Document no. 19531
Gulienetti, Joseph to Pius XI.
Baden-Baden, 20 December 1927

Heiliger Vater,
Darf ein treuer Sohn der katholischen Kirche sich erlauben dem heiligen Vater eine Zeitung zu übersenden, mit der Bitte den Artikel "in der Heimat der Weber" zu lesen. -
Was mich bewegt ist das große Elend der werktätigen Klasse. Man darf sich wohl die Frage vorlegen, warum die armen Menschen so unzufrieden sind. - An sich fühlen Sie [sic] die großen Entbehrungen und den furchtbaren Kampf um's Dasein und bei ihren reichen Brüdern & Schwestern sehen sie den großen Luxus und den Übermut.
Die armen Leute leben zum großen Teil in elenden Wohnungen, ihre Kinder sind hohläugig und sind der Sittenlosigkeit ausgesetzt, wenn sie in so engen + wenigen Räumen zusammengepfercht leben müssen; es verkehren in diesen Räumen noch "Schlafgänger", so daß die Betten oder Lager nie kalt werden.
So ist es aber nicht nur in Schlesien, so ist es überall in den Industrie-Bezirken und in den Großstädten und manchmal noch schlimmer. -
Der New-Yorker Bürgermeister Mr. Walker war diesen Herbst in London und in Berlin, um dorten zu studieren, wie die Londoner + Berliner mit ihrem Massen Elend fertig werden, weil wie Mr. Walker sagt, das Elend in New-York eine große Sorge für ihn ist.-
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Ich habe selbst 15 Jahre als Kaufmann in London gelebt, das Elend dorten ist furchtbar und daher auch die Sittenlosigkeit.
Die Verbesserungen die allenthalben vorgenommen werden, sind aber nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. -
Die Besitzenden haben meistens kein Herz für den armen Mann, man giebt wohl Almosen & treibt Fürsorge, aber das ist für die Masse kaum fühlbar. -
Warum sollte auch der Arme von Almosen seine Existenz verbessern, der Mensch hat doch Anspruch auf ein Menschenwürdiges Dasein auf dieser Erde. -
Ich spreche und verkehre nicht nur mit den Besitzenden und höre ihren grassen [sic] Egoismus, sondern ich spreche auch mit den Armen und mit den Arbeitern. -
Die Letzteren sagen: "So kann und darf es nicht immer so weitergehen." – Ich behaupte:
"Der Kapitalismus ist die Quelle allen Unglückes"
So lange der triumphiert, wird das Elend der Massen und der Krieg nie aufhören. –
Mit wenig Worten ist da Alles gesagt. -
Ich gehöre zu den Besitzenden, ich teile indessen diese Meinung.
Nun kommt der springende Punkt. -
Kann die katholische Kirche in dieser Sache Abhilfe leisten? Viele von unseren kath. Arbeitern kehren der Kirche den Rücken, weil sie der Meinung sind, daß der Trost auf's Jenseits allein, ihnen auf dieser Erde keine wesentliche Erleichterung bringt. -
Sie sagen: Möchte doch die katholische Kirche den Mut
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aufbringen, hierin Wandel zu schaffen. - Ich behaupte:
Der reiche Mann erzieht seine Kinder hier auf Erden im Luxus, in der Genußsucht und führt sie unbewußt zum Laster. - Das giebt meistens keine Söhne und Töchter unserer h. kath. Kirche, wenigstens nicht innerlich, oft nur zum Schein. -
Der arme Mann sieht seine arme Frau und Kinder dem Elend preisgegeben und wenn er frühzeitig stirbt, verfallen die Kinder dem Laster durch Armut. -
Der ganze Apparat ist auf dieer Erde durch den Kapitalismus verdorben! -
Die Opfer dieses unheilvollen Apparates bäumen sich dagegen auf! – Was tut man? – Statt das Richtige zu tun, wendet man Gewaltmaßregeln an oder man hilft mit Almosen & dergleichen und läßt Alles beim Alten! –
Die wahre Liebe scheint auf Erden erloschen zu sein! Soll wirklich die Sozial Democratie, die Partei der Arbeiter dazu berufen sein, hier auf Erden Ordnung zu schaffen und nicht die katholische Kirche? –
Nebenbei sei bemerkt, daß die Freiheit der katholischen Kirche hier in Deutschland, neben der kath. Zentrums-Partei, nur mit Hilfe der Sozial Democratischen Partei möglich war.
Wenn die Führer dieser letzteren Partei innerlich doch gegen die kath. Kirche sind, so kommt es meines Erachtens nur daher, weil die Kirche ihre Arbeitermassen auf das Jenseits hinweist, statt auch anzustreben, wie es die Sozial
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Democratie tut, schon hienieden für den Armen und Schwachen Ordnung und Ausgleich zu schaffen. -
Wir haben in den Reihen unserer kath. Zentrum's Partei in Deutschland "einige" führende Männer, die wirklich sozial denken und denen das Wohlergehen der werktätigen Menschheit sehr am Herzen liegt, die aber, wie es scheint, von ihren Kollegen in der Partei, welche noch befangen sind, nicht immer verstanden werden. – Es ist dies in erster Linie Herr Dr. Wirth. Solche Männer, wie er, giebt es in jedem Staate, die im Stande wären eine Brücke zur Sozial Democratie zu bauen, um vereint mit ihr und mit der Kirche, das zu tun, wonach die Menschheit, natürlich nicht die Plutocratie und nicht das reiche Bürgertum, förmlich schreit:
"Ausgleich zwischen Kapital und Proletariat!"
