Document no. 16282

[K., E.]: In Algier warten 400 Deutsche auf Freiheit! Zum Dienst in die Fremdenlegion gepreßt? - Die lebenden Toten in Biribi. Bekannte Fliegeroffiziere, die als tot gelten, leben, in: Berliner Nachtausgabe, 15 May 1926
Während das Auswärtige Amt nun bereits seit Jahresfrist unermüdlich, jedoch vollständig erfolglos bemüht ist, die Freilassung der entgegen allen Grundsätzen des Völkerrechts zurückgehaltenen mehr als hundert deutschen Gefangenen in Cayenne zu erwirken, schmachten in den berüchtigten Konzentrationslagern von Algier, in Sidi-bel-Abbès, Bed-el–Saida, Bahomé und Tuila, noch 400 Deutsche, von deren Existenz bei uns bis vor ganz kurzer Zeit niemand auch nur die geringste Kenntnis besaß. In der Mehrzahl handelt es sich dabei um ehemalige Kriegsgefangene, die von den Franzosen - man kennt ja zur Genüge die so überaus raffinierten Mittel und Wege, deren sich die grande nation zu diesem Zwecke zu bedienen pflegt - zum Dienst in der Fremdenlegion gepreßt worden waren und dann unter dem Vorwande irgendwelcher Vergehen in die Strafkommandos gesteckt wurden. In den deutschen Verlustlisten sind die meisten von ihnen als "vermißt" verzeichnet; ihre Angehörigen betrauern sie als Tote, und lebende Tote sind sie ja auch, denn aus den Biribi - so nennen die Araber diese Strafkolonien - ist noch nie ein schriftliches Lebenszeichen hinausgedrungen.
Die erste Kunde, die von diesen Unglücklichen in die Heimat gelangte, datiert vom März 1923 und stammt von dem ehemaligen deutschen Vizefeldwebel und späteren Fremdenlegionär Hans Sahling. Sahling war kurz nach Abschluß des Waffenstillstandes von französischen Werbern nach Frankreich verschleppt und dort für die Fremdenlegion "gepreßt" worden. Er nahm an zahlreichen Kämpfen gegen die aufständischen Araber teil, lernte verschiedene Lager der Legion kennen, konnte dann aber nach einigen Monaten mit Hilfe einer eingeborenen Händlerin entfliehen. Ein Dampfer einer Triester Schifffahrtsgesellschaft brachte ihn nach Rom, und von dort glangte er dann mit Hilfe eines italienischen Grafen, Morosini di Blazzi, von dem hier noch weiter die Rede sein wird, über Wien nach Deutschland.
Den Berichten Sahlings zufolge befinden sich in den erwähnten Lagern etwa 400 deutsche Gefangene, und zwar in der Hauptsache ehemalige Angehörige sächsischer Regimenter, aber auch eine Anzahl bekannter deutscher Fliegeroffiziere, die alle in der Heimat als tot oder vermißt gelten. Die Namen verschiedener dieser Unglücklichen sind bekannt; unter ihnen befinden sich die Fliegerleutnants Walter Bordfeld, Herbst und Kurt Waldhelm, die Vizefeldwebel Schnabel und Erich Hoffmann, beide aus Berlin, der Unteroffizier Siegfried Winkler aus Liegnitz und der Jäger Willi Schmidt vom Garde-Jägerbataillon, dessen Angehörige in Gera wohnen. Die Namen sämtlicher Gefangenen zu ermitteln, erscheint jedoch so gut wie aussichtslos, wenn man bedenkt, daß zweifellos sehr viele von ihnen, wie das bei den Franzosen seit langer Zeit üblich ist, unter falschen Namen in die Legion eingereiht worden sind.
