Dokument-Nr. 11612

Die Getreidekrise in Rußland, in: Germania, Nr. 321, 14. Juli 1928
Die von der Sowjetregierung plötzlich vorgenommenen umfangreichen Getreidekäufe in Hamburg, Rotterdam u. a. europäischen Häfen beleuchten blitzartig die Getreidekrise, die Rußland gegenwärtg durchmacht. Ob es 100.000 Tonnen Weizen, oder sogar 200.000 Tonnen sind, die russischerseits aufgekauft worden sind, ist gleichgültig. Tatsache ist, daß die Situation auf dem russischen Getreidemarkt in letzter Zeit eine bedeutende Verschärfung erfahren hat. In einzelnen Gebieten, vor allen in den beiden Hauptstädten Moskau und Leningrad, sind sogar Schwierigkeiten bei der Brotversorgung zu verzeichnen gewesen, die bis heute noch nicht endgültig behoben sind. Verschiedentlich ist man wieder zur Ausgabe von Brotkarten zurückgekehrt, während die endlosen Schlangen vor den Bäckereien und Mehlläden in Moskau und anderen Großstädten an der Tagesordnung sind. Die russischen Getreidekäufe im Auslande verfolgen, wie russischerseits betont wird, den Zweck, die Versorgung der Großstädte und der Zuschußgebiete in Nordrußland bis zur Einbringung der neuen Ernte sicherzustellen. Es ist aber zweifelhaft, ob eine an sich im Vergleich zum Getreidebedarf dieser Gebiete relativ geringe Menge von 100-200.000 Tonnen ausreichen wird, um diese Aufgabe zu lösen. Voraussichtlich wird Rußland daher zu weiteren Getreidekäufen im Auslande schreiten müssen, wenn die ungünstige wirtschaftliche und nicht zuletzt politische Auswirkungen der Getreideschwierigkeiten vermieden werden sollen.
Die Ursachen der Getreidekrise sind zunächst einmal in dem Mißerfolg der soeben abgelaufenen Getreidekampagne 1927/28 begründet. Trotz der mit großem Energieaufwand betriebenen Kampagne gelang es nur, einen Mehrertrag von 0,21 Mill. Tonnen im Vergleich zum Vorjahre zu erzielen. In Wirklichkeit bleiben die Korngetreideanläufe nicht unerheblich hinter denjenigen der Getreidekampagne 1926/27 zurück, und zwar um 0,35 Mill. Tonnen. Die ungünstigen Ernteaussichten, die unklare und unsichere inner- und außenpolitische Lage Sowjetrußlands, sowie die noch immer überaus ungenügende Versorgung der Bauernschaft mit Industriewaren veranlaßte die Bauern zu einer wachsenden Zurückhaltung bei der Getreidezufuhr zu den Märkten. Die von der Sowjetregierung im Spätwinter und zum Teil noch im Frühjahr d. J. den Bauern gegenüber angewandten Druckmittel, die lebhaft an die Zeit des Kriegskommunismus erinnerten, sind nicht von Erfolg gekrönt worden.
Es ist interessant, daß dieser Mißerfolg die Sowjetregierung zu einer teilweisen Revision ihrer Bauernpolitik zu veranlassen scheint. Die Sowjetspresse wendet sich scharf gegen die Beschlagnahme von Getreide bei den Bauern, gegen die Aufoktroyierung von wirtschaftlich nicht tragbaren Höchstpreisen usw.  Wieweit diese Erkenntnis der Notwendigkeit einer neuen Bauernpolitik auch tatsächlich durchdringen wird, bleibt noch abzusehen, es ist jedoch auch vom reinwirtschaftlichen Gesichtspunkt für die Sowjetregierung an der Zeit, von Gewaltmaßnahmen auf dem flachen Lande endlich Abstand zu nehmen; dies um so mehr, als die russische Wirtschaftspresse selbst zugeben muß, daß die Getreidevorräte der Bauern von der Regierung bei weitem überschätzt worden sind.
