Dokument-Nr. 4376
Die Reformationsfeier in Berlin. [Berlin], 31. Oktober 1917
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Zwei akzidentelle Momente haben zusammengewirkt, um
den protestantischen Gedenktag der 400 jährigen Wiederkehr des Reformationstages in Berlin
vorübergehen zu lassen wie jeden anderen Werktag. Zunächst die Witterung, die bei allen
derartigen Gelegenheiten eine große Rolle zu spielen pflegt. Der Tag fing nass und kalt an,
und den ganzen Tag hing ein schwerer grauer Regenhimmel über der Reichshauptstadt. Dann
nimmt die Kanzlerkrise die Gemüter gefangen, und dies politische Interesse beschäftigt
augenblicklich die öffentliche Meinung der Reichshauptstadt in einem Masse, dass daneben
nichts anderes Geltung hat. So bietet sich dem, der heute die Strassen Berlins
durchwanderte, das alltägliche Bild der Stadt, in der, als dem Gehirn Deutschlands, als dem
Zentrum der politischen und militärischen Kriegsführung, fieberhaft gearbeitet wird. Die
Strassen haben nichts von einem sonn- oder festtäglichen Anstrich, sowohl die Passanten
geben das Bild eines gewöhnlichen Arbeitstages, als auch weisen die Privat- und öffentlichen
Gebäude keinerlei Flaggenschmuck auf, wie das sonst in Berlin bei allen Gelegenheiten der
Fall ist, wo nur irgend ein Anlass vorliegt. Wenn man im Laufe der Kriegsjahre im Hinblick
auf das bevorstehende Reformationsfest in katholischen und evangelischen Blättern
gelegentlich den Vorschlag gemacht hatte, auch diesen Anlass zu einer Polemik in den
konfessionellen Burgfrieden mithineinzubeziehen, und entsprechende, allerdings
unverbindliche gegenseitige Versicherungen in der Presse auch gegeben worden waren, so wäre
dies eigentlich gar nicht notwendig gewesen, denn soviel sich beurteilen lässt, hätte die
Reformationsfeier auch ohnedies keinen anderen Verlauf genommen, wie es tatsächlich
geschehen ist. In Berlin wenigstens – und Berlin ist in diesen Dingen symptomatisch für das
Reich – nahm die Öffentlichkeit keinerlei Notiz von dem protestantischen Gedenktag, und
nichts verriet ein Bewusstsein, als ob heute ein besonderer Tag gewesen wäre. Das liegt
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türlich in den Kriegsverhältnissen begründet, die das
Interesse der Bevölkerung auf ganz andere Dinge lenken als auf einen protestantischen
Gedenktag, und sei es auch die 400 jährige Wiederkehr des Geburtstages der Reformation.
Weiter spielt hier eine Rolle die Interessenlosigkeit weiter Volkskreise, die nur dem Namen
nach protestantisch sind. Wenn wirklich der heutige protestantische Gedenktag im Mittelpunkt
des Interesses aller derjenigen, die sich protestantisch nennen, stände, so hätte auch ein
noch so fester konfessioneller Burgfriede protestantische Federn nicht an Vorstößen in den
Blättern hindern können. Das ist aber nicht geschehen. Einige Berliner Blätter bringen zwar
einen besonderen Artikel, aber diese unterscheiden sich nach Inhalt und Form in keiner Weise
von den Aufsätzen, wie sie bei allen historischen Gelegenheiten zu erscheinen pflegen, mit
anderen Worten, sie sind rein referierend gehalten, stellen das Werk Luthers dar, enthalten
sich aber von jeder kritischen Betrachtung, kurz, man sucht vergebens nach dem Pathos einer
besonderen Tendenz. Nimmt man hinzu, dass keine besonderen Festlichkeiten stattgefunden
haben, wenigstens keine öffentlichen, so vervollständigt sich der Eindruck, dass der
protestantische Gedenktag in der Reichshauptstadt ohne irgend ein Zeichen von Begeisterung
oder Stimmung vorübergegangen ist.