Dokument-Nr. 4904
[Katholische Flamen des Erzbistums Mechelen] an Benedikt XV.
Brüssel, 15. September 1917

Streng vertraulich
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Heiliger Vater!
Ehrerbietig nahen wir flämischen Katholiken uns Deinem Throne, um in kindlicher Ehrfurcht und Liebe Deinen Schutz und Deine Hilfe in einer Angelegenheit anzuflehen, die unsere Gewissen bedrückt.
Deiner Weisheit, heiliger Vater, wird es nicht verborgen sein, dass wir Flamen seit langem im heftigsten Kampfe stehen um unsere natürlichsten Rechte, vor allem um das Recht auf unsere Muttersprache.
Obschon wir die Mehrheit der belgischen Bevölkerung ausmachen, ist unsere Nationalität von der französisch sprechenden Minderheit mit Hilfe der Regierung rücksichtslos missachtet und benachteiligt worden.
Bis vor kurzer Zeit war das Französische in Belgien die einzige offizielle Sprache. Seit 1898 wurde zwar auch das Flämische in gewissen Grenzen anerkannt, jedoch niemals mit dem Französischen auf gleichen Fuß gestellt. Die Staatsbeamten, welche das Gesetz ausführen sollten, waren die ersten in seiner Übertretung.
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Bis heute ist es uns nicht möglich gewesen, höheren Unterricht in unserer eigenen Sprache zu bekommen; an den Universitäten wurde allein in Französisch doziert. Im Mittelschulunterricht wurde unserer Sprache mit Mühe und Not etwas Raum gewährt. Auf den eigentlichen Volksschulen wird beinahe überall mit großem Zeitverlust Französisch gelehrt, selbst an Kinder, die es ihr Lebtag niemals nötig haben. An einigen Orten wird selbst unseren flämischen Kindern ausschließlich Unterricht gegeben in Französisch als Umgangssprache, sodass sie infolge davon nicht nur jämmerlich zurückbleiben, sondern selbst nicht einmal in ihrer eigenen Muttersprache beten lernen. Der ganze Unterricht ist viel weniger eingerichtet im Hinblick auf die allgemeinen Interessen des Volkes, als vielmehr allein zum Vorteil einer kleinen, durch Besitz und Einfluss mächtigen Minderheit, die sich von ihrem Volke abgesondert und das Französische als Verkehrsprache angenommen hat.
Hiermit, heiliger Vater, berühren wir das Übel, welches unser armes flämisches Volk noch beklagenswerter macht als andere unterdrückte Völker in Europa wie z.B. die Iren und die Polen. Denn diese Völker haben sich wenigstens ihre natürlichen Führer bewahrt: Geistlichkeit, Adel und höherer Bürgerstand arbeiten dort in Einigkeit und Liebe mit an der Erhebung, um ihr Volk
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emporzuarbeiten und zu befreien. Bei uns dagegen bleiben diese gleichgiltig oder, was noch schlimmer ist, gesellen sich zu unseren bittersten Feinden.
Die unvermeidliche Folge dieser Kluft zwischen höheren Ständen und niederen Volksklassen ist, dass unser Volk unter den hochgebildeten Völkern Westeuropas, unter denen es vermöge seiner Geschichte einen Ehrenplatz bekleiden müsste, auf der untersten Stufe steht. Unseren Glauben haben wir zwar bis jetzt noch bewahrt: wie tief aber Sozialismus und Gottlosigkeit auch bei uns bereits durchgedrungen sind, kann jeder Priester bezeugen, der in unseren Industriegebieten tätig ist.
Um diesen Missstand zu beseitigen, um in Belgien dem flämischen Volksstamm so gut wie dem wallonischen die Möglichkeit einer allseitigen Entwicklung gemäß seinen natürlichen Anlagen und Eigenschaften auf der Grundlage seiner eigenen Sprache zu verbürgen, gibt es nur ein entscheidendes Mittel, nämlich die Trennung der öffentlichen Verwaltung Belgiens gemäß der natürlichen, scharf abgesteckten Sprachgrenze. Alle anderen Wege, so insbesondere die durch die Regierung gewünschte Zweisprachigkeit des ganzen Landes, führen allein dazu, die bestehenden Missstände dauernd zu gestalten.