Wie bereits erwähnt, sind die diesjährigen Ernteaussichten in Rußland keineswegs günstig. Man gewinnt aus der russischen Fachpresse sogar den Eindruck, daß es um die Ernte bedeutend schlimmer bestellt ist als es die Sowjetregierung öffentlich zugeben möchte. Der selten strenge Winter hat zu einer Vernichtung der Wintersaaten in zahlreichen Gebieten geführt, so daß die Winteranbaufläche in diesem Jahr um über 18. Proz. geringer ist als im Vorjahre. Nur in wenigen vom Frost betroffenen Gebieten konnte eine Neusaat vorgenommen werden. Die Wintersaaten stehen auch fast überall bedeutend schlechter als 1927. Die Frühjahrsstaatfläche ist gegenüber dem Vorjahre um 11 Prozent erweitert worden. Sehr bemerkenswert ist jedoch, daß diese Erweiterung eigentlich nur in den für die Getreideerzeugung minder wichtigen Gebieten stattgefunden hat, während im zentralen Schwarzerdegebiet sie nur 2.3 Proz. beträgt, im Nordkaukasus dagegen sogar ein Rückgang der Anbaufläche zu verzeichnen ist. Sehr gefährliche Folgen kann die Tatsache haben, daß die Anbaufläche des Korngetreides im allgemeinen kleiner ist als im Vorjahre. Auch die geographische Verteilung der Ernte ist für die Sowjetwirtschaft in diesem Jahr recht ungünstig. Die den Exporthäfen am nächsten gelegenen Gebiete wie die Ukraine und der Nordkaukasus dürften mit ziemlicher Sicherheit einen geringeren Ernteertrag als  1927 aufweisen. Die Tatsache, daß die Ernte in Sibirien und in Ostrussland recht günstig ausfallen dürfte, fällt dagegen wenig ins Gewicht, da erfahrungsgemäß der Abtransport von Getreide aus diesen entlegenen Gebieten aus verkehrstechnischen Gründen nur mit den größten Schwierigkeiten verbunden ist. Die Lage wird noch dadurch kompliziert, daß in Rußland der Frühling in diesem Jahr mit einer erheblichen Verspätung begonnen hat, so daß die Erntetermine für Winter- und Sommergetreide zusammenfallen. Für die Bauern bedeutet dies eine ungeheuere Erschwerung, um so mehr, als das Problem der Landmaschinenversorgung, der Arbeitskräfte und dergleichen in der bäuerlichen Wirtschaft noch immer nicht befriedigend gelöst worden ist. Beispielsweise wird Sibirien in diesem Jahr eine Reihe von Landmaschinenarten überhaupt nicht erhalten können, da die betreffenden Fabriken nicht in der Lage sind, ihrer Produktionskapazität zu erhöhen.
Das Schicksal der am 1. Juli begonnen neuen Getreigekampagne 1928/29 hängt im höchstem Maße von der Frage ab, ob es gelingen wird, den Bauern rechtzeitig genügende Warenmengen zu annehmbaren Preisen zu liefern. Nun sind die Aussichten auf diesem Gebiet ebenfalls wenig rosig. Infolge des geringen Ertrages der Flachsbereitstellungen haben sich die Rohstoffschwierigkeiten der russischen Textilindustrie noch weiter verschärft. Es ist bereits in Aussicht genommen, die russischen Textilfabriken im diesjährigen Sommer über die saisonübliche Zeit hinaus auf weitere 4-6 Wochen stillzulegen. Ueberdies ist die Industrieproduktion in den letzten Monaten stark zurückgegangen und sank beispielsweise im Mai d. J. auf das Niveau von Oktober 1927. Die Preisabbauaktion in der Sowjetindustrie ist nicht einen Schritt weiter gekommen. Die Selbstkosten der industriellen Produktion, die Lieferpreise der Industrie und infolgedesse auch die Verkaufspreise des Kleinhandels stehen nach wie vor übermäßig hoch und sind für den Bauern, dessen Kaufkraft noch immer sehr gering ist, nicht tragbar. Die Aussichten des russischen Getreideexports sind angesichts dieser Lage sehr schlecht. Es ist anzunehmen, daß im kommenden Wirtschaftsjahr 1928 bis 1929 der russische Getreideexport zeitweilig auf den Nullpunkt sinken wird. Interessant ist, daß der Exportplan, der von der Sowjetregierung für 1928/29 aufgestellt worden ist, ohne Getreide berechnet wurde. In den ersten 8 Monaten 1927/28 (Oktober 1927 - Mai 1928) stellten sich die russische Getreidezufuhr nur auf 17 Proz. derjenigen in der gleichen Zeit des Vorjahres. Im Mai erreichten die Ausfuhr von Getreide ihren Tiefpunkt, und zwar mit nur 0,8 Proz. der Getreidezufuhr im Mai d. J. Der wachsende inerrussische Getreidebedarf wird 1928/29 in noch weitaus stärkerem Maße als in den vorhergehenden Jahren die Bildung von Exportüberschüssen an Getreide erschweren. Die Bauern sind bereits zu sehr großen Getreidekäufen geschritten. Welche Auswirkungen der Ausfall der Getreideausfuhr auf die gesamte Sowjetwirtschaft haben kann, ist ohne weiteres klar. Vor allem dürfte es notwendigerweise, wenn keine ausländischen Kreditaktionen einsetzen, zu einer Einschränkung der russischen Einfuhr kommen.
Dr. Leo Gerschun.
Empfohlene Zitierweise
Anlage vom 14. Juli 1928, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 11612, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/11612. Letzter Zugriff am: 26.04.2024.
Online seit 20.01.2020.