Dokument-Nr. 7127
Michalkiewicz, Kazimierz Mikołaj[Römisch-katholische Geistlichkeit Litauens] an Isenburg-Birstein, Franz Josef Fürst von
Vilnius, 05. Juli 1917

Euer Durchlaucht.
Als im Jahre 1915 das herannahende Kriegsgetöse unser Land immer mehr und mehr bedrohte, bemächtigte sich der ganzen Bevölkerung, bevor noch die siegreichen deutschen Streitkräfte in das Land eingezogen waren, eine sehr leicht zu erklärende Aufregung, die in vielen Fällen in eine direkte Panik übergangen war. Dieselbe wurde von verschiedenen Faktoren genährt, die das Land von sämtlichen Einwohnern und ihrem Hab und Gut gesäubert haben wollten. Wenn es nicht gelungen war diese Säuberung im ganzen durchzuführen, so war die Ursache davon vor allem die sehr starke Anhänglichkeit unseres Volkes an das eigene Land, auf dem es so lange Jahre trotz der mannigfaltigen geschichtlichen Widerwärtigkeiten und Fügungen des Schicksals ausgeharrt hat, und die feste Überzeugung, dass es, als ein neutraler Faktor im gegenwärtigen Kriege auf eine Berücksichtigung dieser seiner Stellung von Seiten der deutschen Armee rechnen kann. In dieser Überzeugung wurde die Bevölkerung von den hie und da an sie gelangenden Aufrufen der deutschen Militärkräfte gestärkt, in denen die humanitären Leitgedanken mit so großer Überzeugungskraft betont und in den Vordergrund gestellt wurden, und von dem Bewusstsein, dass zu den elementarsten Rechten eines jeden friedfertig auftretenden Menschen das Lebens- und Eigentumsrecht gehören, die von keiner Kulturmacht verletzt werden dürfen.
Der Aufruf des Grafen Pfeil vom 18. September 1915 an die Einwohner unserer Stadt, der nach dem Einzuge der deutschen Truppen in Wilna veröffentlicht wurde, schien diese Überzeugung der Bevölkerung noch mehr zu stärken: dieser Aufruf hat ja ausdrücklich hervorgehoben, dass die deutsche Heeresmacht bemüht sein will, die Härten des Krieges der Bevölkerung zu erleichtern, und dass Handel und Wandel, sowie jede friedliche Betätigung der Einwohnerschaft gefördert werden sollen.
Obwohl die Bevölkerung des Landes von Beginn der Besetzung mit aller Loyalität den deutschen Behörden gegenüber sich verhalten hat, stellte sich die Wirklichkeit, die unser Land so harten Prüfungen bald aussetzen sollte, in einen schroffen Gegensatz zu den gegebenen Versprechungen.
Jetzt stehen wir bereits am Ende des zweiten Jahres der Besetzung unseres Landes von der deutschen Heeresmacht. Diese zwei Jahre bedrückten seine Einwohner mit einer ungewöhnlich harten Last von verschiedenartigen Requisitionen, ohne irgendwelche, oder unter Entschädigungen, die zu einem ungeheuren Minimum herabgedrückt wurden, mit ungewöhnlich hohen Steuern, Kopf-, Gewerbe- und Grundsteuern, ohne Rücksicht darauf, dass die Einkünfte in Folge des ökonomischen Verfalls des Landes bis Null gesunken und die Kosten der Lebenshaltung sich ins zehnfache gesteigert haben. Die ländliche Bevölkerung ist zu Grunde gerichtet worden durch die rücksichtlosen Requisitionen der Pferde- und Viehbestände, des Getreides und des Saatkornes, durch Zwangsarbeiten und Abführung von Arbeitskräften nach Deutschland, die zum Bebauen des Ackers in der Heimat und zum Lebensunterhalt ihrer Familien unentbehrlich waren. – Die Städte, in denen jede Handels- und Gewerbetätigkeit eingegangen ist, und die von
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eisernen Ringen der Polizeiposten umgeben sind, welche die Einführung von Lebensmitteln durch Einwohner verhindern, sehen sich dem Hungertode preisgegeben. Tausende von Familien, deren Väter und Ernährer zu Zwangsarbeiten herangezogen wurden, sind zur allzu großen Last für die öffentliche Wohltätigkeit von Seiten der wohlhabenderen Einwohnerschaft gefallen, die sich übrigens in ihrer materiellen Lage ebenfalls bedroht sieht, und den von Tag zu Tag zunehmenden Forderungen der Wohltätigkeit zu entsprechen nicht mehr im Stande ist.
