Document no. 20404

[Gundlach SJ, Gustav]: Zur Übersetzung folgender Stellen der Enzyklika "Rerum novarum"
in der Ausgabe des Verlags Herder &Co, Freiburg.
, before 05 October 1929

I.
Zu Seite 62/63 der H.'schen Ausgabe

Lateinischer Text: Jus enim possidendi privatim bona cum non sit lege hominum sed natura datum, non ipsum abolere, sed tantummodo ipsius usum temperare et cum communi bono componere auctoritas publica potest. Faciat igitur iniuste atque inhumane, si de bonis privatorum plus aequo, tributorum nomine, detraxerit.
Übersetzung der H.'schen Ausgabe: Das Recht auf Privatbesitz, das von der Natur kommt, kann der Staat nicht aufheben; er kann nur den Gebrauch des Eigentums regeln und mit den öffentlichen Interessen in Einklang bringen. Es ist also gegen Recht und Billigkeit, wenn der Staat vom Vermögen der Untertanen einen übergroßen Anteil als Steuer sich aneignet.
Vorzuschlagende Neu-Übersetzung (nach Msgr. Dr. Retzbach, Freiburg i. Br.):
Denn das Recht, Güter privatim zu besitzen, selbst kann der Staat, da es nicht durch ein menschliches Gesetz, sondern durch die Natur gegeben ist, nicht abschaffen,1 sondern nur seinen Gebrauch regeln und mit dem allgemeinen Wohl in Einklang bringen. Es ist also gegen Recht und Billigkeit, wenn der Staat vom Vermögen der Untertanen einen übergroßen Anteil als Steuer entzieht.
Veranlassung zur Änderung der Übersetzung:
Die Herder'sche Übersetzung bezieht die Worte "ipsius usum" nicht klar auf "ius possidendi privatim bona", sondern läßt das Mißverständnis zu, daß es sicht 2 nicht um den Gebrauch des Eigentumsrechts handle, sondern um den Gebrauch der im Privateigentum befindlichen Güter (bona). Nun bezieht sich aber "ipsius usum" auf "ius possidendi privatim bona". Der Text
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sagt also, daß der Staat die Befugnis habe, den Gebrauch des Privateigentumsrechts als solchen, mithin die konkrete Gestaltung der Privateigentumsinstitution, d. h. die Art der Verteilung des Privateigentums unter den Gliedern der staatlichen Gesellschaft, zu regeln und mit dem alleg<e>meinen3 Wohl in Einklang zu bringen. Gerade dies haben gewisse Leute bei uns in Deutschland geleugnet und bestritten, man könne die angeführte Stelle der Enzyklika für das Recht des Staates auf Schaffung oder gar Änderung einer bestimmten Privateigentumsverteilung in Anspruch nehmen. Sie wollen dem Staat nur die Befugnis einräumen, den Gebrauch im Privatbesitz befindlicher Güter entsprechend den Anforderungen des allgemeinen Wohl<s>4 zu regeln. Die Frage ist vor allem hinsichtlich des Problems einer Reform der Privatbesetzverhältnisse an Grund und Boden ("Bodenreform") von Bedeutung, ganz allgemein auch hinsichtlich der Zulässigkeit einer staatlich durchgeführten Enteignung.
Begründung der vorgeschlagenen Neu-Übersetzung:
a) Philosophisch läßt sich "ipsius" usum nur auf "ius" possidendi privatim bona beziehen. Wenn es sich lediglich um den Gebrauch der im Privateigentum befindlichen Güter (bona) handelte, müßte es heißen "eorum usum termperare". Unzweifelhaft bezieht sich außerdem das vorhergehende "non ipsum abolere" auf "ius", also auch <das>5 "ipsius usum temperare".
b) Der nähere Kontext zwingt ebenfalls zu der vorgeschlagenen Neu-Übersetzung. Der Sinn der Stelle ist nämlich folgender: der Staat darf nicht durch eine übermäßige Besteuerung etwas indirekt abschaffen, was nicht er, sondern das Naturgesetz gegeben hat. Nun kann man aber nur vom Privateigentumsrecht als solchem,
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von der Privateigentumsinstitution sagen, daß sie unmittelbar vom Naturrecht gegeben sei. Am Privateigentumsrecht des konkreten Eigentümers am konkreten Gut haben nämlich sehr wohl die Gesetzgebung der Menschen und der Wille des Einzelnen – also nichtnaturrechtliche Faktoren – unmittelbar schöpferisch mitgewirkt, wenn auch unter der mittelbaren Norm des Naturrechts. Also handelt es sich an dieser Stelle der Enzyklika nicht um die Nutzung der im Privateigentumsrecht befindlichen Güter, sondern um die Privateigentumsinstitution, die der Staat zwar nicht abschaffen, aber gemäß den Anforderungen des allgemeinen Wohls "regeln", d. h. gestalten kann.