Das "nicht gezügelte" Kapital führt zur Sünde, zum Chaos und sicher zum Krieg. –
Ausgleich führt zur Einfachheit, zum Glück, zur Liebe zu Gott und den Menschen, zur Völkerversöhnung. -
Man kann sich die Frage auch vorlegen: Wohin fließt das Kapital? Das Iudentum und einige Christen-Iuden saugen es auf. –
Das kann doch die Menschheit unmöglich glücklich machen. -
Das Proletariat und die Kirche müssen schließlich doch noch zusammen gehen und sich vor dem Untergang hier auf Erden stützen! –
Deshalb je früher das eingeleitet wird, umso besser
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für beide Teile und die Welt wird daran genesen. –
Ich habe die feste Überzeugung, daß sobald die Führer der Sozial Democratie fühlen, daß die Kirche mithilft auch das den Diesseits Gedanken auszubauen, im Sinne wie es die werktätige Menschheit nötig hat, der Jenseits Gedanke braucht deshalb keinen Schaden zu leiden, die Führer, sofern sie nicht einer anderen Weltanschauung huldigen, den Weg zu unserer h. Kirche wieder finden werden und mit ihnen viele Millionen Arbeiter. -
Sie haben ja nur den Weg verloren, weil ihrer Ansicht nach die Kirche auf das Diesseits nicht genügend Gewicht legt, sie sind gewissermaßen in die Opposition gedrängt.
Die Plutocratie freut sich natürlich ob der kath. Lehre, nicht etwa weil sie selbst es glaubt und darnach lebt, nein, weil sie darin ein gutes Mittel sieht in ihrem Interesse die Arbeitermassen in Schach und Abhängigkeit zu halten. - Es ist von der Plutocratie aus gesehen, ein modernes Sklaventum! –
Die Völkerversöhnung kann niemals im Geiste des Kapitalismus erfolgen. – "Hie übermäßiger Reichtum, hie verelendete Armut." Durch Almosen oder Fürsorge ist dieses Problem "heute" nicht mehr zu lösen!
Der Menschenfriede kann nur im sozialistischen Ideal gefunden werden, wenn ihm auch noch manche Mängel anhaften mögen.
Unsere h. Kirche kann nur eine ächte Volkskirche sein, wenn sie mithilft eine gerechte Wirtschafts-Ordnung zu
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schaffen, die die Menschen zu wahren Brüdern und Schwestern vereinigt, nur dann kann sich der Geist Christi voll auswirken und die Menschen in Liebe versöhnen.
Die religiösen Sozialisten haben über den kath. Priester Wilhelm Hohof [sic] eine Brochure heraus gegeben, welcher die Not der arbeitenden und armen Menschen und die Wertlehre des größten Sozial Oekonomen Carl Marx richtig erkannte. –
Ich erlaube mir auch diese Brochure beizufügen, in welcher sich (Seite 15) auch ein Ausspruch des Herrn Reichs-Kanzler's a. D. Dr. Joseph Wirth befindet, der jedem Zentrum's (Popolari) Mann zum Nachdenken Anlaß geben sollte.
Gebe Gott, daß von berufener Seite, man einmal einen Vergleich ziehen möchte zwischen einem Mönch und einem armen Familien Vater mit einer halbverhungerten, verelendeten Kinderschar und mit einer abgeschafften und abgehärmten Mutter und sich den "Diesseits-Blick" dieser beiden Männer vergegenwärtige.
Der Eine steht auf 2 gesunden Füßen hier auf Erden und der Andere mit 2 müden Füßen, die noch ein Dutzend solcher mitschleppen. –
Welch' ein Kampf des Letzteren!
Wie muß der Letztere dem lb. Gott danken, daß endlich eine Partei erstanden ist, die Sozial denkt und dem Unfug Kapitalismus ein Ende bereiten will.
Dieser Kapitalismus, der wie ein Vampir alles verschlingen will und sich selbst letzten Endes und alle übrigen Menschen "Dieseits" [sic] ruiniert. -
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Sich selbst, weil er sich und die Seinen auf Kosten der Anderen mästet, entehrt und elend stirbt und die Anderen schickt er in seiner Gierde in's Tränental!
Gebe Gott, daß diese starken Männer, die auf 2 festen Füßen stehen kommen und helfen werden, das arbeitende Volk von dieser Ungerechtigkeit durch ihre machtvolle Sprache zu befreien! -
Gebe Gott daß man einsieht, daß diese verrufene Arbeiter-Partei, die scheinbar eine Feindschaft gegen die Kirche hat oder haben soll, die aber nur aufgezwungen ist, die aber die größte Nächstenliebe "Diesseits" auf ihrem Banner trägt. Schreiber dieses, ein alter Mann von 68 Jahren, ist ein eingeschriebenes Mitglied der kath. deutschen Zentrum's Partei. Er hat erkannt, daß man ein gottesfürchtiger Katholik sein kann und trotzdem seine Stimme und seine Sympathie den sozialistischen Arbeitern geben kann.