Hart geprüft, in eine Lage ohne Ausgang gestellt und durch ein furchtbares Gesicht des Hungertodes bedroht, wendet sich das Volk um Hilfe und Rat an uns, an die katholische Geistlichkeit, die stets mit ihm sein Glück und Unglück treu geteilt hat.
Unser priesterliches Amt und die tief empfundene Pflicht, als Beschützer des Volkes, das in uns seine Hoffnung setzt, aufzutreten, veranlassen uns in besonderer Weise das Wort vor Euer Durchlaucht zu ergreifen.
Im unserem vorliegenden Schreiben sei es uns gestattet, die Notlage der Einwohner der Stadt Wilna in erster Linie zu besprechen.
Die größten Besorgnisse erregt hier zweifellos die Ernährungsfrage. Wie auch andere Städte des besetzten Landes, wurde Wilna, gleich nach der Besetzung von jedem Verkehr mit dem Lande abgeschnitten. Die in der Stadt selbst in beträchtlichen Mengen vorhandenen Lebensmittel wurden zu großem Teile für die Bedürfnisse der in erheblicher Zahl hier stehenden Truppen requiriert, zum Teil erschöpften sich in sehr kurzer Zeit. Die deutschen Behörden übernahmen darauf das Monopol der Versorgung der Stadt mit den allernotwendigsten Lebensmitteln. Die Versorgung sollte durch die Vermittelung von Städtischen Verkaufsläden durchgeführt werden, deren Zahl ursprünglich zu gering war und die in ihnen zur Verfügung stehenden Waren auch, den Minimalbedürfnissen der Bevölkerung bei weitem nicht entsprechen. Die unmittelbare Folge davon war, dass die Einwohner der Stadt um einiger Gramm Grütze willen tagelang vor den städtischen Läden in langen Reihen warten, die kostbare Zeit verlieren und sehr oft mit leeren Händen davongehen mussten, anderseits aber, dass die Preise für Lebensmittel auf eine beispiellose Weise sich steigerten. Um sich vom Hungertode zu retten, sah sich die Bevölkerung notwendigerweise auf die zahlreichen Spekulanten und Schmuggler angewiesen, was die Steigerung der Preise zu fabelhaften Höhen nach sich gezogen hat, die nicht nur für die arme Bevölkerung unzugänglich, sondern auch die wohlhabenderen Einwohner zu Grunde zu richten im Stande waren.
Indessen schuf die deutsche Stadtverwaltung ganz merkwürdige Widersprüche: einerseits wurden von ihr Höchstpreise für Lebensmittel, deren freie Einführung in die Stadt streng verboten war, festgesetzt, andererseits wurden die städtischen Läden mit denselben Lebensmitteln nur in durchaus ungenügenden Mengen versehen. Endlich wurde am I.VI.I7 auch jenes Minimum, das von Zeit zu Zeit auf Brotkarten zu erstehen war, gänzlich entzogen. Als ein Ersatz dafür und als der einzige Nahrungsbetrag für jeden Einwohner der Stadt wurden festgesetzt: 100 Gr. Brot von sehr zwei-
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felhaftem Nahrungswerte (vom 28.VI ab auf 150 Gr. gehoben) und 90 Gr. Grütze in Suppengestalt (jetzt 110 Gr., die nur in den Volksküchen erhalten werden können), trotzdem dass dieselben für einen beträchtlichen Teil der Einwohnerschaft schwer zugänglich sind, da das Alter, der Gesundheitszustand, die Arbeitsbedingungen oder sonstige Verhältnisse es nicht allen gestatten, die Volksküchen in Anspruch zu nehmen.
