebühren für Studenten, versieht die Notleidenden mit Kleidungsstücken, die [er] in Bekanntenkreisen sammelt, verschafft den Russen Stellungen und Arbeitsgelegenheiten, organisiert russische Heimarbeit, verschafft Aufenthaltsgenehmigungen und Visums [sic], bringt Kranke in katholischen Krankenhäusern und Sanatorien unter[,] veranstaltet Versammlungen und Abende mit religiösen Vorträgen. In den Fällen[,] wo ihm die nötigen Mittel fehlen, schickt er die Flüchtlinge an ih[m] bekannte katholische Organisationen, von denen letzten Endes immer geholfen wird, entweder dadurch, dass den Flüchtlingen irgend welche ihrer Arzegnisse [sic] abgekauft oder dass Arbeitsgelegenheiten angegeben werden.
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Freilich haben alle diese Massnahmen nur einen vorübergehenden Charakter und sie können den Flüchtlingen nicht aus der schweren, rechtlosen Lage heraushelfen, in die sie infolge einer ganze[n] Reihe von Ereignissen hineingeraten sind und die sie verhindern, irgend eine dauernde, gesicherte Erwerbsquelle zu finden und sich ansässig zu machen. Wie viele Menschen sind aber durch diese Hilfe vor dem Untergange gerettet worden, wie vielen sind ihre seelischen und physischen Leiden gelindert worden, und wie vielen sind durch diese Hilfe neue Kräfte zum weiteren Kampf ums Dasein verliehen worden. Von grosser Bedeutung ist schon allein das Zusammenkommen der russischen Flüchtlinge mit einer Reihe von religiösen katholischen Organisationen, die durch eine eiserne Disziplin mit einander verbunden sind, die sich aber nicht auf Furcht und Gewalt stützt, sondern auf das Gefühl der reinen, christlichen Liebe und das Verständnis der allgemeinen geistigen Interessen! Dieses Zusammenkommen hat natürlich den Uebertritt einiger Personen zur katholischen Kirche zur Folge gehabt. Es sind aber erwachsene und reife Personen gewesen, sodass von irgend einem Zwang zum Uebertritt selbstverständlich keine Rede sein kann.
Im Gegenteil. [E]s scheint, dass die katholische Geistlichkeit ihre Kirche vor dem Eindringen unbekannter und unbeständiger Elemente eifrig beschützt und sie zeigt auf diese Weise eher ängstliche Vorsicht als zu grosses Vertrauen. In ihrem Verhalten gegenüber unserem religiösen Glauben und unsere [sic], nationalem Gefühl ist nichts besseres zu wünschen. Sie hat hier immer eine besondere Feinfühligkeit und Aufmerksamkeit gezeigt. Bis jetzt können weder wir, noch unsere Kinder uns beklagen über irgend einen religiösen Zwang seitens der Diener der katholischen Kirche. Was die Erhaltung in unseren Kindern der nationalen Gefühle und der Liebe zum Vaterlande betrifft[,] so werden von den katholischen Schulvorständen alle wünschenswerten Massnahmen getroffen. So wird dafür gesorgt, dass immer [m]ehrere russische Kinde[r] zusammen untergebracht werden. Damit sie ihre Sprache nicht vergessen[,] werden in einigen Fällen besondere Lehrer angestellt, welche die russische Sprache kennen und den Kindern etwas von ihrem Vaterlande erzählen können. Die Reisen der Kinder während der Sommerferien und Festferien zu ihren Eltern werden begünstigt. Mit einem Worte, es wird alles getan, um zu zeigen, dass die katholische Geistlichkeit über den chauvinistischen und engnationalen Vorurteilen steht.
In diesem Zusammenhange sind besonders hervorzuheben die Ansprachen, die Professor Berg und der Danziger Bischof Graf O'Rourke gelege[nt]lich einer Versammlung zu Berlin am 16. Juli 1925 gehalten haben. Beide habe[n] sich als grosse Verehrer des russischen Volkes und der russischen Kultur gezeigt. "Seien Sie immer eingedenk dessen, dass Sie ein grosses Volk bilden, das die Welt auf allen Gebieten der menschlichen Wissenschaft durch grosse Schätze bereichert hat", - hatte Graf O'Rourke gesagt, - "dieses Volk werden Sie immer bleiben. Mit der Zeit werden Sie nach Russland zurückkehren und dort ihre unterbrochene Arbeit zum Wohle Ihres Vaterlandes fortsetzten [sic]". Als er von seiner letzten Unterhaltung mit dem Papste sprach, sagte er: "Die Absicht des Heiligen Vaters besteht darin, Kinder russischer Flüchtlinge ohne Confessionsunterschied zu unterstützen, damit sie in dem schreckensvollen Flüchtlingsleben nicht untergehen, sondern eine Möglichkeit zur Erziehung und Bildung erhalten und später im Stande seien, dem Bösen und dem Unglauben, das von den Feinden Christi in der ganzen Welt gesät wird, entgegenzutreten."
