Potentia oboedientialis

Mit dem Begriff der "potentia oboedientialis" (wörtlich: Gehorsamsfähigkeit) wird seit dem Mittelalter – etwa bei Thomas von Aquin – die vernunftmäßige Voraussetzung im Wesen des Menschen bezeichnet, die zur Gotteserkenntnis und damit zum Glauben führt.
Im Licht der Vernunft erkennt der Mensch etwa seine eigene Geschöpflichkeit und damit die Geschaffenheit der Welt. Diese metaphysische Erkenntnis ist die Grundlage für den Glauben an den biblischen Schöpfergott, auch wenn die natürliche Vernunft nur die Existenz eines Schöpfers jenseits der Welt annehmen kann. Die angemessene – d.h. vor der Vernunft zu rechtfertigende – Art und Weise, Aussagen über das Wesen Gottes zu treffen, ist die Rede in Analogien.
Die übernatürliche Gnade der Offenbarung, die den Glauben ermöglicht, braucht die potentia oboedientialis als Grundlage, die die Basis des christlichen Glaubens vor der Vernunft rechtfertigen kann, um vom einzelnen Menschen angenommen zu werden. Erst in den offenbarten Wahrheiten des Glaubens lässt Gott den Menschen trotz aller Geheimnishaftigkeit etwas von seinem Wesen erkennen, das sonst der Vernunft verborgen bliebe.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine Trennlinie zwischen den Aussagen, die die Vernunft treffen kann, und den Glaubensinhalten. Auch wenn beide aufeinander bezogen sein können, bezeichnen sie getrennte Bereiche, die nicht ohne weiteres vermischt werden dürfen, da deren Erkenntnisweise und -gegenstand unterschiedlich sind. Diese Grundauffassung greift etwa das Erste Vatikanischen Konzil auf (DH 3015).
Quellen
DENZINGER, Heinrich / HÜNERMANN, Peter (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg im Breisgau / Basel / Wien 402005, S. 3015.
Literatur
GMAINER-PRANZL, Franz, Von der potentia oboedientialis zum logos apokritikos. Auf dem Weg zu einer responsiven Theologie der Religionen, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 94 (2010), S. 74-89.
KNAUER, Peter, "Potentia oboedientialis" und "übernatürliches Existential" im Verhältnis zum "Verlangen nach der Gottesschau", in: peter-knauer.de (Letzter Zugriff am: 11.03.2014).
LACKNER, Franz, "Potentia oboedietialis": aufmerksames Hören an der Grenze des Wissens, in: SCHNEIDER, Herbert, Einzigkeit und Liebe nach Johannes Duns Scotus. Beiträge auf der Tagung der Johannes-Duns-Skotus-Akademie vom 5.-8. November 2008 in Köln zum 700. Todestag von Johannes Duns Scotus, Mönchengladbach 2009, S. 117-131.
SECKLER, Max, Die scholastische "Potentia oboedientialis" bei Karl Rahner (1904-1984) und Henry de Lubac (1896-1991). Ein Beitrag zur Metaphysik des endlichen Geistes, in: THURNER, Martin, Die Einheit der Person. Beiträge zur Anthropologie des Mittelalters. Richard Heinzmann zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1998, S. 301-316.
Empfohlene Zitierweise
Potentia oboedientialis, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 23034, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/23034. Letzter Zugriff am: 29.03.2024.
Online seit 14.04.2014, letzte Änderung am 29.09.2014.
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