Außerdem: wenn es sich nur um die Regelung des Gebrauchs der im Privatbesitz befindlichen Güter handelte, wäre die Berufung an dieser Stelle der Enzyklika auf die Herkunft des Privateigentumsrechts nicht verständlich. Denn das Recht des Staates, den Gebrauch solcher Güter unter Umständen zu regeln, fließt nicht aus dem Wesen des Privateigentumsrecht, sondern daraus, daß einerseits der Mensch von Natur aus ein mit der Gesellschaft verbundenes Wesen und anderseits der Staat die gesellschaftliche Autorität, der Garant des Allgemeinwohls ist.
c) Der weitere Kontext, die Auffassung der Enzyklika vom Privateigentumsrecht stehen der vorgeschlagenen Auslegung und Neu-Übersetzung unserer Stelle nicht entgegen, sondern bestätigen sie. Die Privateigentumsinstitution ist ihrem Wesen nach auf das Allgemeinwohl hingeordnet. Sie fällte 6 also auch hinsichtlich ihrer konkreten Gestaltung unter die regelnde Kontrolle des Staates, dessen Aufgabe ja die <subsidiäre>7 Ermöglichung und Förderung des allgemeinen Wohl<s>8 ist. Nur so kann verhütet werden, daß die Einrichtung
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des Privateigentums geradezu ein Hindernis des Allgemeinwohls wird. Der Papst selbst sagt, daß Gott "dem Fleiß der Menschen und den von den Völkern zu treffenden Einrichtungen die Abgrenzung des Privatbesitzes anheimgegeben hat" (Herder'sche Ausgabe Seite 11). Es ist kein innerer Grund vorhanden, die regelnde Befugnis des Staates insichtlich der Gestaltung der Privateigentumsverteilung nur auf noch nicht im Privateigentum befindliche Güter zu beschränken; diese Befugnis erstreckt sich vielmehr auch auf bereits im Privateigentumsrecht befindliche Güter. Freilich ist im letzteren Falle jede von der staatlichen Autorität zu treffende Änderung an den Nachweis zu knüpfen, daß alle anderen Mittel, die Schäden des Allgemeinwohls zu heilen, erschöpft bezw. unwirksam sind. Dies folgt aus dem Wesen des in der Enzyklika entwickelten Privateigentumsrechts, das eine innige Beziehung zur dauernden Existenzsicherung des Einzelnen und seiner Familie enthält, mithin ein Moment der Stetigkeit und der Stabilität in das Leben des Einzelnen und der ganzen Gesellschaft hineintragen soll, zumal, wo es sich um das Privateigentum an Grund und Boden handelt. Eine gerechte, freilich ebenfalls am Allgemeinwohl zu messende Entschädigung bei etwaigen Enteignungen ergibt sich aus den geschilderten Gedankengängen der Enzyklika von selbst.
Zusammenfassung: Die philologische Betrachtung, der nähere und der weitere Kontext zeigen, daß die fragliche Stelle der Enzyklika sagt, der Staat habe die Befugnis, den Gebrauch des Privateigentumsrechts als solchen, die Art der Verteilung des Privateigentums unter den Gliedern der staatlichen Gesellschaft, zu regeln, d. h. mit dem Allgemeinwohl in Einklang zu bringen. Die vorgeschlagene Neu-Übersetzung besteht also zu Recht.
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II.
Zu Seite 46/47 der H.'schen Ausgabe
Lateinischer Text: Iamvero his pariendis bonis est proletariorum maxime efficax ac necessarius labor, sive in agris artem atque manum, sive in officinis exerceant. Immo eorum in hoc genere vis est atque efficientia tanta, ut illud verissimum sit, non aliunde quam ex opificum labore gigni divitias civitatum. Jubet igitur aequitas, curam de proletario publice geri, ut ex eo, quod in communem affert utilitatem, percipiat ipse aliquid, ut tectus, ut vestitus, ut salvus vitam tolerare minus aegre possit. Unde consequitur, favendum rebus omnibus esse quae conditioni opificum quoque modo videantur profuturae.
Übersetzung der H.'schen Ausgabe: Zur Herstellung dieser Mittel ist nun die Tätigkeit der niederen arbeitenden Klassen ebenso wirksam wie unentbehrlich, sei es, daß sie ihre Geschicklichkeit und Kraft auf den Feldern oder an der Werkbank ausüben. Ja auf diesem Gebiete ist ihre Macht und Wirksamkeit so groß, daß es eine unumstößliche Wahrheit ist, der Nationalreichtum entstehe nicht anderswoher als aus der menschlichen Arbeit. Es ist also nur eine Forderung der Gerechtigkeit, daß der Staat sich des Besitzlosen in der Richtung annehme, ihm einen entsprechenden Anteil am Gewinn aus seinem Arbeitsbeitrag zuzusichern; die Arbeit muß ihm für Wohnung, Kleidung und Nahrung so viel abwerfen, daß sein Dasein kein gedrücktes ist. (der Satz "unde consequitur ..." ist in der H.'schen Ausgabe überhaupt nicht übersetzt).