Von dieser Lösung freilich will unsere
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Regierung nichts wissen. Sie will unser Naturrecht auf gleiche Behandlung mit dem französisch sprechenden Teile der Bevölkerung nicht anerkennen. Sie strebt noch immer danach, in einem Land, wo zwischen gleichberechtigten Völkern gemäß dem Naturrecht allein Eintracht herrschen müsste, eine volle Einheit gewaltsam zu schaffen durch Unterdrückung des einen Volkes durch das andere.
Vergeblich vergießen unsere Brüder seit drei Jahren ihr Blut in Strömen für diese Regierung; dennoch hat sie sich bis heute noch nicht bewegen lassen, uns feste Versprechungen für die Zukunft zu machen. Selbst die ungenügenden Sprachgesetze, die wir vor dem Kriege durchgesetzt hatten, führt sie in dem unbesetzten Gebiet nicht aus, weder im Heere noch in der Schule.
Was unsere Regierung so sehr verwahrlost hat, wird möglich gemacht durch die deutsche Besetzung. Der Besetzer zeigt Achtung vor dem kleinen Teil unserer Rechte, der in belgischen Gesetzen bereits festgelegt war; er gibt auch sonst Verständnis für unsere Bedürfnisse zu erkennen. Daraus kam neues Leben in unsere nationale Bewegung. Wir Katholiken des Erzbistums Mecheln schlossen uns offen oder geheim der Bewegung an, die nichts anstrebt, was nicht durch göttliches und menschliches Recht zugelassen ist.
Und doch ist zu unserem großen Leidwesen unser hochwürdigster Herr Erzbischof, Seine Emi-
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nenz Kardinal Mercier gegen uns aufgetreten und gebraucht seine geistliche Macht, um unserer Sprachbewegung Hindernissen in den Weg zu legen.
Er behandelte die Frage in einer Ansprache an die hochwürdigen Dekane des Erzbistums vom 29. Januar 1917, am Festtage des hl. Franz von Sales, ferner in einer Ansprache an die Vorstände der bischöflichen Mittelschulen vom 8. Juni ds. Js. und in einer Unterweisung der Seminaristen von Mecheln im Laufe des Monats Juli.
Über diese Ansprache Seiner Eminenz sind die traurigsten Gerüchte im Umlauf, sowohl in der Presse als in den katholischen Kreisen.
In der letzten Zeit ist übrigens die verschärfte Feindseligkeit Seiner Eminenz gegenüber den flämischen Interessen auch auf andere Weise hervorgetreten.
Einzelne Priester und Seminaristen wurden, allein wegen ihrer politischen Überzeugung und nationalistischen Bestätigung, gestraft, andere sehen sich aus ähnlichen Gründen mit Strafen bedroht.
Am Tage nach der Ansprache vom 8. Juni an die Vorstände der erzbischöflichen Mittelschulen erklärte der hochwürdige Herr Direktor des St. Norbertus-Kollegs in Antwerpen, dass es fortan eine schwere Todsünde sei, an der flämischen Politik aktiv mitzuwirken.
Seit einigen Wochen erklären manche Prie-
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ster den Beichtkindern unter Berufung auf Kardinal Mercier, dass es Todsünde sei, aktivistische flämische Blätter zu lesen oder die Trennung der Verwaltung von Belgien für die beiden Landesteile zu befördern. Ein Beauftragter Seiner Eminenz, der hochwürdige Herr Bruynseels, konnte in der holländischen Zeitung "De Tijd" (Nr. 21405 vom 6. August 1917), gestützt auf Informationen Seiner Eminenz selbst, mitteilen, dass der Herr Kardinal die Mitwirkung an der Verwaltungstrennung als Sünde, in schweren Fällen selbst als Todsünde, erklärt habe.
Es spricht für sich selbst, dass dieser Gebrauch der geistlichen Macht in einer ausschließlich politischen Frage im Gewissen der Katholiken Verwirrung stiften und nachteilig für die Religion wirken muss. Denn sehr viele Flamen sehen es mit Betrübnis, wie ihr Erzbischof viel mehr Eifer an den Tag legt gegenüber der flämischen nationalen Bewegung, als gegenüber der irreligiösen Propaganda, die in Belgien heute ebenso lebhaft weitergeführt wird als vor dem Kriege. Sehr Viele können es auch nicht begreifen, wie ein Kardinal der römisch-katholischen Kirche seine Hand legen kann in diejenige von Freimaurern, während er zur selben Zeit für eifrige katholische Priester und Laien, welche die Interessen ihres Volkes vertreten, nichts übrig hat als Strenge.
