Gelehrtenstreit Clemens-Schäzler-Kuhn
Auslöser für die Kontroverse Kuhns mit dem Münsteraner Clemens war dessen Werk "De scholasticorum sententia, philosophiam esse theologiae ancillam" von 1856. Darin postulierte er die Unterordnung der Philosophie als bloße Hilfswissenschaft unter die Theologie, die durch ihren Zugang zum Licht der göttlichen Offenbarung die Spitzenposition aller Wissenschaften einnehme. Daher seien kritische Anfragen der Philosophie an theologische Aussagen nicht möglich, da theologische Wissenschaft und kirchliche Lehraussagen immer gültige Wahrheiten äußern. Kuhn verurteilte eine solche Sichtweise scharf und betonte die Unabhängigkeit jeglicher Wissenschaft von einer außerhalb ihres Bereichs liegenden Autorität wie etwa die kirchlichen Autoritäten. Die Philosophie mit ihren verschiedenen Methoden sei vielmehr eine eigenständige Wissenschaft, die zu selbständigen Erkenntnissen in der Lage sei. Darüber hinaus führe die Sicht Clemens' zu einer Ghettoisierung des Katholizismus nicht nur im wissenschaftlichen Bereich, da seiner Logik folgend auch alle anderen Profanwissenschaften der Theologie unterzuordnen seien. Die beiden Positionen bilden die Parteiungen des deutschen Katholizismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab, der sich in ein römisch-neuscholastisches und ein deutsches, an der modernen Philosophie orientiertes Lager spaltete. Der in den Zeitschriften "Der Katholik" (Clemens) und "Tübinger Theologische Quartalsschrift" (Kuhn) ausgetragene Konflikt endete zwar mit dem Tod Clemens' 1862, er hatte aber Kuhn zum Feindbild der deutsche Neuscholastiker werden lassen, die sich vermehrt auch des disziplinarischen Mittels der Anzeige bei den römischen Stellen bedienten.
Der heftige Streit zwischen Kuhn und dem Freiburger Schäzler entzündete sich an der Frage nach der Gründung einer katholischen Universität in Deutschland und wurde im Lauf der Zeit zu einer Generalabrechnung mit den philosophisch-theologischen Grundüberzeugungen Kuhns. Die Errichtung einer katholischen Universität war auf der Ebene der Laienverbände seit der Säkularisation immer wieder diskutiert worden und erhielt durch die Ausarbeitung eines Konzepts durch Heinrich von Andlaw 1863 neuen Aufschwung. Kuhn nahm dazu Stellung und lehnte ein solches Vorhaben ab, da er die Ausbildung des Klerus an staatlichen Universitäten, die Autonomie der Profanwissenschaften und eine katholische Präsenz an den Universitäten als erstrebenswert ansah. Schäzler veröffentlichte daraufhin anonym diese vertrauliche Stellungnahme Kuhns verbunden mit einer scharfen Polemik. Er sah die Grundlage für die Äußerungen Kuhns in dessen Theologie, die darum bemüht war, sich mit den modernen Wissenschaften zu versöhnen. Es folgte ein Schlagabtausch, der sich schnell auf die Ebene theologischer Grundfragen, wie die nach Natur und Übernatur, Freiheit und Gnade bzw. Glauben und Wissen, verlagerte. Die Provokationen Schäzlers, der Kuhn immer mehr die Rechtgläubigkeit absprach und ihn faktisch der Häresie bezichtigte, führten Kuhn zu immer gewagteren Argumenten. Mit ihren jeweiligen Monographien "Natur und Übernatur" (Schäzler) und "Lehre von der göttlichen Gnadenlehre" (Kuhn) hatten beide große Geschütze aufgefahren. Für die Zeitgenossen schien ein römisches Eingreifen in die Kontroverse der Neuscholastiker gegen Kuhn mit Schäzler als literarischer Speerspitze nur noch eine Frage der Zeit. Die Anklage Kuhns bei der Inquisition sollte in der Tat 1866 folgen.
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