Document no. 13906
Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft: Kurzer Berichtüber die augenblickliche Notlage der Studenten und ihre Selbsthilfeeinrichtungen in Deutschland.. [Dresden], before 12 May 1923
Dieser, von Studenten selbst ausgehende Appell an die Weckung der innersten Kräfte der Selbstverantwortlichkeit und der Energie ist nicht ungehört verhallt: Im Sommer 1922 waren mehr als 60.000 deutsche Studierende in dieser Weise während längeren Zeiträumen als Arbeiter tätig und zwar mehr als die Hälfte davon als Arbeiter in Industrie, Bergwerken und auf Gütern. In der weitaus grössten Zahl aller deutschen Hochschulen waren die studentischen Wirtschaftskörper gegründet, in denen die Studenten gemeinsam mit Dozenten und anderen Freunden Studentenküchen, genossenschaftliche Verkaufseinrichtungen, Werkstätten, Arbeitsvermittelungsämter u. ä. schufen.
Im Sommer 1922 konnten die Studenten sich der Hoffnung hingeben, auf diese Weise der Notlage Herr geworden zu sein, vor allem, da zahlreiche Kreise innerhalb und ausserhalb Deutschlands ihnen hierbei in der dankenswertesten Weise geholfen hatten, darunter der Heilige Vater mit grossen Summen für die Fragen der studentischen Krankenfürsorge.
Im Herbst begann unter dem Druck der neuen Reparationsforderungen der letzte grosse wirtschaftliche Zusammenbruch, der durch
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die Ruhraktion eine für die Studentenschaft ausserordentlich verhängnisvolle Wendung nahm.Die Ersparnisse der Werkstudenten, die im Sommer 1922 mit 500 Millionen Mark dem damaligen Kurswerte nach 120.000 engl. Pfund betrugen, schmolzen unter der Markentwertung auf weniger als den vierten Teil im Dezember 1922 zusammen. In gleicher Weise wurde das Betriebskapital der Speisung auf einen kleinen Bruchteil vermindert. Tausende von Studenten waren schon im Januar völlig mittellos und konnten nur durch neue und grosse Spenden ausländischer Freunde bis zum Ende des Wintersemesters durchgehalten werden.
In den Osterferien waren zum ersten Male in der Geschichte des modernen Industrialismus etwa 15.000 Studenten unter den Massen der Arbeitslosen.
Genaue statistische Unterlagen haben ein erschreckliches Bild von dem Anwachsen der persönlichen Not der Studenten ergeben. Während die den Studenten zur Verfügung stehende Monatssumme im April 1922 durchschnittlich dem Realwerte von 4 ½ Paar Stiefeln entsprach, sank das Durchschnittsmonatseinkommen bis Februar 1923 herab auf die Hälfte des Preises eines Paar Stiefel.
Unter diesen furchtbar ernsten Bedingungen geht die Studentenschaft jetzt der anwachsenden Not des Sommers und des nächsten Winters entgegen. Zehntausende dieser Studenten werden im Sommer arbeitslos sein. Die Studentenspeisungen und anderen Einrichtungen der Selbsthilfe werden unter dem allergrössten Mangel leiden. 40.000 Studenten, die ganz auf die Studentenküchen angewiesen sind, stehen hungernd auf der Strasse, wenn diese Küchen zusammenbrechen. Wenigstens 10 % aller Studierenden sind von den Ärzten als schwer unterernährt und tuberkulosegefährdet bezeichnet. Zur Beschaffung von Büchern irgendwelcher Art sind die weitaus meisten Studenten nicht imstande: Der Preis eines
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einzigen kleinen Lehrbuches würde die ganze Monatssumme verschlingen.Was wird aus diesen mehr als 70.000 notleidenden deutschen Studierenden? Wenn sie die Universitäten verlassen müssen, bricht damit das geistige Leben in Deutschland zusammen. Die Kirchen werden veröden, der Unterricht in den Schulen wird eingeschränkt werden müssen, die Ärzte werden nicht mehr den Leidenden Heilung und Rettung bringen, die ganzen Wissenschaften der Chemie und Physik, auf denen ein grosser Teil des wirtschaftlichen Lebens Deutschlands beruht, werden zusammenbrechen. Ein solcher Zusammenbruch wird die schwersten Folgen nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Länder nach sich ziehen.
In dieser furchtbaren Not ist es ein Hoffnungsstrahl, dass auch aus Ländern, mit denen Deutschland noch vor kurzem in Kriegszustand war, echte Menschenliebe, vor allem der christlichen Kreise, Hilfe zu bringen beginnt. Diese Hilfe zeigt, dass die Kraft echter christlicher Nächstenliebe, die über die Grenzen hinweggeht, in der Welt nicht erstorben ist.