Wir Katholiken fühlen uns daher durch das Verhalten unseres Erzbischofs sehr beschwert.
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Wir dachten gute Patrioten zu sein, wenn wir das uns gesetzmäßig zustehende Recht zu erlangen suchten; wir meinten, dass es für Belgien nur von Vorteil wäre, wenn nicht nur die Wallonen, sondern die beiden Stämme der Landesbevölkerung zu ihrer vollen Entwicklung gelangen könnten. Er aber bezeichnet uns als Vaterlandsverräter.
Wir glaubten der Überzeugung leben zu dürfen, dass wir für eine gerechte Sache kämpfen und Er bezeichnet unser Tun als Todsünde.
Manche befürchten, dass die Trennung der Verwaltung in Belgien für die Katholiken Walloniens nachteilig wäre, weil sie dort politisch in der Minderheit sind und durch die Verwaltungstrennung der Unterstützung der flämischen Katholiken beraubt würden.
Darauf antworten wir, dass noch niemals die heilige Kirche ein Volk verpflichtet hat, auf seine natürlichen Rechte zu verzichten mit Rücksicht auf die religiösen Interessen eines anderen Volkes, noch viel weniger aber, sich aus irgendwelchen Gründen durch ein andres Volk unterdrücken zu lassen.
Übrigens sind uns noch niemals die Gründe dargelegt worden, inwiefern die Verwaltungstrennung den Katholizismus in Wallonien schädigen sollte; es scheint uns, dass wir es hier nur mit einer unbestimmten, aus antiflämischer Gesinnung eingegebenen Furcht zu tun haben.
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Wir sind im Gegenteil überzeugt, dass wir mit unseren Bestrebungen nicht im geringsten gegen die Interessen von Kirche und Religion verstoßen.
Unser Volk ist beinahe ganz katholisch und in seiner überwiegenden Mehrheit streng kirchlich gesinnt. Von jeher hängt es mit Liebe und Treue an unserer heiligen Mutter der Kirche und an seinen Geistlichen. Die flämische Bewegung, die eine wirkliche Volksbewegung ist und die ohne Zutun von Außen entstand, ist schon aus diesem Grunde nie kirchenfeindlich gewesen. Wenn ihre Forderungen erfüllt werden, dann hat das flämische Volk, also ein ganz katholisches Volk, den Nutzen davon. Das flämische Volk war seit langem auch die Hauptstütze der katholischen Partei in Belgien. Wird nun die hauptsächlichste Forderung der flämischen Bewegung, die Verwaltungstrennung, durchgeführt, dann wird das katholische Flandern zweifellos noch mehr als früher eine Hochburg katholischen Geistes und der katholischen Partei, und Flandern wird in viel höherem Maße ein katholisches Land sein als früher. Unlängst noch hat Kamiel Huysmans, einer der sozialistischen Führer Belgiens, erklärt, von einem selbständigen Flandern nichts wissen zu wollen, weil ein solches unvermeidlich den Sieg der Reaktion, d. i. des Katholizismus, bedeuten würde. Hier winkt ebenso zweifellos in kirchlicher wie in politischer Hin-
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sicht ein sicherer Gewinn für die katholische Sache. Es ist bekannt, dass die Herrschaft der katholischen Partei in Belgien schon vor dem Kriege sehr gefährdet war, und dass Belgien in Gefahr war, an Stelle der katholischen eine kirchenfeindliche Regierung zu bekommen. Nach dem Kriege würde diese Gefahr für Belgien noch viel größer sein. Überall, wo bei uns die französische Sprache durchgedrungen ist, sieht man die Mehrheit sich von der Revolution abwenden und die französischen Unterdrückungsmaßregeln gegenüber unserer heiligen Mutter der Kirche gutheißen.