Der heilige Vater Papst Leo XIII sagt selbst, daß Reichtum der Staaten nirgends anders woher, als aus der Arbeit der Arbeiter kommt. –
Ich resümiere: Für die Kirche ist der Kapitalismus nicht begehrenswert, weil die Träger desselben der Kirche zum größten Teil entfremdet oder gar feindlich gesinnt sind. Durch Sozialismus würden jene Menschen wieder bescheiden und für die Religion wieder zugänglich werden, der Reichtum hat sie verblendet! –
Die verführten Arbeitermassen könnten wieder zurück gewonnen werden, neue verführte kämen nicht hinzu,
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weil sie in der Kirche eine Stütze finden, ihr diesseitiges wirtschaftliches Glück zu erringen und zu befestigen.
Durch die allgemeine Mechanisierung der Industrien und auch des Ackerbaues werden "ungeheuere" Massen arbeitslos und brotlos; die staatlichen Unterstützungen sind ungenügend und doch müssen diese armen Menschen leben.
Dies führt zum Chaos!
Im Sozialistischen Staate wird für Alle gesorgt! Alle müssen arbeiten, keiner zuviel und Alle haben zu leben. –
Der Kapitalismus trägt schon in sich den Keim des Sozialistischen Staates. - Um das Volk immer mehr aus zu saugen, schließt sich alles zu großen Verbänden zusammen und verteuert in egoistischer Weise die Lebenshaltung.
Der Kleinhandel wird zerstört! Die Maschinen ersetzen den Arbeiter! Die Welt wird proletarisiert! –
Was nun da kommen muß ist Sonnenklar! -
Entweder ein fürchterliches Chaos, ein kaum auszudenkendes Chaos oder geordnete Sozialistische Staatswesen, dann haben diese kapitalistischen Neuerungen erst einen wahren Sinn und Kern. – Arbeits-Ersparniß ist ein guter Weg, wenn sie der arbeitenden Menschheit auch zu gute kommt und nicht blos einer "Volksaussaugenden Klicke"! -
Bleibt der Sozialismus der Kirche entfremdet bis zu seinem Siege, der unausbleiblich ist, dann gehen die Kirchen und die Gläubigen "schweren" Zeiten entgegen, vielleicht den "schwersten", die sie je hatten, lenkt die Kirche aber grosszügig und zeitig ein, dann ist der Segen für
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die Menschheit ein großer.
Ich bitte den heiligen Vater meine Freiheit zu entschuldigen und meine Ausführungen im Lichte der Nächstenliebe entgegen nehmen zu wollen. Mein Herz ist nur von dem Wunsche beseelt unserer h. Kirche, der ich treu anhänge und meinen Mitmenschen, mit meinen schwachen Kräften zu dienen.
Möge der allgütige und allweise Gott es so fügen, daß die Herzen weich werden und es so fügen, daß die Schäflein zum guten Hirten frohen und dankbaren Herzen zurückkehren, sich bei "Ihm" sammeln und bei "Ihm" bleiben.
In tiefer Verehrung verbleibe
Ergebener und dankbarer Sohn
Joseph Gulienetti
Mitglied des kath. Kirchengemeinde-Rates der Stadt
Baden-Baden
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P. S.
Vor wenigen Tagen wohnte ich hier einer öffentlichen Sozial Democratischen Versammlung bei.
Der Redner war ein Evangelischer Pfarrer.
Er pries den Sozialismus als das Mittel die Gerechtigkeit auf Erden herzustellen und forderte die anwesenden Männer und Frauen auf fest auszuharren bis das Ziel erreicht ist.
Seine sehr ergreifende und zu Herzen gehende Rede war durchdrungen von der Liebe zu Gott und den Menschen, die Bibel und die Worte Christi wurden hell beleuchtet und die Sozialisten zur Nachfolge und Nachahmung aufgefordert.
Der Vortrag war mehr auf das Diesseits abgestimmt aber auch mit Ausklang auf's Jenseits.
Der Redner betonte auch daß bis jetzt 150 evangelische Priester in Deutschland sich entschlossen haben dieser gerechten Sache zu dienen.
Die Zuhörer waren lauter Männer und Frauen aus dem Arbeiterstande, die ganze hiesige Gegend ist meistens katholisch, mithin muß ich annehmen, daß auch die Anwesenden Katholiken waren. –
Bei dieser Gelegenheit habe ich die beiden Brochuren erstanden mit der roten Decke und dem schwarzen Kreuze, die ich mir beizufügen erlaube. -
Recommended quotation
Gulienetti, Joseph to PiusXI. from 20 December 1927, attachment, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', document no. 19531, URL: www.pacelli-edition.de/en/Document/19531. Last access: 05-05-2024.
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