Dokument-Nr. 20443

Der Neujahrsempfang beim Reichspräsidenten. Hindenburg fordert die Räumung, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 2, S. 2 , 02. Januar 1929
Der sonnige Wintermorgen des ersten Jahrestages hatte eine große Zahl von Schaulustigen Berlinern nach dem nördlichen Teile der Wilhelmstraße gelockt, die hier das alljährliche, aber immer wieder fesselnde Bild des Neujahrsempfanges beim Reichspräsidenten wenigstens von außen her genießen wollten. Ein stärkeres Aufgebot der Polizei regelte die An- und Abfahrt der fremden Diplomaten und der hohen Würdenträger des Reiches. Der traditionelle Neujahrsfestakt begann um 10 Uhr vormittags mit dem Einmarsch der militärischen Wachtparade durch das Brandenburger Tor über die Linden zum Palais des Reichspräsidenten. Truppen und Musik hatte das Wachtregiment Berlin gestellt. Vor dem Portal seines Palais nahm der Reichspräsident selbst die Meldung des befehligenden Offiziers entgegen. Die Kapelle brachte danach im Park des Hauses dem Reichspräsidenten ein Morgenständchen dar.
Gegen 11½ Uhr rollten ununterbrochen die mehr oder weniger kostbaren Automobile der Botschafter und Gesandten an. Als erste erschienen in Generalsuniform mit der gelbgestreiften Mütze der türkische Botschafter, General Kemaleddin Sami Pascha und im Diplomatenfrack mit Zweispitz Spaniens neuer Botschafter Dr. Fernando Spinosa de los Monteros.
Vor dem rechten Flügel des Hauses war im Vorgarten eine Abteilung Reichswehr aufgestellt, die allen Diplomaten mit bewunderungswürdiger Exaktheit und Schneidigkeit die Ehrenbezeugungen erwies, wobei die Botschafter den Gesandten gegenüber den Trommelwirbel voraushatten. Zu beiden Seiten der Eingangstreppe stand wie in Marmor gehauen ein Doppelposten: zwei hochaufgeschossene Grenadiere, die wie Säulen die Treppe flankierten.
Ein kleines Heer von Photographen knipste unermüdlich das Bild, in das die Verschiedenheit der Erscheinungen und Trachten der Abgesandten einer ganzen Welt immer wieder eine neue Note hineintrug. Besonders die fesselnde Erscheinung des Doyen des Diplomatischen Korps, Nuntius Pacelli, und der in Berlin wie im ganzen Reiche so volkstümlich gewordene amerikanische Botschafter Schurman waren begehrte Objekte der Kamera.
An dem Empfange der Diplomaten nahmen außer dem Reichspräsidenten und den Herren seines Bureuas und seines militärischen Gefolges der Reichskanzler, der Reichsaußenminister und Staatssekretär v. Schubert teil, letztere beiden in Diplomatenfracks. Der Einführer des Diplomatischen Korps, Gesandter Köster, besorgte die Vorstellungen der Herren.
Inzwischen folgten zum Neujahrsempfang die Reichsminister und Staatssekretäre, gegen 1 Uhr erschienen für den Reichstag Präsident Löbe und Vizepräsident Graef, danach für den Reichsrat der preußische Landwirtschaftsminister Dr. Steiger, Bayerns Gesandter Dr. v. Preger, der sächsische Gesandte Dr. Gradnauer, Württembergs Gesandter Dr. Bosler und der Vertreter Braunschweigs und Anhalts, Gesandter Boden. Dann fuhren in gemeinsamem Auto die Chefs der Heeresleitung und der Marineleitung, General Heye und Admiral Dr. h. c. Raeder, vor dem Reichspräsidium vor. Ihnen folgten bald danach Generaldirektor Dr. Dorpmüller mit den Direktoren Dr. Voigt und Kumbier mit Glückwünschen der deutschen Reichsbahn-Gesellschaft und Vizepräsident Dreyse mit den Direktorialmitgliedern Geheimrat Budczies und Geheimrat Dr. Bernhard als Ueberbringer der Wünsche der Reichsbank.
Allen Rednern antwortete der Reichspräsident in Dankesworten und Glückwünschen, die auf den besonderen Fall eingingen. Nachstehend veröffentlichen wir die Hauptreden des Festaktes:
Nuntius Pacelli
richtete folgende Worte an den Reichspräsidenten:
"Mit einem Gefühl innerer Genugtuung versammelt sich das in Berlin beglaubigte Diplomatische Korps anläßlich der Jahreswende von neuem um Ihre Person.
