Dokument-Nr. 635
Schulte, Karl Joseph an Pacelli, Eugenio
Köln, 14. Mai 1923

Euer Exzellenz
bitte ich, wiederum einige dringende Bitten zugunsten von Gefangenen des Ruhr- und Rheingebietes vortragen zu dürfen.
1) Sache Schlageter. Zuverlässig wird mir folgendes gemeldet: Am 9. Mai wurde durch das französische Kriegsgericht in Düsseldorf Albert Leo Schlageter zum Tode verurteilt. Er war angeklagt 1) wegen Teilnahme an einer Geheimorganisation, 2) wegen Spionage, 3) wegen Sabotage. Das Todesurteil wurde hauptsächlich wegen Sabotage ausgesprochen. Es handelt sich hierbei um eine Eisenbahnsprengung bei Calcum, die ausgeführt zu haben Schlageter zugibt. Bei dieser Sprengung ist, wie man sagt, ein unerheblicher Materialschaden entstanden; Züge sind nicht entgleist und Menschenleben nicht zu Schaden gekommen. Die Mitangeklagten erklären, daß Schlageter bei dem Sabotageakt ausdrücklich gesagt habe, es dürften keine Personen zu Schaden kommen.
Ich werde dringend gebeten, mich für eine Umwandlung der Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe einsetzen zu wollen. Die Sache eilt sehr, da das Todesurteil, wenn der Berufung nicht
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stattgegeben wird, bald vollstreckt werden soll. Schlageter ist stud. rer. pol. und stammt aus Schönau-Wiesenthal bei Freiburg i. B.; die Eltern sind alt. Auch ihretwegen wäre eine Begnadigung erwünscht.
2) Sache Bürgermeister Niemeyer (Recklinghausen). s. Beilage.
Die Familie dieses Herrn ist mir persönlich seit langem als sehr brav katholisch bekannt. Die harte Verurteilung zu vier Jahren Gefängnis und zwei Millionen Mark Geldstrafe trifft den an allgemeiner Körperschwäche und Blutarmut sowie an einem starken Herzleiden laborierenden Herrn Niemeyer außerordentlich schmerzlich. Die Erfüllung seines Mindestwunsches, wenigstens im Gefängnis zu Recklinghausen verbleiben zu dürfen, möchte sich, wie ich glaube, doch wohl erreichen lassen.
3) Deportation von Deutschen nach Belgien.
Am 27. April wurden 15 deutsche politische Gefangene aus dem Gefängnis zu Aachen nach Verviers transportiert. Daselbst werden sie, was Behandlung, Verpflegung, Arbeit usw. angeht, den gewöhnlichen Verbrechern völlig gleichgestellt. Man versichert mich bestimmt, daß man diesen Gefangenen Arbeit zumutet, die in keiner Weise dem Bildungsgrad oder dem Stande dieser Herren angepasst ist. Auch die strenge Einzelhaft, in der sie gehalten werden, ist nur etwas für eigentliche Verbrecher, nicht aber für politische Gefangene.
Ich bitte Euer Exzellenz, den Heiligen Stuhl zu bewegen, bei der belgischen Regierung vorstellig zu werden, daß die deutschen politischen Gefangenen ihre Strafe in deutschen
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Gefängnissen verbüßen, daß ihnen dort durch das Rote Kreuz Erleichterungen zugestanden und vor allem Seelsorge und ärztliche Behandlung von einem Deutschen zuteil werden.
Von Seiten der Entente wird immer mit Nachdruck betont, daß der gegenwärtige Zustand zwischen den beiden Parteien kein Kriegszustand sei; deshalb kann die unter Kriegsrecht allenfalls erklärliche Deportation nicht gerechtfertigt erscheinen.
Indem ich im Voraus für alle Mühewaltung danke, bin ich wie stets, Euer Exzellenz
in Ehrerbietung und Verehrung
ergebenster
J. Card. Schulte
Erzb. v. Köln
Empfohlene Zitierweise
Schulte, Karl Joseph an Pacelli, Eugenio vom 14. Mai 1923, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 635, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/635. Letzter Zugriff am: 26.04.2024.
Online seit 24.10.2013.