Wir brauchen kaum auf wissenschaftliche Theorien uns zu berufen, um einen Beweis vorzulegen, dass dieser Nahrungsbetrag ein langsames Absterben des Menschen zu verlängern kaum im Stande ist, geschweige denn den menschlichen Organismus zu unterhalten. Dies ergibt sich mit Klarheit aus der Statistik der Todesfälle, die wir für fünf Monate des Jahres 1916-1917 hier anführen können. Nach derselben sind im November 1916 – 384 Todesfälle vorgekommen, im Dezember – 471, im Januar 1917 – 607, im Februar – 719, und im März – 945, was angesichts der Gesamtzahl von Einwohnern der Stadt – (nach amtlicher Zählung von 1917 rund 138.000) – einen Prozentsatz aufweist, der auch bei der stärksten Seuche ungewöhnlich groß wäre. Die gewaltige Verbreitung der Infektionskrankheiten, der Fleckfieberseuche vor allem, muss übrigens der allgemeinen Entkräftung der Bevölkerung durch die Hungersnot zugeschrieben werden. Endlich die täglichen Todesfälle von Hunger oder Unternährung, deren wir bei unseren Versehungsgängen beiwohnen, und die auf den Bürgersteigen und in den Straßen ausgestreckten angeschwollenen Hungernden liefern den besten Beweis dafür, in welchem Ernährungszustande die städtische Bevölkerung sich befindet.
Es ist daher nicht zu verwundern, dass die durch den Hungertod bedrohten Einwohner der Stadt sich gezwungen sehen, Lebensmittel außerhalb derselben, oft in weit entfernten Gegenden des Landes zu suchen. Aber auch hier begegnen sie unüberwindlichen Hindernissen von Seiten der Polizeibehörden. Die für letzte Pfennige gekauften, oft erbettelten, und auf eigenem Rücken durch lange Strecken oft 70–80 Klm., geschleppten geringen Vorräte von Mehl, Kartoffeln, Speck u.d.g. werden als Gegenstände des Schleichhandels rücksichtslos abgenommen und ihre Eigentümer mit Geldstrafen belegt oder im Falle der Zahlungsunfähigkeit, wie Verbrecher ins Gefängnis gestoßen.
Anstatt die strengen Vorschriften gegenwärtig in der Sommerzeit, wo die hungernde städtische Bevölkerung sich Lebensmittel auf dem Lande leichter, als sonst, verschaffen könnte, zu lindern, verschärften noch die Behörden durch die Verordnung vom 20.VI. die Lage, indem jede Entfernung aus dem Stadtkreise ohne einen entsprechenden Reiseschein auch zu Fuß unter Strafen verboten wurde.
Angesichts dessen ist es hervorzuheben, dass die kleinen Mengen von Lebensmitteln, die von armen Einwohnern in die Stadt eingeführt werden, in keinem Falle das Schmugglerwesen zu fördern geeignet sind, dass im Gegenteil das gewissenlose Treiben von Schmugglern dadurch bekämpft und eingeschränkt wäre, da die Schmuggler keine Gelegenheit mehr hätten, die Notlage der Städter auszunützen.
Euer Durchlaucht haben am I8.V.I7 den Vertretern der Bevölkerung Wilnas er-
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öffnet, dass "es den Bemühungen der deutschen Militärbehörden gelungen ist, die Ernährung der Bevölkerung Wilnas bis zur nächsten Ernte sicherzustellen, sodass besonders auch die ärmeren Bevölkerungsschichten vor schweren Entbehrungen bewahrt bleiben werden," und dass "die deutschen Militärbehörden auch hier das Wohl der heut unter ihrem Schutze stehenden Bevölkerung eben so im Auge haben, wie die Reichsregierung im Deutschen Reiche das Wohl des Deutschen Volkes."
