Offener Brief Papst Pius' XI. an Kardinalstaatssekretär Gasparri vom 28. Juni 1923 und Verhandlungen Pacellis mit der Reichsregierung über eine Distanzierung von der Gewalt im besetzten Ruhrgebiet Anfang Juli 1923
Am 28. Juni trat Pius XI. mit einem offenen Brief an Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri an die Öffentlichkeit, der im "Osservatore Romano" veröffentlicht wurde. Darin erkannte der Papst zwar das Recht des Gläubigers, also vor allem Frankreichs, an, beschwor aber auch Mäßigung gegenüber dem Schuldner. Daneben befürwortete er ein neutrales Schiedsgericht für die Beantwortung der strittigen Reparationsfrage. Die französische Regierung, die von dem offenen Brief nicht im Vorhinein informiert worden war, war erzürnt. Als in der Nacht zum 30. Juni darüber hinaus auf der Duisburger Rheinbrücke ein Attentat verübt wurde, dem neun belgische Soldaten zum Opfer fielen, übten Belgien und vor allem Frankreich massiven Druck auf den Heiligen Stuhl aus, damit dieser solche Gewaltakte verurteile. Testa wurde vorübergehend der Besuch deutscher Gefangener in französischer Haft untersagt.
Der Heilige Stuhl gab nach und Gasparri instruierte Pacelli am 1. Juli (Dokument Nr. 10566), der Reichsregierung die Verurteilung von Gewaltakten, die unter dem Vorwand des passiven Widerstandes begangen werden, seitens des Papstes mitzuteilen. Die Weisung wurde den interessierten Mächten vorab mitgeteilt und im "Osservatore Romano" veröffentlicht. Über diesen Schritt war wiederum die Reichsregierung ungehalten.
Am 4. und 5. Juli reiste Pacelli nach Berlin, um die Angelegenheit mit Reichskanzler Wilhelm Cuno zu besprechen. Man einigte sich schließlich gütlich. Die Reichsregierung veröffentlichte eine mit dem Nuntius abgestimmte Presseerklärung (Dokument Nr. 4450), in der sie erklärte, dass sie Gewaltakte ebenso wie der Heilige Stuhl ablehne, zugleich aber solche Taten mit der Unterdrückung der Bevölkerung des Ruhrgebietes erklärte. Dem Heilige Stuhl, dessen Ansehen durch sein Lavieren sowohl bei der französischen als auch bei der deutschen Regierung gelitten hatte, gelang es so, den entstandenen Schaden zu begrenzen. Auch das Verhältnis der beiden Konfliktparteien entspannte sich etwas. Zu einer endgültigen Lösung des Konflikts kam es freilich erst im Folgejahr.
Quellen
Bericht des bayerischen Gesandten am Vatikan vom 7. Juli 1923, in: Akten der
Reichskanzlei. Weimarer Republik online, in:www.bundesarchiv.de (Letzter Zugriff am: 04.02.2016).
Offener Brief Papst Pius XI. an den Kardinalstaatssekretär Gasparri vom 27. Juni
1923, in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen
Neuordnung in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung, Bd. 5: Die Weimarer
Republik. Das kritische Jahr 1923, Berlin 1961, S. 148 f.
Pius XI. an Pietro Gasparri vom 24. Juni 1923, in: Acta Apostolicae Sedis 15 (1923),
S. 353-355, in: www.vatican.va (Letzter Zugriff am: ) (letzter Zugriff: 16.10.2014).
Literatur
Ruhrkrise und passiver Widerstand; Schlagwort Nr. 3097.
SELBACH, Hans-Ludwig, Katholische Kirche und französische Rheinlandpolitik nach dem Ersten
Weltkrieg. Nationale, regionale und kirchliche Interessen zwischen Rhein, Saar und Ruhr
(1918-1924) (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zu
rheinischen Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte 48), Köln
2013, S. 411-518.
Sprengung der Rheinbrücke in Duisburg am 30. Juni 1923; Schlagwort
Nr. 12091.