Das Leben dieser Unglücklichen ist ein Leben ununterbrochenen Schreckens. Völlig unzureichend verpflegt, der brennenden Tropenglut und Infektionsgefahr durch epidemische Krankheiten ausgesetzt, von der harten, zermürbenden, täglich zehnstürdigen [sic] Arbeit in den algerischen Steinbrüchen allmählich aufgerieben, von der Furcht vor den Ueberfällen feindlicher Araber gepeinigt, sterben sie langsam dahin. Der Pariser Reiseschriftsteller Albert London hat in seinem jetzt erschienenen, ungeheures Aufsehen erregenden Buche "Biribi", mit dem Untertitel "Dante n'avait rien vu!", eine Schilderung dieser Strafkolonie entworfen, vor deren brutaler Realistik selbst die schrecklichen Bilder von St. Martin de Ré und Cayenne verblassen. Die grausamste dieser Höllen ist Tuila. Das dortige Lager untersteht dem Befehl eines Sergeantmajors Marcus, eines geborenen Rheinländers, der aus der deutschen Armee desertiert war und sich dann zur Fremdenlegion anwerben ließ. Dieser Ueberläufer, noch französischer als die Franzosen, sucht sich das Wohlwollen seiner französischen Vorgesetzten dadurch zu verdienen, daß er die seiner Aufsicht unterstellten deutschen Gefangenen bei den geringfügigsten Anlässen auspeitschen, unbedeckten Hauptes in brennender Sonne stundenlang an Pfähle anbinden oder sonstwie in brutalster Weise mißhandeln läßt. Bei einem Ueberfall, den aufständische Araber Anfang 1919 auf das von diesem Teufel in Menschengestalt befehligte Lager von Tuila unternahmen, sind etwa zweihundert Deutsche in arabische Gefangenschaft geraten. Man hat von ihnen nie wieder etwas gehört.
Da sich bei der amtlichen Untersuchung dieser furchtbaren Anklagen jedoch einige Tatsachen ergaben, die die unbedingte Zuverlässigkeit der Sahlingschen Angaben bis zu einem gewissen Grade als zweifelhaft erscheinen ließen, stand die mit der Bearbeitung der Angelegenheit beschäftigte zuständige Reichsdienststelle, nämlich die "Restverwaltung für Reichsaufgaben", der ganzen Sache im Anfang etwas skeptisch gegenüber, um so mehr, als man dort über keinerlei Mittel verfügte, um die Angaben Sahlings einer Nachprüfung zu unterziehen. Inzwischen sind dieselben jedoch durch einen im Dezember 1925 nach Ablauf seiner Dienstzeit aus Oran zurückgekehrten ehemaligen Leutnant der Fremdenlegion, Herbert Hecht aus Leipzig, in ihren wesentlichen Teilen bestätigt worden, so daß nunmehr alle Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit wegfallen.
Durch Vermittlung des oben erwähnten Grafen Morosini in Rom ist die ganze Angelegenheit bereits vor längerer Zeit dem Vatikan unterbreitet worden 1, ohne daß dieser Schritt allerdings bisher irgendwelche positiven Ergebnisse gezeitigt hat. Auch die "Restverwaltung für Reichsaufgaben", in deren Händen die amtliche Bearbeitung liegt, steht der Sache ziemlich hilflos gegenüber, da für eine unmittelbare Intervention in Paris keine formalrechtlichen Grundlagen vorhanden sind. Eine deutsche Dame in Danzig und einige ehemalige Ofiziere [sic] des alten Heeres, deren Namen hier aus leicht begreiflichen Gründen einstweilen nicht genannt werden sollen, haben sich privatim der Unglücklichen anzunehmen versucht; ob ihren Bemühungen jedoch ein, wenn auch noch so geringer Erfolg beschieden sein wird, wird einstweilen abzuwarten bleiben.
Unsere amtlichen Stellen befinden sich hier in einer äußerst schwierigen Lage. Wenn wirklich die Freilassung der 400 gefangenen Deutschen erreicht oder sonst etwas für dieselben getan werden soll, so wird man in allererster Linie den Nachweis erbringen müssen, daß sie nicht freiwillig, sondern gezwungen in die Legion eingetreten sind. Da den Gefangenen jedoch jeglicher Briefwechsel unterbunden ist und die französische Regierung sich zweifellos gegenüber jedem Ersuchen auf eine Kontrolle der Straflager durch eine paritätisch zusammengesetzte Kommission von vornherein ablehnend verhalten wird, so erscheint ein solcher Nachweis so gut wie unmöglich, und die Gefangenen der "Biribi" werden, fern von jeder Hoffnung auf die Freiheit, weiterschmachten, zu Ehren der "grande nation", des Völkerbundes und des vielzitierten, stets verneinenden Geistes von Locarno. E. K.
1"Vatikan" hds., vermutlich vom Empfänger, in roter Farbe unterstrichen.
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[K., E.], In Algier warten 400Deutsche auf Freiheit! Zum Dienst in die Fremdenlegion gepreßt? - Die lebenden Toten in Biribi. Bekannte Fliegeroffiziere, die als tot gelten, lebenin: Berliner Nachtausgabe from 15 May 1926, attachment, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', document no. 16282, URL: www.pacelli-edition.de/en/Document/16282. Last access: 02-05-2024.
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