Diese menschenfreundliche Äußerung ermutigt uns, es freimütig auszusagen, dass bis jetzt von Seiten der Exekutiven Behörden keine Schritte unternommen wurden, damit die Versicherungen Euerer Durchlaucht verwirklicht werden, dass im Gegenteil es scheint, als ob die unmittelbare Folge von ihnen die gleich darauf erfolgte Herabsetzung von Brotration bis 100 Gr. und die Entziehung der städtischen Verkaufsläden von Grütze sein sollten.
Wir hätten diese Frage überhaupt nicht berührt, wenn in unserem Lande tatsächlich keine Lebensmittel vorhanden wären. Da aber die Requisitionen von Lebensmitteln fortdauern, da wir ferner Zeugen sind davon, wie große Mengen von Kartoffeln, Gemüse etc. im Winter faulen, um im Frühjahr den Volksküchen geliefert, oder mit (bzw. in) Brot, in einem Zustande, in dem man sie kaum den Tieren reichen könnte, zwangsweise verkauft zu werden, so müssen wir zum Ergebnis kommen, dass nicht der Mangel an Lebensmitteln im Lande die schreckliche Lage unserer Stadt verursacht hat.
Euer Durchlaucht Sorge um das Wohl unseres Volkes ermutigt uns folgende Wünsche Euer Durchlaucht zu unterbreiten, die einen mehr zweckmäßigen Verbrauch der im Lande vorhandenen Lebensmittel und die Rettung der städtischen Einwohnerschaft vom Hungertode zu erreichen einzig und allein im Stande sind:
1. – dass die Nahrungsrationen für die Einwohner der Stadt bis auf solche Beträge gehoben werden, die dieselben nicht nur am Leben zu erhalten, sondern sie auch arbeitsfähig zu machen geeignet wären. Dies wäre nur dann erreicht, wenn genügende Mengen von Brot, Grütze, Kartoffeln und Fetten in Volksküchen und in städtischen Verkaufsläden den Einwohnern zur Verfügung ständen.
2. – dass nebst den deutschen Behörden auch städtische wirtschaftliche und Wohltätigkeitsinstitute, wie Konsumvereine, Wohltätigkeitsgesellschaften, Kriegshilfevereine, Volksküchen etc. Lebensmittel für die Stadt zu beziehen berechtigt werden.
3. – dass jeder Einwohner der Stadt geringe Mengen von Lebensmitteln, die er für eigenen Bedarf auf dem Lande gekauft hat, unter Ausschließung von Beschlagnahmungen und Strafen in die Stadt einführen dürfte.
4. – dass denjenigen Einwohnern der Stadt, die aufs Lande abwandern wollen, die dauernde Übersiedelung oder der zeitweilige Aufenthalt ermöglicht und erleichtert werde.
Dieser letzte Wunsch deckt sich unseres Erachtens dem Wesen nach mit den Ansichten der deutschen Behörden. Euer Durchlaucht haben ja vor den Vertretern der Bevölkerung Wilnas sich dahin geäußert, dass "Maßnahmen getroffen sind, um den Großstädtern in erster Linie aber den Kindern den Aufenthalt auf dem Lande zu ermöglichen." Leider werden bis jetzt ganz ungewöhnliche Schwierigkeiten von Seiten
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der Behörden denjenigen Städtern gemacht, die aufs Land abwandern wünschen. Es könnten sehr zahlreiche Fälle angeführt werden, wo die hungernden Einwohner der Stadt wochen- oft monatelang auf Ausstellung der Reisescheine warten mussten und oft nach langem Warten eine ablehnende Antwort erhielten.
