Religionsedikt in Bayern vom 26. Mai 1818, § 90-103
§ 91. Mangelt es an solchen Bestimmungen; so wird vermuthet, daß eine jede dieser Gemeinden mit der andern gleiche Rechte habe.
§ 92. Die Entscheidung der über Ausübung dieser Rechte entstehenden Streitigkeiten, wenn die Betheiligten sie durch gemeinschaftliches Einverständniß nicht beizulegen vermögen, gehört an das Staatsministeriums des Innern, welches die Sache nach Verhältniß der Umstände vor den Staatsrath bringen wird.
Durch Art. 10 Ziffer 11 und Art. 45 des Gesetzes vom 8. August 1878, die Errichtung eines Verwaltungsgerichtshofes und das Verfahren in Verwaltungsrechtssachen betreffend, hinsichtlich der Zuständigkeit des Staatsrates geändert.
§ 93. Wird aber darüber gestritten, ob eine oder die andere Gemeinde zu der Kirche wirklich berechtigt sey; so gehört die Entscheidung vor den ordentlichen Richter.
§ 94. Wenn nicht erhellet, daß beide Gemeinden zu der Kirche wirklich berechtiget sind; so wird angenommen, daß diejenige, welche zu dem gegenwärtigen Mitgebrauche am spätesten gelangt ist, denselben als eine widerrufliche Gefälligkeit erhalten habe.
§ 95. Selbst ein vieljähriger Mitgebrauch kann für sich allein die Erwerbung eines wirklichen Rechtes durch Verjährung künftig nicht begründen.
§ 96. Wenn jedoch, außer diesem Mitgebrauche, auch die Unterhaltung der Kirchen von beiden Gemeinden bestritten worden; so begründet dies die Vermuthung, daß auch der später zum Mitgebrauch gekommenen Gemeinde ein wirkliches Recht darauf zustehe.
§ 97. So lange eine Gemeinde den Mitgebrauch nur bittweise hat, muß sie, bei jedesmaliger Ausübung einer bisher nicht gewöhnlichen gottesdienstlichen Handlung die Erlaubniß der Vorsteher dazu nachsuchen.
§ 98. Den im Mitgebrauche einer Kirche begriffenen Gemeinden steht es jederzeit frei, durch freiwillige Uebereinkunft denselben aufzuheben, und das gemeinschaftliche Kirchenvermögen unter königlicher Genehmigung, welche durch das Staatsministerium des Innern eingeholt werden muß, abzutheilen, und für jede eine gesonderte gottesdienstliche Anstalt zu bilden.
§ 99. Auch kann eine solche Abtheilung von der Staatsgewalt aus polizeilichen oder administrativen Erwägungen, oder auf Ansuchen der Betheiligten verfügt werden.
§ 100. Wenn ein Religionstheil keinen eigenen Kirchhof besitzt, oder nicht bei der Theilung des gemeinschaftlichen Kirchenvermögens einen für sich anlegt; so ist der im Orte befindliche als ein gemeinschaftlicher Begräbnißplatz für sämmtliche Einwohner des Orts zu betrachten, zu dessen Anlage und Unterhaltung aber auch sämmtliche Religionsverwandte verhältnißmäßig beitragen müssen.
§ 101. Kein Geistlicher kann gezwungen werden, das Begräbniß eines fremden Religionsverwandten nach den Feierlichkeiten seiner Kirche zu verrichten.
§ 102. Wird derselbe darum ersucht, und er findet keinen Anstand, dem Begräbnisse beizuwohnen; so müssen ihm auch die dafür hergebrachten Gebühren entrichtet werden.
§ 103. Den Glocken auf den Kirchhöfen kann jede öffentlich aufgenommene Kirchengemeinde bei ihren Leichenfeierlichkeiten, gegen Bezahlung der Gebühr, sich bedienen."
Quellen
HAUSBERGER, Karl, Staat und Kirche nach der Säkularisation. Zur bayerischen
Konkordatspolitik im frühen 19. Jahrhundert (Münchener theologische Studien.
Historische Abteilung 23), St. Ottilien 1983, S. 343 f.
HUBER, Ernst Rudolf / HUBER, Wolfgang (Hg.), Staat und Kirche im 19. und
20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts,
Bd. 1: Staat und Kirche vom Ausgang des alten Reichs bis zum Vorabend der
bürgerlichen Revolution, Berlin 21990 ND Darmstadt 2014, Nr. 60,
S. 128-139 hier 137-139.