Dokument-Nr. 608
Bertram, Adolf Johannes an Schmid von Grüneck, Georg
Breslau, 18. Januar 1923
sandten mir einen Separatabdruck des Artikels von Dr. A. Gisler "Luther redivivus?" aus der Schweizer Rundschau 1922 Heft 5 und 6, und regten durch die gütigen Zeilen vom 13. d. M. an, dem Theologieprofessor Dr. Wittig in Breslau die venia legendi zu entziehen. Ich bin für beides aufrichtig dankbar. Es ist notwendig, den schädlichen Wirkungen des unreifen Artikels "Die Erlösten" von Wittig im "Hochland" entgegenzutreten. Auch gibt Ihre Karte mir Anlass, meine seitherige Stellungnahme darzulegen.
I.
Unmittelbar nach Erscheinen des Artikels und zwar vor jedwedem Erscheinen einer Kritik desselben habe ich durch Schreiben vom 18. April 1922 dem Professor Wittig meine ernste Missbilligung dieses Artikels ausgesprochen und besonders darauf hingewiesen, dass seine Zeichnung des sittlichen Kampfes und des Beichtens eine Karrikatur [sic] ist, und dass verschiedene Stellen des Artikels zweifellos schädliche Folgen haben, zumal in Folge seiner Unklarheit und seiner grossen Kunst, Stimmungsbilder zu zeichnen, aus seinem Artikel Folgerungen gezogen werden, die über das, was er intendiert hat,
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weit hinausgehen. Ich habe Grund anzunehmen, dass Wittig sich mit der kirchlichen Lehre in Widerspruch zu stellen keineswegs beabsichtigte.II.
Da aber seine Antwort auf mein Schreiben mich nicht befriedigte, und da ich das Bewusstsein hatte, sofort etwas fester eingreifen zu müssen, habe ich durch Erlass vom 24. April 1922 ihm die Leitung der Marianischen Akademiker-Kongregation in Breslau entzogen.
III.
Von diesem meinen disciplinaren Vorgehen habe ich einer Reihe von Pfarrern in und ausserhalb Breslau schriftlich Kenntnis gegeben, ingleichen mehreren Bischöfen Deutschlands schriftlich Mitteilung gemacht, damit die Wachsamkeit aller geweckt werde, um zu erfahren, ob die Folgen des Artikels Unheil anstiften würden und darum seitens des verantwortlichen Oberhirten noch ernstere Massnahmen nötig sein würden.
IV.
Auf mein Ersuchen hat gleichzeitig der Dekan der Theologischen Fakultät dem Professor Wittig ernstliche Vorhaltungen wegen seines Artikels gemacht, um ihn zum Einlenken zu bestimmen. Auch hat unser Dogmatikprofessor Geyer im Colleg ausführlich die Irrtümer des Artikels widerlegt.
V.
Auch habe ich die Frage erwogen: soll ich ihm die
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missio canonica zur venia legendi entziehen oder nicht? Ich scheue nicht davor zurück. Aber gerade in diesem Momente obwalten sehr ernste Bedenken, die ich nur vertraulich Ihnen andeuten kann. Im gegenwärtigen Zeitpunkte, wo die Conkordatsverhandlungen zwischen dem Heiligen Stuhle und der Preussischen Staatsregierung und dem Deutschen Reiche schweben und auch die prinzipielle Stellung des Bischofs zu den Theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten berühren, ist es im Interesse eines ruhigen Fortgangs der Verhandlungen nicht erwünscht, einen Sturm aller Universitäten heraufzubeschwören. Dieser Sturm würde aber mit grosser Schärfe einsetzen, wenn gerade jetzt der Konflikt die Amtstätigkeit des vom Staate angestellten Universitätsprofessors angreift. Ist es in diesem Momente nicht im Interesse der Kirche besser, einen ruhigeren Weg zur Klärung zu versuchen?Aus allem diesem werden Eure Bischöfliche Gnaden die Situation verstehen, die ich pflichtmässig ins Auge fassen musste.
Ich bitte, mir zu gestatten, dass ich Abschrift dieser Zeilen auch dem Hochwürdigsten Apostolischen Nuntius in München gebe, der am besten es zu beurteilen vermag, ob das, was ich bis jetzt getan, einstweilen genügend und einen ruhigeren Ausgang der diffizilen Angelegenheit zu fördern geeignet ist.
Auf dem Felde wissenschaftlicher Arbeit haben Artikel in der Kölnischen Volkszeitung, in den Stimmen
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der Zeit (München) und andere mit Wittig's Entgleisungen sich beschäftigt.Von ganzem Herzen die liebevollen Wünsche zum begonnenen Jahre erwidernd bin ich in tiefer Verehrung unter herzlichem Gruss
Euerer Bischöflichen Gnaden
ganz ergebener
(gez.) A. Card. Bertram.