Erlass Bertrams vom 21. November 1920

Am 20. März 1921 wurde das Plebiszit über die staatliche Zukunft Oberschlesiens durchgeführt. Während der deutschgesinnte Breslauer Diözesanklerus die Anweisungen seines Fürstbischofs Adolf Kardinal Bertram zur Mäßigung in politischen Fragen zum Unbehagen der deutschen Regierung im Großen und Ganzen befolgte, propagierte ein Teil des polnisch gesinnten Breslauer Diözesanklerus den Anschluss Oberschlesiens an Polen. Bei dieser Agitation wurden die Breslauer Diözesanpriester durch auswärtige polnische Ordensgeistliche unterstützt, die nicht der Jurisdiktion des Fürstbischofs unterstellt waren und ausschließlich zur Propaganda nach Oberschlesien reisten.
Um sich im Voraus vor der mit Sicherheit einsetzenden polnischen Bestürzung abzusichern, bat Bertram den Heiligen Stuhl um eine Einschätzung zu dem Plan, ein Geistlicher solle ohne Genehmigung des zuständigen Pfarrers in dessen Gemeinde keine öffentlichen Reden halten dürfen. Obwohl Benedikt XV. daran nichts auszusetzen hatte, zögerte Bertram mit der Umsetzung. Erst als Gasparri ihm die Befugnis erteilte, das geplante Dekret mit "censura latae sententiae", also mit der höchsten kirchlichen Tatstrafe, zu erlassen und damit das Thema forcierte, beendete Bertram sein Zögern. Ohne die endgültige Fassung nochmals eingereicht zu haben, erließ der Fürstbischof am 21. November 1920 Kraft seiner "bischöflichen Autorität unter Approbation des Heiligen Stuhls" an alle Priester und Kleriker seiner Diözese, "jedweder Nation und Sprache", das Verbot, an "einer politischen Demonstration teilzunehmen oder irgendwelche politische oder andere Reden zu halten ohne die ausdrückliche Erlaubnis des örtlichen zuständigen Pfarrers." Allen Geistlichen aus fremden Diözesen verbot er "jedwede politische Agitation", ganz gleich, ob "sie mit oder ohne Zustimmung des Pfarrers" geschehe. In seiner Strafandrohung bezog sich Bertram direkt auf die Autorität des Heiligen Stuhls: "Auf Übertretung eines jeden dieser beiden Verbote setze ich hiermit kraft bischöflicher Gewalt und in Kraft besonderer päpstlicher Autorisation die ipso facto eintretende Suspension".
Da das Verbot vor allem den nationalpolnisch eingestellten Klerus betraf, wurde von polnischer Seite umgehend der Vorwurf laut, Bertram sei ein Polenfeind und Germanisator. Denn durch die Unterdrückungsmaßnahmen der deutschen Regierung seien schließlich 75 Prozent der oberschlesischen Pfarrer Deutsche, die nun mit Hilfe des Erlasses die überwiegend polnischen Kapläne aus nationalen Gründen an der Ausübung ihrer Bürgerrechte hindern würden. Der Erlass schlug hohe Wellen, wurde vom polnischen Episkopat heftig kritisiert und im Rahmen der Debatte um die Abberufung Nuntius Achille Rattis aus Polen, dem vorgeworfen wurde, den Erlass nicht verhindert zu haben, im polnischen Sejm debattiert. Die polnische Kritik traf nicht nur Bertram, sondern auch den Heiligen Stuhl, der durch seine Zustimmung die Neutralität verletzt habe. Aus der Perspektive der Römischen Kurie war die polnische Kritik an Bertram weniger problematisch als die am Heiligen Stuhl selbst. Als Lösung des Problems wurde der Auditor der österreichischen Nuntiatur in Wien, Giovanni Baptista Ogno Serra, nach Oberschlesien gesandt, der Ratti faktisch als Apostolischer Oberkommissar ablöste.
Ogno Serra verfügte am 21. Dezember 1920 einen umfassenden Erlass, durch den allen Welt- und Ordensgeistlichen jeder Diözese verboten wurden, im oberschlesischen Abstimmungsgebiet Propaganda zu treiben. In seiner Wirkung, dem Unterbinden der polnischen Propaganda in Oberschlesien durch Geistliche, war das päpstliche Dekret identisch mit dem Bertrams, doch bot es keine Angriffsfläche für die Proteste Polens oder der Interalliierten Kommission. In der Tat bewirkte die Kundgebung eine gewisse Beruhigung der Situation.
In der Literatur wird dieser Erlass Bertrams oft auf den 25. November 1920 datiert, da er in den Verordnungen des Fürstbischöflichen General-Vikariat-Amtes zu Breslau Nr. 682 vom 25. November 1920 abgedruckt wurde.
Quellen
BERTRAM, Adolf, Oberhirtliche Verordnung, betreffend Haltung des Klerus im oberschlesischen Abstimmungsgebiet vom 21. November 1920, in: MARSCHALL, Werner (Bearb.), Adolf Kardinal Bertram, Hirtenbriefe und Hirtenworte (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 30), Köln / Weimar / Wien 2000, Nr. 44, S. 181-183.
Literatur
FATTORINI, Emma, Germania e Santa Sede. Le nunziature di Pacelli tra la Grande guerra e la Repubblica di Weimar (Annali dell'Istituto storico italo-germanico Monografia 18), Bologna 1992, S. 231-264.
HINKEL, Sascha, Adolf Kardinal Bertram. Kirchenpolitik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 117), Paderborn u. a. 2010, S. 175-185.
HITZE, Guido, Carl Ulitzka (1873-1953). Oberschlesien zwischen den Weltkriegen (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 40), Düsseldorf 2002, S. 329-335.
MOROZZO DELLA ROCCA, Roberto, Achille Ratti e la Polonia (1918-1921), in: Achille Ratti Pape Pie XI: Actes du colloque. Rome, 15-18 mars 1989 (Collection de l'École Française de Rome 223), Rom 1996, S. 95-122, in: www.persee.fr (Letzter Zugriff am: 11.12.2018).
MOROZZO DELLA ROCCA, Roberto, Achille Ratti und Polen, in: ZEDLER, Jörg (Hg.), Der Heilige Stuhl in den internationalen Beziehungen 1870-1939, München 2010, S. 249-284, hier 272-277.
STEHLIN, Stewart A., Weimar and the Vatican 1919-1933. German-Vatican Relations in the Interwar Years, Princeton, New Jersey 1983, S. 121-124.
Empfohlene Zitierweise
Erlass Bertrams vom 21. November 1920, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 5041, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/5041. Letzter Zugriff am: 29.03.2024.
Online seit 14.01.2013, letzte Änderung am 25.02.2019.
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