Dokument-Nr. 8830

[Kein Betreff]. Moskau, 23. September 1922

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Der Kongreß der "lebendigen Kirche"1, auf dem vornehmlich die Frage der Zulassung der verheirateten Priester in die höhere geistliche Laufbahn und finanztechnische Fragen der Verwaltung von Kirchengeldern erörtert wurden, nahm einen völlig unerwarteten Verlauf. Bischof Antonin, auf dessen Veranlassung der Kongreß einberufen worden war, sah sich in dessen Verlauf plötzlich einer starken Opposition gegenüber, die von dem Priester Kraßnitzki geführt wurde und speziell in der Frage der Kirchengelder gegen Antonin Stellung nahm. Antonin nahm an den Beratungen als Ehrenvorsitzender teil während Kraßnitzki den Vorsitz führte.
Im Verlaufe des Kongresses fand eine Veränderung in der Stellungnahme der G. P. U. (der ehemaligen Tscheka) gegenüber Antonin statt. Sein Auftreten im Kongreß erschien diesen Kreisen als zu weich. Tatsächlich setzte er seine Kräfte ein für eine Reformierung der Kirche in einzelnen grundsätzlichen Fragen. Er ging jedoch nach Ansicht seiner politischen Auftraggeber nicht weit genug, da er eine Umwandlung der Kirche zu einem reinen Instrument der Sowjetgewalt gemäß den Wünschen der G. P. U. mit seiner Stellung als kanonisch geweihter Bischof nicht vereinbaren zu können glaubte. Infolgedessen ließ ihn die G. P. U. fallen und gewährte dem Priester Kraßnitzki ihre Unterstützung. So gelang es dem Letzteren die Position Antonins auf dem Kongreß mehr und mehr zu schwächen. Allen diesen Intrigen gegenüber glaubte Antonin seine Stellung dadurch wiedererobern
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zu können, daß er am Ende der Beratungen plötzlich erklärte, er danke allen Beteiligten für die während des Kongresses geleistete Arbeit, die zur Diskussion gestellten Fragen würde er nunmehr durchdenken und sie unter Einfügung in die kanonischen Regeln einem demnächst einzuberufenden Kirchenkonzil zur Sanktionierung vorlegen. Auf diese Erklärung Antonins hin erhob sich unter den Anhängern Kraßnitzkis ein Sturm der Entrüstung. Sie erklärten, die Entscheidungen des Kongresses seien endgültig und Antonin fiele lediglich die Aufgabe der Durchführung der Kongreßbeschlüsse zu. Antonin hat dies kategorisch abgelehnt und den Sitzungssaal verlassen. Er hat sodann seine Anhänger gesammelt und als Gegengewicht gegen Kraßnitzki eine neue Kirchenbewegung ins Leben gerufen, die sogenannte "Kirche der Erneuerung"2.Auf Seite Kraßnitzkis stehen vornehmlich radikale Petersburger Priester, Mönche und diejenigen Regierungskreise, die eine Umwandlung de Kirche in ein Instrument des Staates erstreben. Auf Seiten Antonins stehen die reformistisch gesinnten Bischöfe, die den Anhängern Kraßnitzkis gegenüber ihre Legitimität als kanonische Bischöfe ins Feld führen.
Der Kampf zwischen der "lebendigen Kirche", deren Führer nunmehr Kraßnitzki ist, und der "Kirche der Erneuerung" unter Antonin ist vorläufig noch nicht entschieden. Er ist längst nicht mehr ein Kampf zwischen diesen beiden Geistlichen und ihren Anhängern. Die Entwicklung der ganzen Kirchenfrage wird lediglich davonabhängen, welche Richtung in der Tscheka den Sieg davontragen wird; ob diejenigen Kreise, die die russische Kirche zu einer Sowjetstaatskirche umformen wollen, oder die Radikalen, die ihren Kampf gegen die Kirche
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schlechthin führen, weil schon das Bestehen der Kirche in irgend einer Form ihren kommunistischen Grundsätzen widerspricht und ihnen gefährlich werden könnte.
Die letzteren glauben in der jetzt eingetretenen Spaltung bereits einen Erfolg buchen zu können.
1Hds. von unbekannter Hand in blauer Farbe unterstrichen, vermutlich vom Empfänger.
2Hds. von unbekannter Hand in blauer Farbe unterstrichen, vermutlich vom Empfänger.
Empfohlene Zitierweise
Anlage vom 23. September 1922, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 8830, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/8830. Letzter Zugriff am: 28.04.2024.
Online seit 31.07.2013.