Dokument-Nr. 19713

Ohlemüller, Gerhard (Pseudonym: G. O. Sleidan): Zum Schreiben des Papstes über die christliche Einigungsbewegung, in: Tägliche Rundschau, Beilage der Täglichen Rundschau, Nr. 61, 05. Februar 1928
Dem Papst steht wie jedem anderen das Recht zu, sich über die von der romfreien Christenheit getragene Einigungsbewegung ein eigenes Urteil zu bilden und es öffentlich auszusprechen. Es steht ihm das Recht zu, für die Angehörigen seiner Kirche Richtlinien zur Beurteilung dieser Bestrebungen und praktische Verhaltungsmaßregeln aufzustellen. Andererseits, wer von so hoher Warte spricht wie der Papst und mit dem Anspruch unmittelbaren göttlichen Auftrages, wessen Worte für Millionen von Seelen ernste Gewissensverpflichtung bedeuten, wer in verantwortungsvollen Aemtern Proben seltener geistiger Begabung gegeben hat wie Pius XI., und wer wie er über einen so zahlreichen Stab von Sachkennern und Ratgebern verfügt, die in allen Zweigen der Wissenschaften und Lebensführung erfahren sind, der gibt ein Recht, die Erfüllung gewisser Voraussetzungen sachlicher und ethischer Art zu fordern. Solche Voraussetzungen sind, sich in zuverlässiger Weise mit den wahren Absichten, dem tatsächlichen Verlauf und den wirklichen Arbeiten der großen christlichen Einigungszusammenkünfte bekanntzumachen. Eine weitere Voraussetzung ist, in der Beurteilung den Dingen selbst gerecht zu werden, sie nicht aus bestimmten Zweckmäßigkeitsgründen zu verzerren, dem Gegner nicht Absichten zu unterschieben, die er selbst verwirft, Dinge, die für ihn zweiter Ordnung sind, nicht zu solchen erster Ordnung zu machen, die Schatten nicht zu vergrößern, um den Schein des eigenen Lichtes zu verstärken. Endlich darf man erwarten, daß die Persönlichkeit, die das Hirtenamt über die ganze Christenheit beansprucht und eindringliche Worte an die getrennten Christen richtet, um sie zum Anschluß an die römisch-katholische Kirche zu bewegen bei Meinungsverschiedenheiten nicht nur gerecht, sondern auch versöhnlich bleibe, fremde Ueberzeugung achte, ihre guten Beweggründe anerkenne, sich in einem Geist äußere, der sammeln und nicht zerstreuen will.
Hier setzt indes die Enttäuschung ein. Mit tiefem Befremden muß man feststellen, daß das päpstliche Rundschreiben vom 6. Januar 1928 diese Voraussetzungen nicht erfüllt, sondern Urteile voll bedauerlicher Unsachlichkeit, Einseitigkeit, Oberflächlichkeit und Unfreundlichkeit ausspricht. Es ist ganz auf die Zweckmäßigkeit voreingenommener römisch-katholischer Apologetik eingestellt. Das päpstliche Rundschreiben führt bei aller sachlichen Schärfe eine kultivierte Sprache und ist überaus geschickt in der Behandlung des vorgenommenen Problems. Die Beweisführung hingegen krankt an mancherlei Schwäche und bietet ein bedauerliches Beispiel menschlicher Verwirrung durch konfessionelle Leidenschaftlichkeit, engherzige Rechthaberei auf religiösem Gebiet und hierarchische Anmaßung auf Gottes und der Menschen Seele ureigenstem Gebiet der persönlichen Gnadenberührung. Trotz der zahlreich angeführten Bibelworte spricht aus dem Schreiben nicht der Geist des lebensspendenden Evangeliums, sondern vielmehr der des lebenhemmenden kanonischen Rechts.
Zum Beweis dessen zunächst ein paar Aeußerlichkeiten. Der Papst kann sich nicht dazu aufschwingen, die übrigen christlichen Kirchen als solche zu bezeichnen. Ein einziges Mal entschlüpft ihm der Ausdruck christliche Familien, allerdings auch nur in Verbindung mit der römischen Kirche. Die einzig wahre Kirche Christi soll eben nur die römische sein. Auch die Angehörigen der übrigen Kirchen nennt er nicht offen und einfach Christen, sondern spricht von ihnen als Menschen, die sich Christen nennen, die von Christus abgewichen sind, als Dissidenten und Irrenden, er bezeichnet sie alle zusammen mit dem zweifelhaften Ausdruck "panchristiani", Allchristen, Allerweltschristen, wie es in der Uebersetzung der "Ecclesiastica" vom 21. Januar 1928 heißt. Die Zusammenkünfte bei ihren christlichen Einigungsbestrebungen ironisiert er in überheblichem Ton, er spricht von "buntgewürfelten Tagungen" – quos versicolores dixeris im lateinischen, variopinte riunioni im italienischen Wortlaut –, in deren Mitte zu sein oder gar an deren Spitze zu stehen, ihm eine sonderbare Zu[mutung]1dünkt. Dann übt er Kritik an ihren methodologischen Versuchen, der gewünschten Einheit eine sichtbare Form zu geben. Befangen in der römischen Anschauung von der Heilsnotwendigkeit einer sichtbaren Kirchenform, verlegt er dabei das Schwergewicht auf die für die Konferenzen selbst nebengeordnete Frage der äußeren Form. Das Wesen des christlichen Glaubens sieht er in der Annahme autoritativ vorgelegter Leitsätze im Einklang mit der Darstellung des römischen Katechismus: Glauben ist Fürwahrhalten dessen, was die katholische Kirche lehrt. Nach diesem römisch-katholischen Maßstab beurteilt er an konkreten römischen Glaubensgegenständen die auf innere Seelenerfassung gegründete Heilserkenntnis der nichtrömischen Christenheit und spricht ihr die Eigenschaft, christlicher Glaube zu sein, ab. Die Beweisführung wendet also einen Begriff von verschieden gehandhabter Bedeutung in entgegengesetztem Sinne an und kann dadurch nach dem fehlerhaften Vorgang der sophistischen Aequivocatio nur hinkende Behauptungen hervorbringen.