Gegenüber der Behauptung, dass durch die Erfüllung unserer nationalen Forderungen die kirchlichen Interessen geschädigt würden, weisen wir auf die Vorteile hin, welche daraus für die Kirche entstehen müssen. Mit der allgemeinen und planmäßigen Französierung unseres Landes war auch die Seelsorge in Flandern fortschreitend fanzösiert und mithin in einer volksfremden Sprache ausgeübt worden. Unsere flämischen Geistlichen wurden großenteils in ihren Studienjahren französiert. So kommt es, dass die Seelsorger besonders in den großen flämischen Städten ihren Pfarrkindern entfremdet sind und nicht mit ihrem Volke fühlen, dass die Predigten vielfach auch da Französisch gehalten werden, wo das Volk die französische Sprache nicht versteht. Viele Priester sind selbst nicht imstande, in Flämisch Beicht zu
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hören. Und da das eigentliche Volk in Flandern, die Bauern, die mittleren und kleinen Bürger, die Handwerker und Arbeiter, von jeher durch und durch flämisch waren und auch allen Französierungsbestrebungen zum Trotz flämisch geblieben sind, so war die natürliche Folge davon, dass die französischen Predigten entweder gar nicht besucht wurden, oder, da sie nicht verstanden wurden, ihren Zweck vollständig verfehlten. Schon 1842 hatte der Jesuitengeneral Beckx, selbst ein geborener Flame, welcher die Zustände aus eigener Anschauung kannte, diesen Missstand klar eingesehen und lebhaft darüber Klage geführt, und seitdem haben einsichtige flämische Geistliche und Katholiken immer wieder, auch in der Öffentlichkeit, darauf hingewiesen, wie sehr die kirchlichen Interessen durch die Französierung der Kirche geschädigt werden. Erfolg haben ihre Klagen aber nicht gehabt.
In Brüssel und seinen Vorstädten, wo die Mehrheit der Bevölkerung, vor allem der katholischen Bevölkerung, noch immer Flämisch ist und wenig oder gar kein Französisch kennt, ist der Zustand noch viel schlimmer. In verschiedenen Pfarreien kennt hier der Pfarrer kein oder nur einige Worte Flämisch und kann demzufolge mit einem großen Teile seiner Pfarrkinder nicht in Beziehung kommen. Am Sonntag wird in den meisten Kirchen nur während einer oder zwei Messen eine
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flämische Predigt gehalten. Tausende von flämischsprechenden Kindern empfangen im Unterricht ausschließlich oder beinahe ausschließlich in Französisch; selbst der Katechismus wird sie in Französisch gelehrt; dieser Unterricht in fremder Sprache findet keinen Widerklang in ihrer Seele; sie begreifen ihn nicht und können ihn nicht in sich aufnehmen; so haben sie in kurzer Zeit nach ihren Schuljahren die Gebete und die christliche Lehre völlig vergessen. Das sind in religiöser Hinsicht die Folgen der Französierung in Flämsich-Belgien.
Kirchliche Gesichtspunkte führt unser Erzbischof aber überhaupt nicht gegen uns an und wir glauben auch nicht, dass es kirchliche Gesichtspunkte sein können, die seine Haltung gegenüber dem flämischen Volke bestimmen. Der Herr Kardinal ist Wallone, er ist mit ganzem Herzen der französischen Sprache und Kultur zugetan und steht unserem Volke als Fremdling gegenüber. Er war schon vor dem Kriege, als die flämische Bewegung nur langsam, Schritt für Schritt, vorwärts kam und kaum Aussicht auf die Erfüllung ihrer letzten Forderungen hatte, ein ausgesprochener Gegner der nationalbewussten Flamen und der flämischen Sprache. Der Herr Kardinal teilte die Meinung derjenigen, die glaubten, dass Flandern ein zweisprachiges Land sei, in dem die französische und die flämische Sprache in gleicher Weise verbreitet
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seien und in dem deshalb die französische Sprache als Weltsprache den Vorrang verdiene.
Das ist aber ein Irrtum.
Flandern ist einsprachig, das Volk kennt und spricht nur seine flämische Muttersprache. Dass trotzdem viele Leute, namentlich der oberen Schichten, Französisch sprechen, kommt daher, dass der Unterricht in den höheren Schulen größtenteils, an den Universitäten fast ganz Französisch erteilt wurde, wodurch gerade die gebildeten Kreise eine ganz französische Erziehung und Bildung erhalten mussten. Dass übrigens unsere Sprache der höheren Kultur nicht im Wege steht, beweist die Geschichte unseres Volkes in den früheren Jahrhunderten und beweist die geistige Regsamkeit unserer nördlichen Nachbarn, der Holländer, deren Sprache dieselbe ist wie dir unsrige.
