Dokument-Nr. 8701
[Michalkiewicz, Kazimierz Mikołaj] an Beseler, Hans Hartwig von
[Hauptquartier], 30. November 1916
Der Streit um die Aufstellung der litauischen Kirchenfahne in der Kirche von Raduń war von Anfang an von mir und vom Pfarrer Kochański in gleicher Weise, wie jetzt, entschieden. Die Entscheidung konnte nur leider wegen der Widersetzlichkeit der polnischen Gemeindemitglieder nicht befolgt werden ohne die Anwendung von Gewalt, die aus selbstverständlichen Gründen von vornherein ausgeschlossen war.
Die Kirchengemeinde von Raduń, wie es sich aus den statistischen Angaben von 1913 ergibt, zählt 9838 Mitglieder, von denen 1975 Litauer sind, sie ist z. Zeit die einzige Pfarrei in der Diözese Wilna, in der auch jetzt wegen des Treibens von einigen nationalistischen Hetzern von einer wie von der anderen Seite Streitigkeit auf dem Gebiete des katholischen Lebens wiederholt zum Vorschein kommen.
Diese Streitigkeiten nahmen unter den letzten Pfarrvorstehern Brzozowski, Druktejn, Lajewski und Sobolewski, die überzeugungstreue Litauer waren, – ganz
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besonders unter den zwei letzteren – so einen heftigen Charakter an, dass zahlreiche Gerichtsuntersuchungen persönliche Reise von mir nach Raduń, die aufeinander folgenden Versetzungen von oben genannten Pfarren und schließlich unter dem letzten von ihnen Sobolewski ein Interdik [sic] und die Schließung der Kirche von mir vorgenommen werden mussten.Erst nach dem Anvertrauen der Gemeinde von Raduń ihrem jetzigen Pfarrvorsteher Kochański, gelang es ihm den für die Litauer festgesetzten Gottesdienst in litauischer Sprache einzuführen und zu erhalten, so dass, von dem Fall mit der Fahne abgesehen, der seit langer Zeit gewünschte Frieden eingetreten war. Es war daher eine große Überraschung für mich im gef. Schreiben zu lesen, dass "Nachdem Pfarrer Kochański inzwischen in ein Internierungslager in Deutschland gebracht worden ist, bedarf die durch sein hetzerisches Treiben in Aufregung gebrachte Kirchengemeinde…" Es ist lebhaft zu bedauern, dass die betreffenden untersuchenden Behörden vor dieser Entscheidung bei mir Auskünfte in der Angelegenheit nicht geholt haben, und stützten sich nur noch auf Angaben von aufgehetzten litauischen Agitatoren, die übrigens auch den Vikar Chlewiński aus dem Wege bringen wollen. Ich muss noch betonen, dass dem Pfarrer Kochański, trotz dem allgemein geltenden Grundsatz "audiatur et altera pars", keine Möglichkeit sich zu verteidigen gegeben, und nur ½ Stunde Zeit zur Vorbereitung zur Reise gelassen wurde, und dass er in ein Internierungslager gebracht worden ist.
Das gef. Schreiben vom 30.X.17 spricht sich ferner für die Berufung zur Leitung der Parochie Raduń in friedfertigen, aber überzeugungstreuen litauischen Geistlichen, und dass dabei auch der Vikar ein Litauer, und nur der zweite Vikar ein Pole sein soll, und dass dies der Nationalitätenstatistik dieser Kirchengemeinde entsprechen würde.
Falls die Nationalität der Geistlichen der Nationalität der Gemeindemitglieder entsprechen soll, was ich als berechtigt halte [sic], und nach Möglichkeit in der Praxis durchführe, widerspricht die im gef. Schreiben ausgesprochene
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Ansicht grade der Nationalitätenstatistik der Kirchengemeinde Raduń, wo auf 9838 Gemeindemitglieder nur 1975 Litauer sind. Was die Beruhigung der Kirchengemeinde angeht, so hat eine Reihe von Pfarrern litauischer Nationalität, wie es aus dem Obengesagten sich ergibt, zu ganz entgegengesetzten Ergebnissen geführt; eine geringe Zahl von Hetzern hat übrigens nichts zu tun mit der gesamten Gemeinde, die durch eine Berufung in jetzigen Verhältnissen von einem litauischen Geistlichen sich nicht nur in ihrer polnischen Mehrheit, sondern auch in der ruhigen litauischen Minderheit gekränkt fühlen würde, was neue Zwistigkeiten und Unruhen verursachen könnte. Um dem vorzubeugen, und aus dem Mangel an Geistlichen, habe ich angeordnet, dass die beiden zurückgebliebenen Vikare, als solche, die Parochie Raduń zeitweise gemeinsam unter der Aufsicht des Ortdekans verwalten.Zum Schluss erlaube ich mir hinzuzufügen, dass zur Beruhigung der Kirchengemeinde Raduń die Rückkehr des Pfarrers Kochański, trotz der unberechtigten Forderungen der aufgehetzten Agitatoren durchaus zu wünschen wäre. Daher ersuche ich die Verwaltung des Herrn Oberbefehlshabers Ost ergebenst, dass aus Rücksicht auf alle oben angeführten Gründe, und damit die jetzt triumphierenden Hetzer nicht noch mehr übermutig werden, dem Pfarrer Kochański die Rückkehr nach Raduń gestattet werden dürfte.