Dokument-Nr. 17438

Katholiken und Einheitsstaat1, in: Augsburger Postzeitung, Nr. 265, 19. November 1927
Was hat das miteinander zu tun, wird mancher fragen, der diese Ueberschrift liest. Sehr viel, lautet die Antwort. Wir Katholiken2 haben allen Grund, das Problem Unitarismus–Föderalismus auch von unserem Standpunkt aus zu betrachten.3 Man muß das tun, selbst auf die Gefahr hin, daß die Gegenseite uns den Vorwurf macht, daß man wieder einmal Religion und Politik vermische und "katholische Instinkte" politisch ausnutze.
Wir Katholiken sind im Reiche eine Minderheit. Von der Gesamtbevölkerung stellen wir rund 33 Prozent. In Süddeutschland sind 50 Prozent des Volkes katholisch. Erinnern wir uns daran, wie es unseren Vätern und Vorvätern gegangen ist in der Zeit vor und nach der Reichsgründung, denken wir an die Kämpfe, die die Katholiken durchzufechten hatten, so kommt uns unwillkürlich die Frage in den Sinn: haben wir genügend Sicherheiten, daß sich Derartiges nicht wiederholt?4
Gewiß, die Reichsverfassung hat uns Katholiken ein großes Maß von Freiheiten gebracht. Wie steht es aber sonst? Ist der Kulturkampfgeist endgültig verschwunden? Herrscht in allen deutschen Landen die Parität, auf die wir Katholiken Anspruch haben? Werden der Pflege und Vertiefung unserer Religion keine Hemmungen mehr in den Weg gelegt? Auf alle diese und andere Fragen kann nur sehr bedingt mit einem Ja geantwortet werden. Und wenn wir uns an die Haltung der Gegenseite in verschiedenen Kulturfragen erinnern, die in den letzten Jahren im öffentlichen Leben Deutschlands eine Rolle gespielt haben, so müssen wir leider feststellen, daß uns weder das Verständnis noch die Rücksichten entgegengebracht werden, auf die wir einen selbstverständlichen Anspruch haben.5 Den deutlichsten Beweis für die Richtigkeit dieser Tatsache haben wir in der Schulfrage.6
Es ist gar kein Zweifel, daß sich die Lage der deutschen Katholiken in einem deutschen Einheitsstaat ganz wesentlich verschlechtern würde. 7 Haben wir einmal keine Länder mehr,8 sind die Parlamente derselben mit einer starken politischen Vertretung der Katholiken beseitigt, dann besteht die große Gefahr, daß sich eines Tages eine liberal-sozialistische Mehrheit rücksichtslos über die Rechte der Katholiken hiwegsetzt.9
Von diesem Gesichtspunkte aus müssen gerade wir Katholiken im Süden Deutschlands die preußische Suprematie, die Bildung eines Großpreußens betrachten und verlangen, daß die föderalistische Gliederung des Reiches beibehalten wird, weil sie uns größere Sicherheiten bietet, als der Einheitsstaat.10 Auch die Rücksichten auf das katholische Oesterreich spielen hier eine nicht unbedeutende Rolle.