Kurz vorher, nämlich im Mai d. Js. hatte der päpstliche Nuntius Pacelli gelegentlich des Empfanges einer Delegation russischer Flüchtlinge ebenfalls die Tatsache des besonderen Wohlwollens des Hl. Vaters zu den russischen Emigranten bestätigt und bemerkt, dass der Papst sie keinesfalls ohne seine Hilfe lassen wird.
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Der Standpunkt, der nach dem Beispiel des Hl. Vaters von der katholischen Geistlichkeit in Deutschland vertreten wird und auch die Gefühle de[r] verbissensten Nationalisten befriedigen kann, ist folgender: Achtung gege[n] über unserer nationaler [sic] Würde, religiöse Duldung und ein tiefes Verständn[is] unserer seelischen Erlebnisse, unterstützt vom Gefühl einer wahren christlichen Liebe und Caritas.
Dieses Verhalten kann nicht anders, als in uns das Gefühl ein[er] tiefen Anerkennung gegenüber der katholischen Kirche hervorrufen. Wir müssen uns niederbeugen vor dieser bisher u[nbe]kannten historischen Erscheinung, dass die katholische Kirche, alle die al[ten] Missverständnisse vergessend, ihre Hand der jüngeren orthodoxen Kirche re[icht] und ihre armen Kinder unter ihren Schutz nimmt, weil die orthodoxe Kirche [er]mattet durch den Kampf ums Dasein diesen selbst werder [sic] Schutz noch Trost bieten kann. An der Aufrichtigkeit diesr [sic] Hilfe können wir nicht zweifeln; denn wie wir schon bemerkt haben, befindet sich die höhere Leitung in Händen von Personen, deren hohe moralische Autorität nicht bezweifelt werden kann...
Unter diesen Umständen wird es verständlich sein[,] mit welchem Gefühl [der] T[r]aurigkeit der Artikel des Herrn Jablonowsky in Berlin gelesen worden is[t], in welchem der Verfasser unter Hinweis auf einige ihm bekannte Tatsachen [das] Thema "des "Seelenkaufs" behandelt und der katholischen Kirche Vorwürfe m[acht].
Es kann sein, dass unter den katholischen Geistlichen sich einige U[n]würdige befinden, die in ihrem Eifer, sich einen religiösen Zwang auszuüb[en] erlaubt haben. Es kann möglich sein, dass es Länder gibt, wie z. B. Polen, [in] denen die Katholiken die Gelegenheit benutzen, alle ausgestandenen Kränku[n]gen zu vergelten. Vielleicht hat der Verfasser nur diese Personen brandma[r]ken wollen, um sie von neuen Untaten abzuhalten. Leider wurden aber an [die] Schandsäule die Personen gebunden, welche nicht im mindesdesten [sic] an dem vo[m] Verfasser Angeführten schuldig sind. Die Vorwürfe des Herrn Jablonowsky b[e]ziehen sich auf die ganze katholische Kirche, folglich auch auf die ihrer Vertreter, die sich das Caritas-Werk im westlichen Europa zum Ziele gemac[ht] haben und mit denen wir Flüchtlinge uns in ständiger Verbindung befinden. Durch diesen Umstand erklärt sich der Strom von Briefen und Erwiderungen, welche die Redaktion des "Wosroschdenije" von russischen Organisationen a[us] allen Ländern Europas erhalten hat und in denen die Wiederherstellung der Wahrheit erstrebt wird. Diesen Zweck verfolgt auch das gegenwärtige Schre[iben]. Wenn dieses Schreiben etwas verspätet ankommt, so liegt die Ursache diese [sic] darin, dass erst das notwendige Material gesammelt und vor allem gemeinsa[m] besprochen werden musste, was immer geraume Zeit erfordert.
Wir Berliner schätzen sehr hoch das publizistische Talent des Herrn [Jab]lonowsky und lesen mit grossem Interesse seine Artikel, die den russische[n] Interessen gewidmet sind. Im vorliegenden Falle können wir uns aber mit i[hnen] nicht einverstanden erklären. Wir denken, dass wir hier mit einem Falle z[u] tun haben, bei dem Herr Jablonowsky ohne genügende Vorsicht ein Thema beh[an]deln wollte, das eine besondere Vorsicht erfordert und bei welchem jedes gesagte oder zu viel gesagte Wort leicht den Grund zu Auseinandersetzunge[n] bilden kann, die von dem Verfasser garnicht vorgesehen waren.
Wladimir von Derjugin.
ehem.  Staatsanwalt, Vorsitzende[r] der Rev[i]sionskommission des Russischen Flüchtli[ngs] Comité in Deutschland, Vicevorsitzende[r des] Verbandes russischer Justizbeamten im A[us]lande.
Bei diesem Dokument handelt es sich um eine Anlage zum dritten Bericht Ludwig Bergs über die Russenfürsorge in Berlin (Dokumente Nr. 20310 und Nr. 20312).
Pacelli sandte ein zweites Exemplar dieses Schreibens an Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri: siehe Dokument Nr. 18792.
Empfohlene Zitierweise
Derjugin, Wladimir Michailowitsch an Redaktion der Zeitung "Vozroždenie" vom 04. Oktober 1925, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 20311, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/20311. Letzter Zugriff am: 22.12.2024.
Online seit 29.01.2018, letzte Änderung am 26.06.2019.