Entwurf des Reichsschulgesetzes vom 22. April 1921, § 06-14

"§ 6.
Innerhalb einer Gemeinde sind zur Stellung eines Antrags auf Einrichtung von Bekenntnisschulen oder bekenntnisfreien Schulen befugt die im Sinne des bürgerlichen Rechtes Erziehungsberechtigten volksschulpflichtiger, die Volksschule besuchender Kinder, soweit sie im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte und der deutschen Staatsangehörigkeit sind. Neben dem Vater hat die Mutter das Antragsrecht. Für das Gewicht der Willenserklärung ist die Zahl der Kinder maßgebend. Die Erziehungsberechtigten können die Einrichtung von Schulen eines Bekenntnisses beantragen, dem sie selbst nicht angehören.
Die Landesgesetzgebung bestimmt, in welcher Gemeinde das Antragsrecht solcher Erziehungsberechtigten ausgeübt wird, deren Kinder die Volksschule nicht am Wohnort oder in Ermangelung eines Wohnorts am gewöhnlichen Aufenthaltsorte der Erziehungsberechtigten besuchen.
Die Landesgesetzgebung kann Bestimmungen treffen über die Übertragung des Antragsrechts der Erziehungsberechtigten auf die Vorstände von Erziehungsanstalten und solchen Personen, die fremde Kinder in Pflege haben.
Wann ein rechtswirksamer Antrag vorliegt, bestimmt das Landesrecht; dieses kann insbesondere bestimmen, daß ein Antrag auf Einrichtung von Bekenntnisschulen oder bekenntnisfreien Schulen nur dann rechtswirksam ist, wenn er von einer Mindestzahl von Antragsberechtigten gestellt ist.

§ 7.
Wird ein rechtswirksamer Antrag auf Einrichtung von Bekenntnisschulen oder bekenntnisfreien Schulen gestellt, so findet ein befristetes Anmeldungsverfahren für die beantragten Schularten statt.

§ 8.
Die Länder bestimmen, innerhalb welcher regelmäßig wiederkehrender Zeiträume Anträge auf Neueinrichtung von Bekenntnisschulen oder bekenntnisfreien Schulen gestellt oder wiederholt werden können.
Jedesmal zu Beginn dieser Zeiträume ist beim Vorliegen eines solchen Antrags innerhalb der Gemeinden, in denen keine Gemeinschaftsschule besteht, Gelegenheit zur Anmeldung der Kinder für die Gemeinschaftsschule zu geben. Dasselbe gilt auch ohne Vorliegen eines solchen Antrags, wenn mindestens 25 Antragsberechtigte (§ 6), in Gemeinden mit weniger als 250 Antragsberechtigten mindestens ein Zehntel derselben, dies verlangen.
Auch innerhalb dieser Zeiträume können nach näherer Bestimmung des Landesrechts Gemeinschaftsschulen und aus besonderen Gründen auf Antrag Bekenntnisschulen und bekenntnisfreie Schulen neu eingerichtet werden.

§ 9.
Die Einrichtung oder Beibehaltung einer beantragten Schule beeinträchtigt einen geordneten Schulbetrieb im Sinne des Artikel 146 Abs. 2 der Reichsverfassung nicht schon dann, wenn die beantragte Schule selbst wegen ihrer Schülerzahl die in der betreffenden Gemeinde übliche Klassengliederung nicht erhalten könnte. Dagegen ist eine solche Beeinträchtigung dann als vorliegend anzusehen, wenn durch die Einrichtung oder Beibehaltung der beantragten Schule die in der Gemeinde erreichte Höhe der Gesamtschulorganisation erheblich herabgesetzt oder die Verwirklichung der in Gemeinden der betreffenden Art an die Gliederung des Schulwesens billigerweise zu stellenden Anforderungen verhindert würde.
Im übrigen bestimmen sich die Voraussetzungen, unter denen die Einrichtung oder Beibehaltung einer Bekenntnisschule oder bekenntnisfreien Schule mit einem geordneten Schulbetrieb (Artikel 146 Abs. 2 der Reichsverfassung) als vereinbar zu erachten ist, sowie die Voraussetzungen für die Einrichtung oder Beibehaltung einer Gemeinschaftsschule nach Landesrecht.

§ 10.
Hilfsschulen oder Hilfsklassen, sowie Förder- und Begabtenklassen können als bekenntnismäßige oder bekenntnisfreie eingerichtet oder beibehalten werden, wenn dies nach Lage der örtlichen Verhältnisse zweckmäßig erscheint.