Man kann einwenden, daß die hier geäußerten Besorgnisse unbegründet seien, da ja die Rechte der Katholiken in der Verfassung verankert11 sind. Demgegenüber12 sei an Ausführungen August Reichenspergers aus dem Jahre 1849 "Ueber die deutsche Frage" erinnert, wo er sagte: "Die ausdrücklichsten Stipulationen der Bundesakte haben in der Schweiz die übermächtigen Kantone nicht verhindert, unter allerhand Vorwänden die mindermächtigen katholischen Kantone um ihrer religiösen Einrichtungen willen niederzuwerfen." "So ist es", fuhr er fort, "ich weiß es wohl, daß es an Phrasen und Vorwänden für derartige Unternehmungen niemals fehlt; man behauptet bloß, man stehe auf Seite der Humanität, der Aufklärung, des Fortschrittes und hat damit alles gerechtfertigt.13 Aber gerade, weil diese Vorwände so nahe liegen, und weil in unserer Zeit die absolute Herrschaft der Majoritäten sich immer mehr geltend macht,14 gerade deshalb halten sehr viele es für dringend nötig, daß mit dem guten positiven Rechte auch eine materielle Macht verbunden sei, auf welche es im Notfalle sich lehnen könne." Diese Worte könnten gestern gesprochen worden sein, so sehr kennzeichnen sie die Lage. Heute haben wir in weit größerem Umfange die absolute Herrschaft der Majoritäten, und diese würde sich in jeder Beziehung hemmungslos15 auswirken in einem Einheitsstaat, auch wenn er, wie man uns immer vorredet, dezentralisiert wäre16. Die "Macht" aber, auf die wir Katholiken, namentlich im Süden, uns stützen können, das sind unsere selbständigen Länder. Hier und auf dieser Grundlage haben wir stets die Möglichkeit, für unsere Rechte einzutreten auch dem Reich gegenüber, in einem Eiheitsstaat aber erfährt diese Möglichkeit die weitestgehende Beschränkung.17 So haben wir Katholiken allen Anlaß, uns dem Streben nach dem Einheitsstaat entgegenzustemmen.18 Ist es nicht bezeichnend, daß Liberalimus 19 und Sozialdemokratie die lautesten Rufer nach dem Einheitsstaat20 sind, zwei Mächte im Staatsleben, die ihrem Wesen nach durchaus katholikenfeindlich21 sind? Die politisch-kulturellen Ziele beider Gruppen stehen im stärksten Widerspruch zu denen, die wir aus unserer Weltanschauung heraus erstreben. Die Sozialdemokratie erstrebt den sozialistischen Staat, der Liberalismus aller Schattierungen schrankenlosen Individualismus im öffentlichen Leben. Beide glauben im Einheitsstaat ihre Ziele rascher zu erreichen.22 Wir Katholiken haben aber begründete Veranlassung, bei jeder staatlichen Einrichtung und Neuerung zu fragen, welches Verhältnis dieselbe zu unserer Religion und Kirche einnimmt.23 Von diesem Gesichtspunkt aus, über den man auf der Gegenseite als einen "engherzigen" spötteln wird, kommen wir zur Ablehnung des Einheitsstaates.24
1Hds. unterstrichen. Alle Unterstreichungen im Folgenden mit roter Farbe, wahrscheinlich von Pacelli oder einem Mitarbeiter der Nuntiatur; Beginn und Ende der Unterstreichungen oftmals schwer zu erkennen, da die Farbe sehr unterschiedlich stark ist.
2Hds. unterstrichen: "Wir Katholiken".
3Hds. unterstrichen: "auch ... betrachten".
4Hds. unterstrichen: "denken wir ... nicht wiederholt?"
5Hds. unterstrichen: "Und wenn wir uns ... Anspruch haben".
6Hds. unterstrichen: "Schulfrage".
7Hds. unterstrichen: "Es ist gar kein Zweifel ... verschlechtern würde".
8Hds. unterstrichen: "Haben ... mehr".
9Hds. unterstrichen: "besteht ... hinwegsetzt".
10Hds. unterstrichen: "föderalistische ... Einheitsstaat".
11Hds. unterstrichen: "Rechte ... verankert".
12Hds. unterstrichen: "Demgegenüber".
13Hds. unterstrichen: "man behauptet ... gerechtfertigt".
14Hds. unterstrichen: "weil in unserer Zeit ... geltend macht".
15Hds. unterstrichen: "Heute ... hemmungslos".
16Hds. unterstrichen: "dezentralisiert wäre".
17Hds. unterstrichen: "im Süden ... Beschränkung".
18Hds. unterstrichen: "Katholiken ... entgegenzustemmen".
19Hds. unterstrichen: "Liberalismus".
20Hds. unterstrichen: "Sozialdemokratie ... Einheitsstaat".
21Hds. unterstrichen: "durchaus katholikenfeindlich".
22Hds. unterstrichen: "Beide ... erreichen".
23Hds. unterstrichen: "Wir Katholiken ... einnimmt".
24Hds. unterstrichen: "Ablehnung des Einheitsstaates".
Empfohlene Zitierweise
Anlage vom 19. November 1927, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 17438, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/17438. Letzter Zugriff am: 24.11.2024.
Online seit 25.02.2019.