Getragen von der Verehrung und Liebe des Volkes, erfüllen Sie, Herr Reichspräsident, in bewunderungswürdiger Geistes- und Körperfrische unablässig Ihre so hohe Aufgabe. Wir hegen die innigsten Wünsche für die Erhaltung ihrer kostbaren Gesundheit, damit Sie sich noch lange dem Werke widmen können auf den unerschütterlichen Grundfesten der Wahrheit und Gerechtigkeit die Größe und das Wohl der Nation zu mehren, deren höchstes Amt Sie bekleiden.
Trotz unvermeidlicher Enttäuschungen, trotz schmerzlicher Hemmungen, trotz zeitweiliger Rückschläge, schreitet die Menschheit auf dem majestätischen Wege des Friedens entschlossen voran. In seinem klarhellen und reinen Lichte gehen die Wissenschaften ihre Bahn der mühevollen Erforschung der Wahrheit, entfalten sich frei die schöpferischen Kräfte des Menschengeistes, knüpfen sich unter den Völkern die Bande der Eintracht enger, festigt sich die gesellschaftliche Ordnung auf den Grundlagen des Rechts und der Nächstenliebe, trachtet das Sinnen der Menschen weniger nach Macht und irdischen Gütern als vielmehr nach sittlicher Größe und Veredelung.
Deutschland selbst hat sich, indem es gleich im Anfang dem Pakt zum Verzicht auf den Krieg als Instrument der internationalen Politik beitrat, feierlich zum friedlichen Ausbau der Beziehungen zwischen den Staaten bekannt. Möge das heute beginnende Jahr die glückliche Lösung der wichtigen und heiklen Aufgaben bringen, von denen die Ruhe Europas abhängt, und möge es so einen Meilenstein bilden auf dem lichten und erfolgreichen Pfade zum allgemeinen Frieden und zur brüderlichen Einigung aller Menschen auf Erden.
Geruhen Sie, Herr Reichspräsident, diese ehrerbietigen Wünsche entgegenzunehmen, die wir in Ihrer Person zugleich an das ganze deutsche Volk richten. Möge die göttliche Vorsehung, ohne deren Beistand alle menschliche Anstrengung eitel und hinfällig bleibt, unseren Wünschen gnädige Erhörung schenken."
Reichspräsident v. Hindenburg
antwortete hierauf mit folgenden Worten:
"Es ist mir eine große Freude, auch an diesem Neujahrstage wieder von Ihnen die Glückwünsche entgegenzunehmen, die Sie im Namen des Diplomatischen Korps dem deutschen Volke dargebracht haben. Lassen Sie mich Ihnen dafür und zugleich für die meiner Person gewidmeten freundlichen Worte und Wünsche aufrichtig danken!
Sie haben von den Enttäuschungen und Rückschlägen gesprochen, von denen die Völker in ihrem Streben nach friedlicher Entwicklung betroffen werden. Seien Sie versichert, daß kein Land solche Enttäuschungen und Rückschläge härter empfindet als Deutschland, das trotz seiner ernsten Bemühungen um Herstellung einer wahren, auf Vertrauen und Gleichberechtigung beruhenden Friedensgemeinschaft noch immer von der Sorge um die Erfüllung berechtigter Erwartungen bedrückt wird.
Mit besonderer Bitterkeit empfindet es das gesamte deutsche Volk gerade heute, am Eintritt neue [sic] Jahr, daß einem großen Teil unseres Gebietes immer noch die Freiheit vorenthalten wird, auf die wir nach göttlichem und menschlichem Recht Anspruch haben und deren Wiedererlangung Deutschland längst erhoffte. Wir wollen trotz herber Enttäuschung hoffen, daß im neuen Jahre dem deutschen Volke die volle Selbstbestimmung zurückgegeben wird. Denn nur zwischen freien Völkern können die hohen Gedanken der Verständigung, des Friedens und der Entwicklung der Menschheit voll zur Auswirkung gelangen.
Für die Ueberwindung der Hemmnisse, die einer gesunden und natürlichen Entwickelung entgegenstehen, alle Kräfte einzusetzen, ist Deutschland stets bereit gewesen und wird es auch weiter sein. Zur Erreichung dieses für die Ruhe Europas entscheidenden Ziels gehört die freie und verständnisvolle Zusammenarbeit aller Nationen. In der ganzen Welt fordern die wohlverstandenen Interessen der Völker mehr denn je die friedliche und aufrichtige Zusammenarbeit aller Regierungen, um freie Bahn zu schaffen für kulturelle, soziale und moralische Entfaltung der Kräfte. Dieses Ziel muß uns allen gemeinsam sein. Für seine Verfolgung ist während des vergangenen Jahres mit der von Ihnen erwähnten, von Deutschland aufrichtig begrüßten Unterzeichnung des Paktes über den Verzicht auf den Krieg eine neue Grundlage geschaffen worden.