Der Kern- und Angelpunkt unserer ganzen Bewegung ist somit die Sprachenfrage.
Das aber gibt uns gerade den Mut, in Ehrfurcht und Vertrauen Dein Urteil anzurufen, heiliger Vater.
Wir wissen, dass unsere heilige katholische Kirche und ihre obersten Leiter, die Päpste, wie für jedes natürliche Recht, so auch stets für die sprachlichen Rechte der Minderheiten eingetreten sind. Dein ehrwürdiger Vorgänger
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auf dem Stuhle Petri, unser heiliger Vater Leo XIII., hat das wiederholt mit Nachdruck getan und den Bischöfen zur Pflicht gemacht, ebenso zu handeln. Wir erinnern uns der herrlichen Worte in seiner Enzyklika "Reputantibus" vom 20. August 1901 an die Bischöfe von Böhmen und Mähren.
Wir wissen aber auch, dass Du selbst, heiliger Vater, schon mehrmals zugunsten der Völker, deren Freiheit im Gebrauch ihrer Muttersprache unterdrückt worden ist, eingetreten bist.
Wir erinnern uns, dass Du durch Deine Bulle "Cambria, celtica gentis origine" vom 7. Februar 1916 in Wales für die keltisch sprechende Bevölkerung eine eigene Kirchenprovinz eingerichtet und damit die sprachlichen Rechte der Minderheit anerkannt hast.
Wir erinnern uns ferner Deiner weisen Entscheidung in dem Sprachenstreit in Kanada, wo die englische Regierung die französische Muttersprache der Bevölkerung unterdrückte, sodass hier in Kirche und Schule inbezug auf die Sprachenverhältnisse ganz ähnliche Zustände herrschten wie in Flandern. In Deinem ausführlichen Schreiben an den Kardinal-Erzbischof Bégin von Quebec und die übrigen Erzbischöfe und Bischöfe von Kanada vom 8. September 1916 erinnertest Du diese Bischöfe daran, dass es ihre Pflicht sei, den Streit unter den Katholiken über die Sprache in
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Kirche und Schule beizulegen, und wenn ihr Wort das nicht vermöge, die Entscheidung des Heiligen Stuhles anzurufen. Freudig bewegt lesen wir in Deinem Schreiben die Versicherung, dass der Heilige Stuhl "causam ad iustitiae et caritatis leges sic dirimet, ut fideles pacem mutuamque benevolentiam, sicut decet sanctos, in posterum conservent."
Gerade weil wir wissen, dass unser Erzbischof nicht durch berechtigte kirchliche Gründe zu seinem Verhalten gegenüber unseren nationalen Forderungen bestimmt wird, sondern viel mehr durch seine französische Geistesrichtung und seine einseitige Vorliebe für die französische Kultur,
gerade weil wir wissen, dass durch unsere Ziele kein kirchliches Interesse geschädigt, sondern die kirchliche Sache eher gefördert wird,
gerade weil wir wissen, dass in Polen, wo der augenblickliche Zustand völkerrechtlich derselbe ist wie bei uns, die Bischöfe die Gläubigen ermahnen, den Anordnungen der besetzenden Macht zugunsten der Volksrechte gewissenhaft Folge zu leisten und dem durch sie eingerichteten Staatsrat gehorsam und anhänglich zu sein,
gerade weil wir wissen, dass in ähnlichen Fällen wie dem unsrigen den Bittstellern vom Heiligen Stuhle stets ihr Recht wurde,
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darum wenden wir uns an Dich, Heiliger Vater.
Unser armes Volk befindet sich in höchster Gewissensnot.
Warum soll für uns Todsünde sein, was in anderen Diözesen den Gläubigen erlaubt ist?
Warum soll uns verboten sein, für unser gutes Recht einzutreten, das in anderen Fällen vom Heiligen Stuhl ausdrücklich gebilligt worden ist?
