Maigesetze
Im Mai 1873 wurden nach langen und heftigen Debatten im Reichstag vier Gesetze verabschiedet, die die Möglichkeiten der Kirche zur Selbstverwaltung und ihren politischen Einfluss eindämmen sollten. Diese sind im Einzelnen das "Gesetz über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen" (11. Mai 1873), das "Gesetz über kirchliche Disziplinargewalt und die Errichtung des königlichen Gerichtshofes für kirchliche Angelegenheiten" (12. Mai 1873), das "Gesetz über die Grenzen des Rechts zum Gebrauch kirchlicher Straf- und Zuchtmittel" (13. Mai 1873) und das "Gesetz betreffend den Austritt aus der Kirche" (14. Mai 1873).
Mit Blick auf die Geistlichen sowie deren Ausbildung und Amtsausübung beanspruchte der Staat eine umfassende Kontrollfunktion, die das Ministerium für geistliche Angelegenheiten übernehmen sollte. Die kirchliche Disziplinargewalt und ihre Einrichtungen wurden der staatlichen Rechtssprechung in Gestalt des neu gegründeten Gerichtshofs für kirchliche Angelegenheiten untergeordnet, die das Recht zur Letztentscheidung besaß. Die Möglichkeiten des Einsatzes von kirchlichen Disziplinarmaßnahmen wurden stark eingeschränkt bzw. außer Kraft gesetzt, falls diese der staatlichen Gesetzgebung widersprachen.
Im Mai des folgenden Jahres erhielten diese Gesetze eine erneute Verschärfung: Mit dem "Reichsgesetz betreffend die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern" (4. Mai 1874) sowie das "Gesetz über die Verwaltung erledigter katholischer Bistümer" (20. Mai 1874) und der "Deklaration und Ergänzung zum Gesetz vom 11. Mai 1873" (21. Mai 1874) war der Höhepunkt der Kulturkampf-Gesetze erreicht. Ersteres betraf Geistliche, die sich einer staatlichen Amtsenthebung widersetzten. Es schrieb im schlimmsten Fall die Ausweisung aus dem Reich vor. Die Bestimmungen zur Verwaltung der Bistümer, deren Bischofsstühle vakant waren, sahen deutliche Eingriffe des Staates vor, die mittels harter Strafen bei Zuwiderhandlung durchgesetzt werden sollten. Die verschärfende Deklaration erweiterte die Gesetze von 1873 im Strafmaß und gewährte dem Staat das Beschlagnahmungsrecht für Kirchengüter eines gegen diese Gesetzgebung straffällig gewordenen Geistlichen.
Die Regierung Bismarck hatte sich mit dieser anti-katholischen Gesetzgebung eine Abkehr der katholischen Bevölkerung von ihrem Klerus und damit einen starken Einflussverlust der Kirche erhofft. Die Gesetze bewirkten allerdings das Gegenteil: Das katholische Milieu formierte sich als unerwartet starke Einheit aus Klerus, katholischer Öffentlichkeit (Vereine, katholische Presseorgane), der Zentrumspartei und der Bevölkerung, die sich solidarisierte und passiven Widerstand betrieb. Durch diese Situation der spürbaren Restriktionen stieg die Bereitschaft der katholischen Bevölkerung zur politischen Mitbestimmung und bescherte dem Zentrum einen enormen Stimmenzuwachs. Gleichwohl die Jahre des Kulturkampfs vor allem eine prekäre Situation in der Seelsorge hervorriefen, ging die katholische Kirche in Deutschland gestärkt aus dieser Phase hervor.
Quellen
HUBER, Ernst Rudolf / HUBER, Wolfgang (Hg.), Staat und Kirche im 19. und
20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts,
Bd. 2: Staat und Kirche im Zeitalter des Hochkonstitutionalismus und des
Kulturkampfes 1848-1890, Berlin 21990 ND Darmstadt 2014,
Nr. 279-301, S. 594-640.
Literatur
LILL, Rudolf (Hg.), Der Kulturkampf (Beiträge zur Katholizismusforschung A 10),
Paderborn 1997, S. 86-103.
STRÖTZ, Jürgen, Der Katholizismus im deutschen Kaiserreich 1871-1918. Strukturen eines
problematischen Verhältnisses zwischen Widerstand und Integration, Bd. 1:
Reichsgründung und Kulturkampf (1871-1890), Hamburg 2005, S. 246-282.
MORSEY, Rudolf, Der Kulturkampf – Bismarcks Präventivkrieg gegen das Zentrum und die
katholische Kirche, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 34 (2000),
S. 5-27.