Es gilt, auf dieser Grundlage weiterzuarbeiten, um die großen Gedanken dieses Abkommens zu verwirklichen, die dahin gehen, die noch zwischen den Völkern stehenden Probleme ohne Rücksicht auf Machtverhältnisse nach dem Grundsatz der Gerechtigkeit zu lösen und so der Welt diejenige Sicherung des Friedens zu geben, die die Gewähr der Dauer in sich schließt.
Im Ausblick auf dieses Ziel spreche ich Ihnen, Herr Nuntius, und Ihnen, meine Herren, zugleich für Ihre Staatsoberhäupter, Regierungen und Völker, im Namen des deutschen Volkes und im eigenen Namen meine aufrichtigsten und herzlichsten Neujahrswünsche aus."
Reichskanzler Müller
begrüßte den Herrn Reichspräsidenten mit folgender Ansprache:
"Ich habe die Ehre, am heutigen Tage Ihnen die herzlichen Glückwünsche der Reichsregierung zu übermitteln. Sie wünscht Ihnen mit dem gesamten deutschen Volke auch im neuen Jahre Gesundheit und Wohlergehen. Die Reichsregierung ist sich mit allen Deutschen voll Stolz der Tatsache bewußt, an der Spitze des Reiches einen Mann zu wissen, dem die ganze Welt die größte Achtung zollt für die Art, in der er sein hohes und schweres Amt ausübt. [sic; ohne schließende Anführungszeichen]
Der Reichskanzler fuhr sodann fort:
Das vergangene Jahr hat die Hoffnungen und Wünsche auf außenpolitischem Gebiet, die jeder Deutsche hegt, nicht in Erfüllung gebracht. Das wird uns nicht abhalten, unablässig wie bisher an ihrer Verwirklichung zu arbeiten und auf ihre Erfüllung zu drängen, bis Rhein, Saar und Pfalz von fremdem Drucke befreit sein werden.
Die bevorstehende Zusammenkunft der Sachverständigen wird, so hoffen wir, die für Reich und Volk so entscheidend wichtige Reparationsfrage in Fluß bringen und damit die vormals kriegführenden Nationen der völligen Liquidierung des Krieges näherführen. Erst die Lösung dieser gewaltigen Aufgaben kann die noch aus dem Kriege zurückgebliebenen Spannungen beseitigen und eine Aera wirklich vertrauensvoller Beziehungen zwischen uns und allen unseren Nachbarn ermöglichen, ohne welche die Grundlagen eines wahrhaften Friedens nicht gelegt werden können.
Seit der Staatsumwälzung ist ein Jahrzehnt verflossen, und wir können heute trotz all dem Furchtbaren, daß unser Volk in dieser Zeit erlitten hat, doch feststellen, daß sich unsere innere Lage gefestigt hat und daß es vorwärts geht.
Manchmal will es uns aber scheinen, als wenn die Fortschritte, die wir gemacht haben, übertrieben werden und manche ausländische Beobachter Deutschland in einem Zustand der Blüte sehen, der nicht den Tatsachen entspricht.
Denn genug Sorgen und Schwierigkeiten lasten auf uns, und wir haben oft in kurzer Zeit Aufgaben zu bewältigen, die in früheren Epochen ein Vielfaches der uns zur Verfügung stehenden Zeit erforderten. Ich brauche nur an das Problem Reich und Länder, [also] die schweren Wirtschaftskonflikte und an die Schwierigkeiten zu erinnern, die uns die finanziellen Lasten des verlorenen Krieges auferlegen. Wir hoffen, sie wie bisher Schritt für Schritt zu überwinden, gestützt auf die Tatkraft unseres Volkes und im Vertrauen auf die politische Erfahrung, über die das deutsche Volk, seitdem es sein Geschick selbst in die Hand genommen hat, von Jahr zu Jahr in größerem Maße verfügt."
Reichspräsident v. Hindenburg
antwortet darauf:
"Mein erster Gruß am heutigen Tage gilt unseren Brüdern und Schwestern im besetzten Gebiet, deren ich mit dem gesamten deutschen Volke in schmerzlicher Anteilnahme gedenke. Es war die schwerste Enttäuschung des vergangenen Jahres, daß die berechtigte Erwartung, die wir für die endliche Befreiung des besetzten Gebietes von fremder Militärgewalt hegten, bis heute noch keine Erfüllung fand.
