Dokument-Nr. 2630
Rantzan, Nicodemus an Leopold von Bayern
Rositten, 17. Mai 1918

Das jetzige Kurland, Livland und Estland hatte bis zum 16. Jahrhundert den Namen Altlivland, obwohl noch Kuren, Esten und Letten dies Gebiet bewohnten, wohl aus dem Grunde, dass die ersten deutschen Missionare, unter ihnen Meinhard, die ersten größten Bekehrungen bei den Liven hatten.
Zu diesem Altlivland gehörten damals nicht nur die heutigen baltischen Provinzen, sondern auch noch 3 Kreise vom jetzigen Gouvernement Witebsk, nämlich Dünaburg, Rositten und Ljuzyn, kleine Teile der Kreise [Drissu], Sebesch und Ostrow. Dieser Teil hatte den Namen Letgalien oder [Jütlant].
Das obenerwähnte Altlivland (also Kurland, Estland, Livland und Letgalien) war deutsches Ordensland und es war teils im Besitze des Ordens, teils der 5 Bischöfe, die in Riga, Reval, Dorpat, Insel Dagö und Kurland (Pilten) ihren Wohnsitz hatten.
Nach dem Zusammenbruch des Ordens, zerfielen auch die Bistümer durch Säkularisation.
Im Jahre 1561 kam ganz Altlivland zu Polen, die das Bistum von Wenden für dieses Land errichteten. Durch den Krieg zwischen Schweden und Polen verlor Polen auf dem Frieden von Oliwa 1660 Estland und Livland; Letgalien blieb bei Polen, das heißt, die drei Kreise: Dünaburg, Rositten und Ljuzyn. Peter der Große entriss den Schweden 1720 die erworbenen Gebiete. Kurland, das Herzogtum war, behielt seine Selbstständigkeit,
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musste aber bald dem polnischen Könige, bald Peter dem Großen Gefolgschaft leisten. Bei der ersten Teilung Polens 1772 kam Letgalien zu Russland, es wurde aber nicht zu seinen Stammesbrüdern den Letten in Livland geschlagen, sondern zu dem großrussischen Gouvernement Witebsk. Das Bistum von Wenden, das bis dahin noch bestanden hatte, wurde aufgelöst und die Diözese dem Erzbischof von Mohilew unterstellt, der selbst seinen Sitz in Petersburg nehmen musste. Der Herzog von Kurland verlor Krone und Selbstständigkeit durch die 3. Teilung Polens. Seit 1795 befindet sich das gesamte ehemalige Ordensland, das den Namen Altlivland führte, bei den Russen.
In diesem Gebiete wohnen neben Deutschen, Kuren und Esten auch 2 Millionen Letten, die ihre Sprache trotz der Verfolgung der Russen bewahrt haben. Unter den Letten sind 400.000 Katholiken. Wenn auch viele völkische Eigenart durch die drakonische Russifizierung verloren gegangen ist, so ist bis jetzt doch noch nicht alles verloren. Es ist klar, dass die Letten von Letgalien, die bei der ersten Teilung Polens zu dem großrussischen Gouvernement Witebsk geschlagen wurden, alles getan haben, um mit ihren Stamensbrüdern, den Letten in Livland, vereinigt zu werden. Unter den Zaren war dies unmöglich, weil jede Regung zur völkischen Eigenart sofort in Blut und Verbannung erstickt wurde. Erst die Revolution mit der Parole "Selbstbestimmungsrecht der Völker" brachte einen alten Wunsch zur Geltung. Auf 2 Kongressen am 26. April 1917 und 3. Dezember 1917 zu Rositten hat sowohl die Kerenskyregierung ihre Zustimmung erteilt, als besonders die der Bolschewiki durch Dokumente ihre Einwilligkeit gegeben, dass die Letten wieder in Livland vereinigt würden. Jetzt, wo die baltischen Provinzen dem Machtbereich der Großrussen entzogen und selbstständig geworden sind, bitten wir um Angliederung an Livland. Wir stellen diese Bitte aus dem Grunde, weil doch die jetzige bolschewistische Regierung uns dieses
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durch ihr Handschreiben zugestanden hat, dann aber auch deshalb, weil sonst diese 3 Kreise, die ethnographisch, historisch und kulturell und nach dem 3. Dezember 1917 auch politisch zu Livland gehörten, dem lettischen Volke verloren gehen würden. Wäre eine Angliederung an Livland politisch vollzogen, so würde eine kirchliche Zentralisation auch folgen, das heißt, wir würden einen lettischen Bischof erhalten, den wir früher stets gehabt. Augenblicklich stehen die Letten unter dem Erzbischof von Mohilew, der seinen Sitz in Petersburg hat. Die Bischöfe von Mohilew sind fast durchweg Polen gewesen, die unsere Sprache nicht verstanden, die stets von polnischen Ratgebern umgeben waren. Wären wir politisch bei Livland, so wäre nicht nur unsere völkische Eigenart gerettet, sondern die katholischen Letten würden auch zentralisiert werden, durch die Erhaltung eines lettischen Bischofs.
Diese beiden Wünsche, oder vielmehr diesen einen großen Wunsch nämlich Angliederung der 3 Kreise: Dünaburg, Rositten und Ljuzyn an Livland legen die Katholischen dieser 3 Kreise Euerer Königlichen Hoheit ehrfurchtsvoll zu Füßen, mit der Bitte, dass Euere Königliche Hoheit an maßgebender Stelle unserer aller Anliegen huldvollst befürworteten möchte.
(Unterschriften).
Decanus Rosittensis Sac. N. Rantzan
Empfohlene Zitierweise
Rantzan, Nicodemus an Leopold von Bayern vom 17. Mai 1918, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 2630, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/2630. Letzter Zugriff am: 24.11.2024.
Online seit 17.06.2011.