Dokument-Nr. 596
[Becker, Carl Heinrich] an Pacelli, Eugenio
[Berlin], vor dem 24. Februar 1923
haben den Wunsch geäußert, über die im Schreiben des Herrn Ministers angedeuteten staatsrechtlichen Gründe, die eine verbindliche Erklärung Preußens über einzelne Punkte des geplanten Reichskonkordats zurzeit verbieten, des Näheren informiert zu werden. Ein gewisser Widerspruch schien Euer Exzellenz darin zu liegen, daß Preußen offenbar mit Rücksicht auf die dem Reich zustehende Grundsatzgesetzgebung sich in gewissen Materien zurückhalte, andere Materien aber, die ebenfalls der Reichsgesetzgebung unterlägen, durch preußische Vereinbarungen mit dem Heiligen Stuhl in direkten Verhandlungen zu erledigen bereit sei.
Der Grund der Haltung Preußens liegt in folgenden Tatbeständen: Nach der Reichsverfassung steht dem Reich das Recht der Grundsatzgesetzgebung in kirchen- und schulrechtlichen Fragen zu. Solange es davon keinen Gebrauch macht, haben die Länder – immer im Rahmen der Grundsätze der Reichsverfassung – das Recht, selbständig vorzugehen. Von diesem Rechte hatte Bayern im Einverständnis mit dem Reich Gebrauch gemacht, als es mit dem Heiligen Stuhl in Konkordatsverhandlungen eintrat. Das gleiche Recht stand und steht auch Preußen zu. Ehe es aber zu Verhandlungen mit Preußen kam, hatte das Reich die Absicht kundgegeben, von seinem Recht der Grundsatzgesetzgebung durch völkerrechtliche Vereinbarungen mit dem Heiligen Stuhl Gebrauch zu machen. Die Konkordatsverhandlungen zwischen Euer Exzellenz und der Reichsregierung haben begonnen. Von diesem Moment ab erfordert der bundesstaatliche Charakter des Reichs eine vor-
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herige Verständigung der Länder und der Reichsregierung, da sie natürlich nur als Einheit auftreten können, ehe mit dem Vertragskontrahenten in Verhandlung getreten werden kann. Verfassungsgemäß nehmen die Länder erst bei Einbringung einer Vorlage im Reichsrat Stellung. Diesen staatsrechtlichen Gesichtspunkten muß Preußen bei seiner Größe und Bedeutung besondere Rechnung tragen; denn wollte sich Preußen schon vor der Aussprache mit den Regierungen der anderen Länder und der Reichsregierung dem Heiligen Stuhl gegenüber verbindlich äußern, so würden dadurch die innerdeutschen Verhandlungen in einer für die anderen Länder unerträglichen Weise präjudiziert. Bei Bayern liegt die Sache insofern anders, als Bayern bereits vor der Initiative der Reichsregierung in Verhandlungen eingetreten war und ja auch durch das zwischen Bayern und dem Heiligen Stuhl bestehende Konkordat alle einschlägigen Fragen völkerrechtlich geregelt hatte und nunmehr nach Inkrafttreten der Reichsverfassung den veränderten Verhältnissen Rechung tragen mußte. Immerhin hat die preußische Regierung von Anfang an darauf hingewiesen, daß ein zu schaffendes Reichskonkordat auch für Bayern Geltung haben müsse.Wenn Preußen unter diesen Umständen nach Beginn von Verhandlungen zwischen dem Reich und dem Heiligen Stuhl alle im Reichskonkordat zu regelnden grundsätzlichen Fragen nicht gleichzeitig mit dem Heiligen Stuhl verhandeln zu können glaubt, so legt Preußen andererseits das allergrößte Gewicht darauf, diejenigen Materien, die durch völkerrechtliche Vereinbarungen zwischen Preußen und dem Heiligen Stuhl unmittelbar geregelt waren, nun auch durch unmittelbare Verhandlungen den veränderten Verhältnissen anzupassen. Dabei gehört aber auch die Frage der Staatsangehörigkeit der Geistlichen dem Preußischen Staatskirchenrechte an und fällt damit unter die Zuständigkeit Preußens, obwohl die allgemeine Regelung der
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Staatsangehörigkeit heute, wie ehedem, Reichssache ist. Uebrigens wird auch Preußen diese Fragen ebenso wie Bayern nur im Einverständnis mit der Reichsregierung regeln.Dazu kommt noch ein Weiteres. Preußen möchte nicht nur seine völkerrechtlichen Abmachungen mit dem Heiligen Stuhl erneuern, sondern gleichzeitig auch die gesamte innerpreußische kirchenpolitische Gesetzgebung, die zum größten Teil aus der Kulturkampfzeit stammt, aufheben resp. im beiderseitigen Interesse auf eine neue Grundlage stellen. Das wird aber vor der Oeffentlichkeit nur dann vertretbar sein, wenn gewisse Sicherungen, die in dem früheren Schreiben genannt sind, von Seiten des Heiligen Stuhles zugestanden werden könnten. Das sind die Gründe, warum die preußische Regierung eine Verhandlung gerade über die im Schreiben vom 28. April 1922 genannten Punkte und zunächst nur über sie wünscht.
Ein anderer modus procedendi wäre der, daß das Reich seine Verhandlungen vorerst zurückstellte, und zwischen Preußen und dem Heiligen Stuhl ein regelrechtes Konkordat abgeschlossen würde. Später könnten dann das Preußische wie das Bayerische Konkordat von einem Reichsrahmenkonkordat überbaut werden. Diesen Weg glaubt die Preußische Regierung deshalb nicht empfehlen zu können, weil die Verhandlungen über das Gesamtgebiet der beiderseits interessierenden Fragen, die schon in dem zu 2/3 katholischen Bayern, das diese Regelung immer hatte, jahrelang dauern, in dem zu 2/3 evangelischen Preußen, das ein Konkordat z. B. über Schulsachen bisher überhaupt nicht kannte, noch erheblich länger dauern dürften. Außerdem ist die Reichsgesetzgebung auf kirchen- und schulpolitischen Gebiet noch im Fluß, und es ist bei der großen Schwierigkeit der Materie nicht abzusehen, wie viel Jahre noch bis zum Abschluß verfließen werden. Vor diesem aber wird für Preußen
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jedenfalls kaum an eine völkerrechtliche Bindung gedacht werden können. Deshalb scheint es der preußischen Regierung empfehlenswert, schrittweise vorzugehen und mit einer unmittelbaren Vereinbarung über die Neuordnung der bisher schon völker- oder staatsrechtlich geregelten Materien zwischen Preußen und dem Heiligen Stuhl zu beginnen, um erst danach die vom Reich aus leichter in Angriff zu nehmenden sonstigen insbesondere auch schulpolitischen Fragen zu regeln. Sie glaubt, damit in Preußen eine Atmosphäre zu schaffen, die den Reichskonkordatsverhandlungen, die dann das gesamte Gebiet der zwischen Staat und Kirche grundsätzlich zu regelnden Materien umfassen würden, nur günstig sein könnte.