Euer Durchlaucht betonten in der oben erwähnten Ansprache, dass es "den verschiedenen Nationalitäten bestimmte Landstrecken zum Landesaufenthalt angewiesen wurden." Grade diese Bedingung der Übersiedelung ist für die Einwohner Wilnas sehr lästig und macht in vielen Fällen die Auswanderung aufs Land unmöglich. Falls die Einwohner Wilnas zufällige Ankömmlinge in diesem Lande waren, hätte der Umstand, wohin sie aus der Stadt auswandern sollen, ganz selbstverständlich für sie keinen weiteren Belang. Sie haben aber als ständige Einwohner dieses Landes in verschiedenen Landstrecken ihre Verwandten, Freunde, und viele von ihnen auch eigene Landgüter, wo sie sich während der schweren Kriegszeit viel billiger, unter Umständen auch unentgeltlich verpflegen könnten. Es ist dagegen in vielen Fällen nicht sicher, ob sie in den von den Behörden angewiesenen Landstrecken bei den Einwohnern derselben Arbeitsgelegenheit und Unterkunft finden werden.
Hier sei es uns erlaubt, die Frage der Abschiebung aufs Land von polnischen Kindern zu berühren. Für dieselben wurden die vier am meisten vom Kriege heimgesuchten Kreise angewiesen. Es wurde zwar von Seiten der Behörden den Vertretern der Wohltätigkeitsanstalten wiederholt eröffnet, dass die Herrn Kreishauptleute die Versorgung der Kinder mit Lebensmitteln gegen mäßige Preise auf sich nehmen würden. Es fällt aber doch sehr schwer, sich mit dieser Maßnahme zu versöhnen, angesichts dessen, dass die Wohltätigkeitsanstalten zahlreiche Kinder in anderen Landstrecken unentgeltlich bei Pfarrern und Gutsbesitzern unterbringen konnten. Heute noch verhungern Tausende von Kindern, ihre Eltern aber oder Institute, in denen sie untergebracht sind, können sich nicht entschließen, die Kinder dorthin zu schicken, wo weder genügende Ernährung noch sittliche Obhut in keinem Falle gewährleistet werden. Was grade die Versorgung mit Lebensmitteln durch Vermittelung der Behörden angeht, so gibt die Stadt Wilna, in der diese Versorgung vollständig in Händen der Behörden liegt, ein abschreckendes Beispiel, geschweige denn, dass die sittliche Obhut ganz besondere Bedingungen fordert, die auf Befehl nicht geschaffen werden können.
Nicht weniger beängstigend scheint uns die Frage der Arbeitspflicht in der Stadt wie auf dem Lande zu sein.
Wie wir schon erwähnt haben, ist die Abführung von Arbeitskräften zu einem großen Elend für das ganze Land geworden, da aus Mangel an Pferdebeständen, Saatkorn und Arbeitskräften sehr beträchtliche Mengen von Äckern unbebaut und unbesät bleiben, in der Stadt aber blieben viele Familien ohne Ernährer zurück und sehen sich dem Hungertode preisgegeben, und allen Gefahren des Lasters und der Unzucht, die das Elend mit sich bringt, ausgesetzt.
Die Art und Weise endlich, wie die Arbeitspflichtigen herangezogen und bei der Arbeit selbst behandelt werden, ruft unter der Bevölkerung eine sehr große Erbitte-
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rung und ein tief empfundenes Bewusstsein, dass sie Unrecht leidet, hervor. Zahlreich sind Fälle, wo Männer auf den Straßen festgenommen oder bei Nacht aus ihren Betten wie Verbrecher verschleppt wurden, die Familienzustände wurden oft außer Acht gelassen, Frauen und Kindern ihre Ernährer entzogen. Wenn die Behörden diese äußerst strengen Maßnahmen durch Mangel an freiwilligem Angebot erklären wollen, so ist die Ursache davon, dass die Bevölkerung sich vor der Arbeitspflicht scheut, nur den Bedingungen zuzuschreiben, unter denen die Arbeitspflichtigen ihren harten Dienst zu tragen gezwungen werden. Die durchaus ungenügende Ernährung, die sehr geringen Arbeitslöhne, die äußerst schroffe Behandlung von den Arbeitsaufsehern, die unmenschliche körperliche Züchtigung und der Mangel an Seelsorge haben dazu beigetragen, dass die Arbeitspflicht von den Einwohnern dem Todesurteile gleichgestellt wird. Und Reihen von Arbeitern, die nach ihrer Heimkehr von galoppierender Schwindsucht verzehrt werden, oder in Folge des Erfrierens von Gliedern zu Krüppeln geworden, sind ein abschreckendes Beispiel für Andere.