Das alte Jahr hat uns vor manche schwere Aufgabe gestellt. Aber wir haben trotz der immer noch bestehenden Schwierigkeiten politischer und wirtschaftlicher Art doch manche Fortschritte erzielt und können feststellen, daß auch im Auslande das Vertrauen auf eine günstige Entwicklung Deutschlands sich festigt und wächst. Mit Genugtuung habe ich es besonders begrüßt, daß es der Mitarbeit der Reichsregierung und der verständigen Einsicht der Arbeitnehmer wie der Arbeitgeber gelungen ist, die wirtschaftlichen Kämpfe im Industriegebiet Nordwestdeutschlands und in Sachsen beizulegen und den wirtschaftlichen Frieden, den wir so dringend für unseren Wiederaufbau benötigen, zu sichern.
Die deutsche Wirtschaft hat im vergangenen Jahre mancherlei Nöte zu bestehen gehabt; wir wollen hoffen, daß das kommende Jahr Schranken und Hemmnisse, die der freien Entfaltung ihrer Kräfte noch entgegenstehen, beseitigt und ihr die Möglichkeit weiterer Betätigung gibt, die unseren zahlreichen Erwerbslosen Arbeit und Brot verschafft.
Ein lebenswichtiger Zweig unserer Volkswirtschaft leidet ganz besondere Not, die Landwirtschaft, namentlich im östlichen Deutschland; ihr wieder aufzuhelfen, und sie wieder in die Lage zu setzen, ihre Aufgabe, die Volksernährung Deutschlands zu erzeugen, zu erfüllen, wird eines der dringendsten Probleme der nächsten Monate sein.
Mit schweren Sorgen um die eigene Existenz wie um die Zukunft der genannten landwirtschaftlichen Arbeit blicken die deutschen Landwirte, die großen Besitzer ebenso wie die mittleren und kleinen Bauern, auf das neue Jahr. Deshalb wiederhole ich Ihnen, Herr Reichskanzler, und der Reichsregierung gegenüber die dringliche Bitte, in Erkenntnis der Wichtigkeit dieser Frage alle Kräfte für die Behebung der Not der deutschen Landwirtschaft einzusetzen.
Mit Ihnen, Herr Reichskanzler, bin auch ich, wie schon eingangs angedeutet, der Auffassung, daß trotz aller Schwere der Zeit unsere innere Lage sich gefestigt und gebessert hat. Ja, es will mir sogar scheinen, als ob die Gegensätze, die unser Volk so unheilvoll durchziehen, sich gemildert haben oder wenigstens nicht mehr in solcher Schärfe zutage treten wie früher. Möge das deutsche Volk auch im kommenden Jahre fortfahren, im Gedenken an das Vaterland und seine Zukunft persönlichen und politischen Widerstreit zu überwinden und zu überbrücken. Dann wird auch unserem schwergeprüften Volke Gesundung und eine bessere Zukunft beschieden sein, an die ich mit Ihnen, Herr Reichskanzler, unerschütterlich glaube!"
Dreimal hat Reichspräsident v. Hindenburg in seinen Neujahrsansprachen das Wort "Enttäuschung", einmal das Wort "Bitterkeit" gebraucht, als er von der Fortdauer der Besetzung sprach. Er hat mit diesen Worten und mit der weiteren Wendung, daß wir auf die Freiheit "nach göttlichem und menschlichem Recht" Anspruch haben, der Meinung des gesamten deutschen Volkes Ausdruck gegeben. Reichspräsident und Reichskanzler haben ferner wiederum Gelegenheit gehabt, an die vielen Opfer zu erinnern, die Deutschland für die Sache des Friedens gebracht hat. Der Sprecher des Diplomatischen Corps, Nuntius Pacelli, hat in sympathischen und würdigen Worten diese Friedensbemühungen Deutschlands und seines Staatsoberhauptes anerkannt; es wird sich aber bald zeigen, ob die hohe Auffassung von den Pflichten der Politik, die der Nuntius verkündet hat, wenigstens zu einem bescheidenen Teile auch von unseren ehemaligen Kriegsgegnern geteilt wird.
Reichskanzler Müller hat mit gutem Grunde vor dem Zusammentritt der Reparationskonferenz daran erinnert, daß manche ausländische Beobachter Deutschland in einem Zustande der Blüte sehen, der nicht den Tatsachen entspricht. Mit Recht hat der Reichspräsident diesen Gedanken aufgegriffen und auf die schwere deutsche Not verwiesen, die zu heftigen sozialen Kämpfen geführt hat und unter der die Landwirtschaft zusammenzubrechen droht.
So kam in den Neujahrsansprachen im Hause des Reichspräsidenten mit voller Klarheit zum Ausdruck, daß für das deutsche Volk das Jahr 1929 im Zeichen ernstester Probleme beginnt.
Empfohlene Zitierweise
Anlage vom 02. Januar 1929, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 20443, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/20443. Letzter Zugriff am: 03.05.2024.
Online seit 20.01.2020.