Alles in allem ein Haftenbleiben an der Oberfläche, am Formalen, Sekundären, ein Jonglieren mit den Begriffen nicht nach der jeweiligen sachlichen Bedeutung und Ordnung, sondern nach Zweckmäßigkeitsgründen. Dazu ein befremdendes Unvermögen, an die Wurzeln der kritisierten Bewegung zu dringen, ihre tieferen religiösen Gründe zu erfassen, der aus ihrem Ringen sprechenden inneren Not und Gewissenhaftigkeit gerecht zu werden und ihr aufrichtiges Streben nach reiner Christusliebe und wahrem Christusglauben anzuerkennen. Ebenso überrascht der Mangel an psychologischem und pädagogischem Verständnis. Nach unfreundlicher Zurückweisung des eigenen religiösen Strebens der nichtrömischen Christen glaubt das Schreiben dennoch Geneigtheit zur freundlichen Annahme des kategorischen päpstlichen Vorschlages erwarten zu können.
Man darf wohl sagen, daß die unsachliche, oberflächliche und überhebliche Art der päpstlichen Kundgebung dem Ansehen des Papstes in den Augen der Andersgläubigen mehr Abbruch getan hat als noch so viele sachliche Differenzen zwischen den Kirchen. Seiner dringlichen Mahnung zur Einsicht und zur Rückkehr zur Mutterkirche verbleibt damit auch nicht einmal ein Gefühlswert. Sehr deutlich bringt dies ein protestantisches Organ der Schweiz zum Ausdruck: "Man kann die logische Konsequenz des päpstlichen Stuhles aus der ganzen geschichtlichen Entwicklung herausverstehen, wiewohl ein nach seiner eigenen Ueberzeugung Starker sich nichts vergeben würde, wenn er sich zu den nach seiner Auffassung Schwachen hinsetzen und in Brüderlichkeit mit ihnen verkehren würde. Hat denn der Starke dabei etwas zu verlieren? Was aber an dieser Enzyklika nicht verständlich ist, ist ihre eisige Kälte und Unfreundlichkeit Andersdenkenden gegenüber. Ist nicht einer über diese Erde hinweggeschritten, von dem ein Hauch wärmster Liebe ausgegangen ist, einer Liebe, die vor dem Tod für die Brüder nicht zurückgeschreckt ist. Die Enzyklika des Papstes dürfte manchen Katholiken, die wissen, daß die Kräfte des Evangeliums auch auf nichtkatholischem Boden wirken, wenig Freude bereiten und dem Glauben an die Unfehlbarkeit des Papstes nicht förderlich sein. Die Frohbotschaft unseres Erlösers ist durchströmt von wunderbarer, alles umfassender und alles überwindender Liebe. Die Botschaft des Papstes ist kalt, sehr kalt. Ihre Kälte wird uns aber nicht hindern, all denen die Hand zu reichen, die sich zusammenfinden unter dem Kreuze des Erlösers. Dort ist der Mittelpunkt der Welt, dort allein das Zentrum aller christlichen Einheit."*
*Vorstehende Ausführungen sind entnommen der soeben erschienenen Schrift: Protestantische Studien, Heft 12, Amtliche römisch-katholische Kundgebungen zur Einigungsfrage der christlichen Kirchen von Dr. G. Ohlemüller, Berlin 1928, Verlag des Evangelischen Bundes.
1Seite an dieser Stelle eingerissen.
Empfohlene Zitierweise
Ohlemüller, Gerhard (Pseudonym: G. O. Sleidan), Zum Schreiben des Papstes über die christliche Einigungsbewegungin: Tägliche Rundschau, Beilage der Täglichen Rundschau, Nr.61 vom 05. Februar 1928, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 19713, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/19713. Letzter Zugriff am: 26.04.2024.
Online seit 20.01.2020, letzte Änderung am 01.02.2022.