Die städtischen Wohltätigkeitsinstitute richteten wiederholt Beschwerden an die deutschen Behörden und baten um Linderung der rücksichtslosen Behandlung von Arbeitspflichtigen, ihre Bemühungen aber blieben bis jetzt ohne Erfolg.
Euer Durchlaucht unterbreiten wir in Anschluss an das oben Vorgelegte folgende Wünsche, die die ungewöhnlich schweren Folgen des bisherigen Systems der Zwangsarbeiten zu erleichtern bezwecken.
1. dass die bereits herangezogenen Väter oder Ernährer von ihren Familien von den Zwangsarbeiten befreit werden, oder in Fällen wo das unmöglich wäre, den zurückgebliebenen Mitgliedern ihrer Familien Zuschüsse, die zum Lebensunterhalt reichen könnten, gewährt werden.
2. dass in der Zukunft nur diejenigen Männer, die keine Arbeit bzw. Anstellung aufzuweisen haben, zu den Zwangsarbeiten herangezogen werden.
3. dass die äußerst harten Arbeitsbedingungen erleichtert und die geringen Arbeitslöhne gehoben werden.
4. dass es von der die Menschenwürde stark verletzenden Art und Weise der Heranziehung und Behandlung von Arbeitspflichtigen abgesehen werde.
5. dass die Arbeitspflichtigen Seelsorge von der Ortsgeistlichkeit in Anspruch nehmen und dass dieselbe zu diesem Zwecke freien Zutritt zu ihnen haben dürfte,
6. dass Frauen und Mädchen, die in ihren Familien beschäftigt sind, oder sonstige Anstellung haben, unter keinen Umständen zu den Zwangsarbeiten herangezogen werden.
7. dass Familienmitgliedern, deren Ernährer bei den Zwangsarbeiten gestorben oder arbeitsunfähig geworden, genügende Unterstützungen gewahr werden.
(gez.): Apostolischer Administrator der Diözese Wilna
v. Michalkiewicz.
Prälat Bajko, Prälat Hanusowicz, Domherr Sawicki, Pfarrer: Fr. Wołodżko – Dechant der Stadt Wilna, – J. Uszyłło, K. Lubianiec, Ellert, Brazis-Frei, Kuleszo,
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Kuchta, Kretowicz, Dr. Puciata, Tad. Zawadzki. G. Sienkiewicz, J. Adamowicz, L. Olszewski, St. Smoliński, Songin, Ig. Olszański, Januszewicz, St. Miłkowski, Gryganiewicz, Adolf Moczulski, S. Lewicki, Ad. Sawicki, Kurpis, Korn, Cegielski, B. Oleszczuk, Fr. Pieściuk, J. Cuchta, J. Jaśkiewicz, P. Zarnowski, Jasieński, Fr. Bielawski, K. Piełuc, P. Rynkiewicz, Ant. Bokszczanin, B. Gudejko, A. Michniewicz, Baniewicz, J. Kozak, N. Dyakowski, Wł. Araszkiewicz, Tołoczko, Jazukiewicz, Tracewski, Ant. Czerniawski.
Empfohlene Zitierweise
Michalkiewicz, Kazimierz Mikołaj an Isenburg-Birstein, Franz Josef Fürst von vom 05. Juli 1917, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 7127, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/7127. Letzter Zugriff am: 28.03.2024.
Online seit 24.03.2010, letzte Änderung am 10.03.2014.