Regierungsvorlage.
§ 11.
Nach Landesrecht bestimmen sich die Stellen, die prüfen und entscheiden, ob und inwieweit die Einrichtung oder Beibehaltung beantragter Schulen nach § 9 als mit einem geordneten Schulbetrieb vereinbar anzusehen ist. Das Landesrecht hat jedem Antragsteller ein verwaltungsgerichtliches Verfahren zu eröffnen, in dem er die Ablehnung des Antrags anfechten kann. Über die Frage, ob die Ablehnung des Antrags der Reichsverfassung oder Bestimmungen dieses Gesetzes zuwiderläuft, entscheidet im letzten Rechtszug bei Rechtsbeschwerde das Reichsverwaltungsgericht; bis zur Einrichtung dieses Gerichts steht die Entscheidung im letzten Rechtszug den obersten Verwaltungsgerichten der Länder zu.

Beschlüsse des Reichsrats.
§ 11.
Nach Landesrecht bestimmen sich die Stellen, die prüfen und entscheiden, ob und inwieweit die Einrichtung oder Beibehaltung beantragter Schulen nach § 9 als mit einem geordneten Schulbetrieb vereinbar anzusehen ist. Das Landesrecht hat jedem Antragsteller ein verwaltungsgerichtliches Verfahren zu eröffnen, in dem er die Ablehnung des Antrags anfechten kann.

§ 12.
Die Länder haben die zur Ausführung dieses Gesetzes erforderlichen landesrechtlichen Bestimmungen so rechtzeitig zu erlassen, daß die Anträge gemäß Artikel 146 Abs. 2 der Reichsverfassung erstmalig binnen achtzehn Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes gestellt werden können.

§ 13.
Bei dem erstmaligen Antragsverfahren gilt die Beibehaltung bestehender Bekenntnisschulen im Sinne des § 3 Abs. 1 oder bekenntnisfreier Schulen ohne weitere Voraussetzung als im Sinne des § 7 beantragt.
Wird die Neueinrichtung einer Schule beantragt oder gilt ein Antrag nach Abs. 1 als gestellt, so ist das Anmeldeverfahren (§ 7) auch auf die Gemeinschaftsschule zu erstrecken. Nicht angemeldete Kinder gelten als für die Schule angemeldet, die sie besuchen.

§ 14.
Bestehende nach Bekenntnissen nicht getrennte Volksschulen mit Religionsunterricht gelten als Gemeinschaftsschulen und sind unverzüglich nach den Vorschriften des § 2 einzurichten. Auf bestehende Bekenntnisschulen finden die Bestimmungen des § 3 Anwendung, soweit diese Schulen auf Grund dieses Gesetzes bestehen bleiben. Mit der gleichen Maßgabe ist § 4 Abs. 2 auf bestehende Volksschulen ohne Religionsunterricht anzuwenden. Unbeschadet der Vorschrift des Satzes 1 ist die Neugestaltung des Volksschulwesens einer Gemeinde nach den Vorschriften dieses Gesetzes erst durchzuführen, sobald über alle rechtswirksam gestellten Anträge endgültig entschieden ist oder sobald feststeht, daß ein rechtswirksamer Antrag nicht vorliegt."
Quellen
Die Schule in der Reichsverfassung, in: Kölnische Volkszeitung Nr. 319 vom 28. April 1921; Dokument Nr. 3863.
Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Artikel 146 Abs. 2 der Reichsverfassung. 22. April 1921, in: Verhandlungen des Reichstags. I. Wahlperiode, Bd. 366: Anlagen zu den Stenographischen Berichten Nr. 1640 bis 1894, Belrin 1924, Nr. 1883, S. 1613-1628, hier 1614-1616, in: www.reichstagsprotokolle.de (Letzter Zugriff am: 29.04.2013).
Entwurf Schulz / Koch, in: GEISSLER, Walter (Hg.), Das Werden des Reichsschulgesetzes. Wortlaut der Entwürfe 1921-1928 und ihre Begründungen (Schulpolitische Handbücherei 5), Dresden 1928, S. 12-28, hier 21-28.
Empfohlene Zitierweise
Entwurf des Reichsschulgesetzes vom 22. April 1921, § 06-14, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 44, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/44. Letzter Zugriff am: 26.04.2024.
Online seit 14.05.2013, letzte Änderung am 01.10.2013.
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