Wir verlangen ja nichts anderes, als unser einfaches Recht auf die Gleichberechtigung unserer Sprache, und gerade dafür finden wir bei unserem Erzbischof keine Unterstützung. Jetzt, wo das Recht auf unsere Muttersprache und auf die Entwicklung unseres nationalen Volksdaseins am Punkte angelangt ist, verwirklicht zu werden, gebraucht unser Erzbischof seine geistliche Macht dazu, um zu bekämpfen, was wir bereits erhalten haben und um jeden weiteren Forschritt auf dem Wegen nach unserem Ziele zu verhindern.
Niemand wird einem Bischof das Recht aberkennen, sich auch auf das Gebiet der Politik zu begeben, soweit es in Übereinstimmung mit seinen geistlichen Pflichten und gemäß den päpstlichen Vorschriften geschieht. Aber wir wissen auch, dass die Päpste, namentlich unser Heiliger Vater Leo XIII., oft die Geistlichen aufgefor-
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dert haben, in politischen Dingen Zurückhaltung und Mäßigung zu üben. Wir erinnern uns an die Worte Leos XIII. in der Enzyklika "Constanti Hungarorum" vom 11. September 1893: "Mit Vorsicht sollen die Geistlichen bedacht sein, dass sie sich nicht über Gebühr mit Bestrebungen der bürgerlichen und politischen Angelegenheiten beschäftigen. Sie wollen sich oft an den Ausspruch des hl. Paulus erinnern: nemo militans Deo, implicat se negotiis saecularibus: ut ei placeat, cui se probavit" (II. Tim. II,4). Gewiss darf, wie der hl. Gregor der Große sagt, bei der Sorgfalt für die inneren Angelegenheiten die Leitung der äußeren Angelegenheiten nicht ganz außer Acht gelassen werden. Namentlich, wenn es sich um den Schutz der Religion und die Förderung des allgemeinen Wohles handelt, dürfen diejenigen Hülfsmittel nicht vernachlässigt werden, welche die Zeit und Gelegenheit darbieten. Jedoch ist die größte Vorsicht und Aufmerksamkeit notwendig, damit die Geistlichen nicht über den Ernst und das Maß ihres Standes hinausgehen und den Anschein erwecken, als trachteten sie mehr nach den weltlichen als den himmlischen Dingen."
Wenn wir heute auch während des Krieges an dem Emporkommen des flämischen Volkes arbeiten, wissen wir uns in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und mit den Anordnungen der heiligen Kirche. Wir glauben daher auch im Gewissen keine
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Schuld auf uns zu laden. Wir kennen die herrlichen Worte Papst Leos XIII. in der Enzyklika "Immortale Dei" vom 1. November 1885, dass kein gläubiger Katholik, dessen Anhänglichkeit an den apostolischen Stuhl bekannt ist, wegen seiner Anschauung in staatlichen Dingen der Verletzung und Geringschätzung des katholischen Glaubens beschuldigt werden darf.
Wir glauben nicht, dass unser Tun mit der Meinung unseres Heiligen Vaters Leos XIII. und der anderen Päpste im Widerspruch steht.
Im kindlichen Vertrauen auf Deine Weisheit und Gerechtigkeit haben wir uns an Dich gewandt, Heiliger Vater.
Sei Du uns ein gerechter Richter und gütiger Vater, der Mitleid hat mit seinen um ihre heiligsten Güter kämpfenden Kindern, und erkenne Du das Recht unseres Volkes auf seine Sprache und seine Stammeseigenart an.
Befreie uns von dem Druck, der durch die politischen Maßnahmen unseres Erzbischofs auf uns gelegt ist und von dem unsere Mitbrüder in anderen Bistümern nichts wissen.
Hilf uns in unserer Gewissensnot.
Sei Du uns Helfer und Retter in der Bedrängnis, in der wir uns befinden durch die Verkennung unseres Strebens.
Erbarme Dich unserer Lage und verhilf der gerechten Sache unseres Volkes in dieser Zeit
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voll Umwälzungen zum Siege.
In kindlichem Gehorsam und Vertrauen haben wir unsere Nöte vor dem Fuße Deines Thrones ausgeschüttet. In demselben Geiste flehen wir Deine Heiligkeit an, uns den apostolischen Segen verleihen zu wollen.
Folgen die Unterschriften.
Empfohlene Zitierweise
[Katholische Flamen des Erzbistums Mechelen] an BenediktXV. vom 15. September 1917, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 4904, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/4904. Letzter Zugriff am: 27.04.2024.
Online seit 24.03.2010.