Dokument-Nr. 10447
[Draudt, Paul Wilhelm Ludwig] an Paffrath OFM, Tharcisius
Paris, 29. April 1921

Sehr geehrter Herr Professor,
zu der beiliegenden Liste erlaube ich mir Ihnen ergebenst einige Erläuterungen zu geben.
Was die Gehorsamsverweigerung anbelangt, so werden Sie sich ja auch sagen können, dass die Strafen, die dafür verhängt worden sind, viel zu hart sind.
Was die Bestrafung zu No 6 anbelangt, so kann ich Ihnen hierüber nähere Angaben machen, da mir Kamerad Müth bei meinem seinerzeitigen Dortsein alles genau geschildert hat. Kamerad Müth befand sich mit einem deutschen Offizier in einem Kriegsgefangenenlager. Die Kranken sollten in die Schweiz abgeschoben werden. Müth, der irgend ein Leiden besass, passierte die ärztliche Kontrolle und wurde zur Auslieferung in die Schweiz geschrieben. Der betreffende deutsche Offizier, den Namen kann ich Ihnen leider nicht angeben, veranlasste Müth, den nächsten Tag unter seinem Namen noch einmal die französische Kontrolle zu passieren. Müth, wie er mir sagte, nach grossen inneren Kämpfen, entschloss sich, dies zu tun. Er begab sich also am nächsten Morgen unter dem Namen des betreffenden Offiziers zur Besichtigung, wurde auch wieder zur Auslieferung in die Schweiz geschrieben, nur am Schluss wollte es das Unglück, dass ihn einer der betreffenden untersuchenden Aerzte erkannte und sagte: Sie waren ja gestern schon zur Untersuchung da. Nun kam natürlich alles heraus. Statt ausgeliefert zu werden musste Müth dableiben und auch der betreffende deutsche Offizier wurde nicht ausgeliefert. Der betreffende deutsche Offizier ist ja nun längst in der Heimat, Müth aber immer noch in Gefangenschaft.
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Was die Nummer 8 anbelangt, Kamerad Ledder, so sehen Sie, sehr geehrter Herr Professor, dass Ledder wegen Diebstahlsversuch zu 15 Jahren travaux forcés verurteilt wurde, auch eine viel zu harte Strafe.
Was die Nummer 9 anbelangt, so kenne ich den Fall auch näher. Zwoboda befand sich auf der Flucht, wurde wiederergriffen und wohl von dem betreffenden Polizeiagenten geschlagen, setzte sich zur Wehr und es kam zu einer Rauferei, die ihm 20 Jahre prison einbrachte.
Der Fall 11 wird Ihnen wohl auch näher bekannt sein. Es handelt sich hier um den Kameraden Reuter, der in sein Notizbuch geschrieben hatte, bei dem Vormarsch in Belgien hätte er brennende Dörfer gesehen, hätte er erschossene Einwohner gesehen usw. Reuter selbst ist der harmloseste Mensch auf Gottes Erdboden und einer solchen Tat, wie sie ihm die Franzosen zur Last legen, wohl kaum möglich <fähig>1.br/>No 12, Stähle, ist der Leichenschändung angeklagt. Stähle hat mir seinen Fall selbst geschildert. Es handelt sich hierbei um Abnahme von Abzeichen französischer Gefallener, um sie zur Feststellung der gegenüberliegenden Truppenteile seiner Compagnie auszuliefern. Dies war ja allgemein üblich, sowohl bei den Franzosen wie bei uns. Patrouillen, die während des Stellungskrieges vorgeschickt wurden, hatten den Auftrag, festzustellen, welche feindlichen Truppenteile gegenüber lagen. Um dies zu tun und beweisen zu können, wurden, wenn keine Gefangenen gemacht wurden, den Gefallenen Feinden die Abzeichen abgenommen und diese mit zurückgebracht.
Meiner Ansicht nach ist unter allen den Bestraften Nr. 13 (Borchert) der einzige, für den man keine Entschuldigung finden kann, wenn man nicht das Leben eines Kriegsgefangenen seiner Tat zu Grunde legen will. Der Grund der Bestrafung ist von den
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Franzosen mit Attentat à la pudeur bezeichnet. Wie ich von Borchert selbst hörte, handelt es sich hierbei um Kinderschändung.
Dies, sehr geehrter Herr Professor, wären ausser den Diebstählen, die wichtigsten Fälle, die ich Ihnen zur Kenntnis bringen möchte. Hoffentlich ist Ihnen damit gedient.
[Draudt]
Die beiliegende Liste finden Sie hier.
1Hds. von unbekannter Hand gestrichen und eingefügt, vermutlich vom Verfasser.
Empfohlene Zitierweise
[Draudt, Paul Wilhelm Ludwig] an Paffrath OFM, Tharcisius vom 29. April 1921, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 10447, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/10447. Letzter Zugriff am: 26.04.2024.
Online seit 14.05.2013, letzte Änderung am 24.10.2013.