Vorzuschlagende Neu-Übersetzung: Zur Herstellung dieser Güter ist nun die Tätigkeit der Arbeiter besonders wirksam und notwendig, sei es daß sie ihre Geschicklicheit und Hand auf den Feldern oder an der Werkbank betätigen. Ja auf diesem Gebiete ist ihre Kraft und Wirksamkeit so groß, daß es eine unumstößliche Wahrheit ist, nicht anderswoher als aus der Arbeit der Arbeiter entstehe
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Wohlhabenheit im Staate. Es ist also eine Forderung der Billigkeit, daß man sich seitens der öffentlichen Gewalt des Arbeiters annehme, damit er von dem, was er zum allgemeinen Nutzen beiträgt, etwas empfängt, sodaß er in Sicherheit hinsichtlich Wohnung, Kleidung und Nahrung ein weniger schweres Leben führen kann. Daraus folgt, daß alles zu fördern ist, was irgendwie der Lage der Arbeiterschaft nützen kann.
Veranlassung zur Änderung der Übersetzung:
Die in Frage stehende Stelle der Enzyklika hat mehrfach, besonders bei den Sozialisten, zur Annahme geführt, der Papst lehre hier die marxistische These, daß die Handarbeit die einzige Quelle des ökonomischen Wertes der Güter sei. Wenn auch die Herder'sche Übersetzung "der Nationalreichtum entstehe nicht ..." die sozialistische Auslegung nicht erleichtert, so kann diese Auslegung doch noch sicherer ausgeschlossen werden. Außerdem sind manche andere Wendungen der Übersetzung wenig genau und noch weniger zeitgemäß gelungen, z. B. die Übersetzung von "proletariorum" mit "der niederen, arbeitenden Klassen". Auch fehlt, wie schon erwähnt, ein unübersetzter Satz.
Begründung der vorgschlagenen  [sic] Neu-Übersetzung:
Der Satz "Zur Herstellung dieser Güter …" bringt in der jetzigen Fassung klar zum Ausdruck, daß es sich erstens überhaupt nicht wie bei Marx um den ökonomischen Wert der Güter handelt, sondern um ihr rein physisches Dasein, und zweitens, daß die Handarbeit nicht die einzige, sondern nur eine besonders wichtige Quelle der Ursache der Güter ist. Der Satz "Ja auf diesem Gebiete …" bringt klar zum Ausdruck, daß es sich nicht um die im Besitz der Nation befindlichen Güter, distributiv genommen, handelt, sondern um die Verfügbarkeit
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an Gütern, kollektiv genommen, also um den dadurch herbeigeführten Wohlfahrtszustand, die "Wohlhabenheit" im Staate. Die dann folgenden Sätze "Es ist also …" und der in der H.'schen Übersetzung überhaupt ausgelassenen Satz "Daraus folgt  …" zeigen klar, daß es sich für den Arbeiter um eine entsprechende Teilnahme an dem allgemeinen Wohlfahrtszustand, an der "Wohlhabenheit im Staate" handelt, nicht aber um die Teilnahme am <konkreten>9 Ertrag des von ihm hergestellten einzelnen Gutes. Das "Recht auf den vollen Arbeitsertrag" im Sinne sozialistischer Theoretiker kann also aus der von uns vorgeschlagenen Übersetzung nicht mehr gefolgert werden. Die beiden Sätze "Es ist also …" und "Daraus folgt …" sprechen klar von einem zu erstrebenden "Zustand" der Arbeiterschaft, sie sprechen von allgemeiner Existenzsicherung und Besserung der "Lage" des Arbeiters. – Wir übersetzen "proletarii" mit "Arbeiter", weil die Enzyklika das Wort synonym mit "opifices" gebraucht. Wir vermeiden auch absichtlich das deutsche Wort "Proletariat". – Literarisch wäre außerdem darauf hinzuweisen, daß das Wort der Enzyklika "divitias civitatum" anklingt an den Titel des Hauptwerks von Adam Smith "Wealth of Nations" und an das Buch des belgischen Soziologen Périn "De la richesse dans les sociétés chrétiennes". Immer handelt es sich bei diesen Worten um einen "Zustand" der Wohlhabenheit, nicht distributiv um die einzelnen Reichtumsgüter.
Zusammenfassung: Sowohl die philologische Betrachtung wie auch der nähere und entferntere Zusammenhang unserer Stelle, ebenso der Sprachgebrauch der nationalökonomischen Literatur zur Zeit der Abfassung der Enzyklika erweisen, daß die vorgeschlagene Neu-Übersetzung zu Recht besteht.
1Über den Zeilen der Passage "Denn [...] abschaffen" hds. vermutlich vom Verfasser notiert: "Da das Recht Güter privatim zu besitzen, nicht durch ein menschliches Gesetz, sondern durch die Natur gegeben ist, kann es der Staat nicht abschaffen."
2Masch. gestrichen.
3Hds. vermutlich vom Verfasser gestrichen und eingefügt.
4Hds. vermutlich vom Verfasser eingefügt.
5Hds. vermutlich vom Verfasser eingefügt.
6Hds. vermutlich vom Verfasser gestrichen.
7Hds. vermutlich vom Verfasser eingefügt.
8Hds. vermutlich vom Verfasser eingefügt.
9Hds. vermutlich vom Verfasser eingefügt.
Recommended quotation
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