Päpstliche Hilfsmission in Russland
Gegenüber der Konsolidierung der Machtverhältnisse in Russland nach dem Bürgerkrieg und der Sowjetisierung der russischen Gesellschaft musste auch der Heilige Stuhl eine Position finden, die den dortigen Katholiken wie russisch-orthodoxen Christen helfen konnte, ihren Glauben unbeschadet weiter leben zu können. Auf der anderen Seite durften die russischen Emigranten und die westlichen Staaten nicht durch eine allzu weit reichende Anerkennung des Sowjetstaats gereizt werden. Ein realistischer und neutraler Weg der Einflussnahme auf Russland schien humanitäre Hilfe für die unter Hungersnöten leidende Bevölkerung zu sein. Gleichzeitig hielt Pius XI. die politischen Bestrebungen aufrecht, über den Völkerbund für die Religionsfreiheit in Russland einzutreten.
1920 wurde ein erstes Koordinierungsgremium unter der Leitung des Generals der Jesuiten Ledochowski errichtet, das die humanitären Hilfslieferungen organisierte. Damit ging der Vatikan einen eigenen Weg in dieser Angelegenheit, während zunächst überlegt worden war, sich dem Aktionsbündnis internationaler Hilfsorganisationen in Genf anzuschließen. Die Verbindung zum US-Hilfswerk "American Relief Administration" blieb allerdings eng. Es wurden einerseits finanzielle Mittel durch Spenden aus den verschiedenen Ländern (in Deutschland koordiniert durch den Berliner Caritas-Verband) gesammelt, andererseits Lebensmittel und Medikamente erworben, die auf dem Seeweg vor allem über die Krim an die russische Bevölkerung verteilt werden sollten. Mit der Koordinierung vor Ort wurden der amerikanische Jesuit Edmund Walsh und der Steyler Missionar Eduard Gehrmann beauftragt. Der führende Russlandexperte des Vatikans, Michel d'Herbigny SJ, der zur zentralen Persönlichkeit der späteren Päpstlichen Kommission für Russland werden sollte, wurde bereits bei der Einrichtung der Hilfsmission als möglicher Leiter gehandelt. Der P. General sprach sich aber vorerst für dessen Verbleib am Orientalischen Institut in Rom aus.
Trotz einer zunächst getroffenen diplomatischen Vereinbarung mit der Sowjetregierung kam es immer wieder zu Konflikten mit den örtlichen Machthabern und der sowjetischen Bürokratie, sodass manche Lieferungen erst viel zu spät oder gar nicht am Bestimmungsort eintrafen. Im Herbst 1924 mussten die Lieferungen von Hilfsgütern völlig eingestellt werden, da die Arbeit der päpstlichen Hilfsmission wie anderer humanitärer Organisationen durch die Sowjets noch stärker behindert worden waren. Den Hintergrund bildeten die diplomatischen Konflikte hinsichtlich einer vollen Anerkennung des Sowjetstaats und der Frage der Religionsfreiheit in der UdSSR.
Der humanitäre Einsatz sollte auch den Wunsch des Papstes nach eine Wiedervereinigung mit der russisch-orthodoxen Kirche verfolgen. Mit dem Untergang des Zarenreichs und dem damit verbundenen Staatskirchentum und der Bedrohung der russischen Orthodoxie durch die kommunistischen Machthaber schien die Situation günstig für eine Annäherung. Diese wollte der Papst mit karitativen Mitteln vorbereiten. Gleichzeitig glaubte er, durch diese Unterstützung die Sowjets hinsichtlich der Gewährung von Religionsfreiheit umstimmen zu können, was sich mit dem Scheitern der Mission schließlich nicht bewahrheitete.
Sources
Apostolisches Schreiben "Annus fere" Pius' XI. vom 10. Juli 1922, in: Acta Apostolicae Sedis 14 (1922),
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